- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Mutter!
Marlene lag auf dem schwarzen Sofa. Nachmittags an Samstagen lag Marlene oft auf ihrem schwarzen Sofa. Keine Musik lenkte sie ab und ein feines, chinesisches Räucherstäbchen brannte.
Marlene las:
„Auf der linken Hand, kommt für das Pferd, das auf dem zweiten Hufschlag steht, die Vorhandwendung rechts infrage: Pferd rechts stellen, innerer Schenkel drückt hinter dem Gurt, der äußere Schenkel verwahrt am Gurt, dabei den äußeren Zügel mit einer halben Parade leicht annehmen, um das Pferd am Vortreten zu hindern"
Wie! Sie haben nix verstanden? Das macht nix! Das geht anderen auch so! Hauptsache das Pferd versteht etwas davon, wenn Marlene auf ihm sitzt.
Marlene denkt jedenfalls an diesem Samstag Nachmittag auf ihrem schwarzen Sofa an morgen, in der nächsten Reitstunde, in ihrer Abteilung, würde sie die Hilfen für die Vorhandwendung rechts richtig geben.
Plötzlich stand ihre Mutter neben ihr.
Wie aus dem Nichts auftauchen, das beherrschte sie perfekt.
Sie hatte eine eigenwillige Art, ihr Zimmer zu betreten:
Anklopfen und eintreten, ohne eine Antwort abzuwarten. Marlene hatte es sich abgewöhnt, „Herein!" zu rufen, weil ihre Mutter darauf nicht wartete. In Notfällen half nur der Zimmerschlüssel. Sie zählte die Sekunden zwischen dem Klopfen und dem Herunterdrücken der Türklinke. Sie konnte daraus schließen, ob es Streit geben würde. Bei kurzen Abständen gab es meistens Streit. Aber diesmal war sie so mit der Vorhandwendung beschäftigt, dass sie nicht einmal das Klopfen gehört hatte.
Marlenes Mutter stand mit einer Reisetasche vor ihrem Sofa:
„Es wird Zeit, dass du dein Leben änderst: Jetzt wo Sören dich verlassen hat, solltest du dich benehmen, wie alle anderen auch. Du musst dich wieder mit Dingen umgeben, die du bisher gemocht hast.
Ich helfe dir dabei und mache den Anfang für dich. Ich habe das Gefühl, als ob du eine kleine Aufmunterung verdient hättest."
Sie öffnete die Reisetasche:
„Ich habe für dich ein paar wunderbare Sachen ausgesucht. Hier, sieh mal:
Vier Holzteller, die hat deine Großmutter vor vielen Jahren in Paris gekauft. Hat ein Künstler auf der Straße geschnitzt. Je ein Holzteller mit Portraits im Stil von Picasso, Jawlensky, Miro und Dali. Die sind doch schön. Nicht wahr?
Hier ist Dali, den mag ich ja gar nicht, brennende Giraffen und all das andere
verrückte Zeug. Aber auf dem Holzteller, das ist Gala.
Und hier habe ich vier Postkarten von dir in Glasrahmen gesteckt: London, Nizza, der Reiterhof in Wunsiedel, der Vogelpark bei Walsrode. Da warst du doch so glücklich!"
„Mutter!"
„Hilf mir lieber, diese Sachen hier aufzuhängen. Wie willst du es denn?
Alles eng zusammen, in einer Reihe, in zwei Reihen, abwechselnd?
Wenn wir die Holzteller mit den Postkarten dazwischen aufhängen würden, ergäbe das einen harmonischen Gesamteindruck. Ja, so machen wir es.
Obere Reihe: ein Holzteller, zwei Postkarten, ein Holzteller.
Zweite Reihe: eine Postkarte, zwei Holzteller, eine Postkarte.
Sie werden das große Plakat ersetzen, das du nach eurer Trennung abgehängt hast. Kann ich verstehen, dass du nicht mehr an Florenz erinnert werden willst."
Sie hatte sogar an einen Hammer und Nägel gedacht, und ignorierte eine vorhandene Galerieschiene.
„Mutter!"
Ihre Mutter entfaltete weiße Tüllgardinen und schon stand sie auf einem Stuhl vor dem Fenster. Während sie die weißen Plastikschleier an den Laufrollen in die Vorhangschiene einfügte, sagte sie energisch: „Jetzt beginnt für dich ein neues Leben. Auch dein Fenster wird von der Straße aus weiß aussehen. Wozu soll man denn aus dem Fenster schauen können. Das Leben draußen ist nicht so gut. Das hast du bestimmt gemerkt."
„Mutter!"
„Kind, jetzt musst du dein Leben neu ordnen, ich will dir dabei helfen. Und überhaupt, du kannst doch diese Kommode nicht ohne Läufer lassen. Aha, die Kerzenleuchter die würde ich wegstellen, die hast du ja mit S. in Wien gekauft, so schön sind sie auch wieder nicht, so, ich räume sie gleich in die Kommode. Wir könnten doch eine nette Blumenvase da hin stellen. Den Läufer und die Gardinen habe ich bei Wolter für dich anfertigen lassen. Sind die nicht schön?"
„Mutter!"
„An deiner Stelle würde ich mal zum Frisör gehen. Du siehst so unordentlich aus in letzter Zeit. Jeden Tag ab und zu kämmen wirkt Wunder. Ein wenig Parfüm, Lippenstift und du bist wieder meine Tochter."
Marlene erwachte in einem Bett. Wie war sie hierher gekommen? Was hatte sie getan?
Oh! Der Pfarrer! Marlene wollte mit ihm über ihre Mutter sprechen. Marlenes Mutter fragte ihn oft um Rat, weil sie sehr gläubig war.
Marlene war ins Pfarrhaus gegangen und hatte dem Pfarrer die Probleme geschildert, die sie mit ihrer Mutter hatte. Der Pfarrer hatte gesagt, dass Sören evangelisch sei und deshalb nicht zu ihr passe. Ihre Mutter meine es gut und die Holzteller habe er schon einmal in der Wohnung der Großmutter gesehen, sie seien sicher inzwischen sehr wertvoll, man könne die Familienschätze nicht verachten.
Solange sie im Haus der Eltern wohne, könne sie ......
Dann war bei Marlene der Film gerissen, ein gewaltiges Blackout tat sich auf, die Sterne vor ihren Augen implodierten zu Schwarzen Löchern und jetzt lag sie also in diesem Bett mit weißer Bettwäsche, weißen Wänden und einem Kreuz gegenüber.
Nein, sie war dem Pfarrer nicht an die Gurgel gesprungen, das wusste sie sicher, obwohl dieser Scheißkerl das verdient hätte.
Sie war nicht angeschnallt, im Türblatt befand sich kein Fenster und sie sah eine Türklinke. Es war keine Kamera unter der Decke, sie befand sich vermutlich in einem Krankenhaus. Jemand würde ihr erzählen, was passiert sei und sie würde entlassen werden.
Marlene erwachte auf einer Pritsche. Wie war sie hierher gekommen? Was hatte sie getan?
Ach ja die Verabredung mit Sören Sie war wie immer abends aus dem Haus gegangen: „Tschüss Mutter, ich gehe zu Andrea."
Wenn die wüsste: Sprühdosen im Rucksack, Turnschuhe an den Füßen, die Stirnlampe um den Kopf geschnallt. So war sie oft mit Sören um die Häuser gezogen, nie an Samstagen oder Sonntagen; zwischen 2 und 4 Uhr morgens war die beste Zeit. Da waren Party-Hüpfer nicht mehr und Zeitungsausträger noch nicht unterwegs.
Sie hatten ständig nach blanken, ungefährlichen Wänden gesucht und dann ihre Werke geschaffen: Sie waren zweifarbig und nicht vorgezeichnet. Sören nahm meistens blaue Farbe, sie mochte am liebsten rot. Einmal hatten sie „blue and red, that’s what I said" auf eine Wand gesprüht. Am anderen Tag waren sie dann Arm in Arm an ihren Werken vorbei spaziert und hatten über Ästhetik, den Goldenen Schnitt und die Zentralperspektive diskutiert.
In jener einen Nacht war es schief gegangen, wie konnten sie nur in einer Samstag Nacht turnen gehen, dumm gelaufen und so lag sie halt hier auf der Pritsche: Unglaublich! Das würden die Bullen büßen, Minderjährige einzusperren, ihr Kopf brummte, wahrscheinlich waren sie verprügelt worden. Zum Glück war Sörens Vater Rechtsanwalt, er würde sie hier rausholen.
Marlene erwachte auf ihrem Sofa. Es klopfte an der Tür. Ihre Mutter, wer sonst? Was war passiert? „Möchtest du eine heiße Schokolade? Gehst du mit mir morgen ins Kino? Das fliegende Klassenzimmer? Der Film soll so gut sein, der Thomaneerchor, Sebastian Bach, Leipzig!"
Marlene hatte den Kaugummi vergessen. Sie war über der Vorhandwendung eingeschlafen. Aber bis morgen, auf dem Reitplatz müsste sie noch zu lernen sein.
„Pferd rechts stellen, innerer Schenkel drückt hinter dem Gurt, der äußere Schenkel verwahrt am Gurt, dabei den äußeren Zügel mit einer halben Parade leicht annehmen, um das Pferd am Vortreten zu hindern."
PS.
Ein möglicherweise glückliches Zwischenergebnis (Happyend) ergäbe sich für Marlene dann, wenn sie ihr Mutterhaus verlassen, ein heftiges Techtelmechtel mit Anton W. beginnen und das Schulterherein und die Hinterhandwendung beherrschen würde.