Was ist neu

Nadine

Seniors
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02.06.2001
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Nadine

Mal ein unüblicher Text von mir, nix Horror oder SF.
Jeder hat doch schon mal Gespräche geführt, die ihm irgendwann später wieder einfielen. Gespräche, die das Leben in andere Bahnen hätten lenken können, wenn man nur gut zugehört hätte...

„-aber irgendwo musste man ja anfangen“, hatte sie in einem jener Romane aufgeschnappt, die Mort leidenschaftlich gerne las. Es erschien ihr grotesk, dass diese sechs Wörter ausgerechnet in einem Buch standen, das ein Genre verkörperte, welches sie schlicht und einfach gehasst hatte.
Eigentlich nicht aus eigenem Antrieb, es war ihr gesagt worden: Fast alle Autoren sind männlich und fast alle schreiben sie frauenfeindlich und überhaupt sind Frauen in diesen Geschichten nur dazu da, um vergewaltigt oder aufgeschlitzt zu werden und wenn nicht, dann bedurften diese der Hilfe starker Männer und außerdem enthalten diese Stories nur Schwachsinn und es soll schon vorgekommen sein, dass einem nach der Lektüre eines solchen Buches das Hirn bei den Ohren rausfließt.
Punkt.

Mort hatte am Vorabend konzentriert darin gelesen. Derweil hatte sie sich an einem neuen Bestseller eines bis dahin ihr unbekannten Schriftstellers versucht. In Gedanken hatte sie den Kopf geschüttelt, angesichts des langweiligen Sujets.
Charakterstudie, hieß es auf dem Einband.
Laut Times eines der wichtigsten neuen Werke amerikanischer Gegenwartsliteratur.
Sie, Nadine, fand nur einen passenden Kommentar hierzu: Langweilig, spannend wie eine halbe Stunde Wartezeit beim Dentisten.
Charakterstudie.
Eine schöne Ärztin verliebt sich in einen Typen, natürlich attraktiv, dessen Freund an AIDS langsam aber sicher verwelkt. Um daraus nicht einen Ärzteroman geraten zu lassen, muss der Freund des Sterbenden klarerweise schwul sein - oh Gott, er wird doch nicht ebenfalls ... ?
Na ja, und die Story dümpelt dahin zwischen Kitsch und ein bisschen Augenauswischerei von wegen sozialkritisch und ähnliches.
Tatsächlich jedoch hatte sie Mort im Auge behalten.
Manchmal starrte sie ihn unverhohlen an, was er nicht registrierte. Es trieb ihn für gewöhnlich in Weißglut, wenn man ihn anstarrte, aber dieses Buch nahm ihn völlig in Anspruch. Sie war fasziniert und abgestoßen zugleich.
Ab und zu schluckte er trocken: Na, wurde jemandem der Kopf abgehackt? Ist es das, was dich anmacht, du Blödmann?
Und dann las sie schuldbewusst ein, zwei Seiten des Buches, das sie in Händen hielt. Und - Überraschung - der AIDS- Kranke war gestorben und, als besonderer Gag, der an seinem Freund durchgeführte Test brachte ein positives Ergebnis in Bezug auf eine HIV-Erkrankung und ein negatives hinzüglich seines weiteren Lebens.
Aber immerhin erhielt der Typ den Trostpreis: Das Herz der schönen Ärztin.
Als Roger starb, las Mort.
Als sein Freund ohnmächtig wurde, aufgrund des Testergebnisses, da las Mort.
Im Gegensatz zu seiner Frau hatte es Mort nicht geschafft, zum Ende des Buches vorzudringen.
Der gute alte Mort, der seit nunmehr 20 Jahren Mechaniker bei Pauls war.
Mort Tugger, der - n'Glückwunsch, Mort! - jede Menge Ahnung von Autos hatte. Autos, ja. Aber sonst ...

Nadine hatte gerade nichts besseres zu tun gehabt (um genau zu sein, sie hatte nie etwas besseres zu tun) und deshalb das Buch auf dem Nachttisch an der linken Seite des Bettes, das Morts Territorium umfasste, genommen und begonnen, darin zu lesen.
Sie hatte sich geirrt: Es war kein Roman, es waren ungefähr ein Dutzend Kurzgeschichten in dem Buch enthalten. Sie war eine ziemlich schnelle Leserin. Nach nur zwei Stunden waren bereits 5 Geschichten in ihren Verstand eingedrungen.
Es war nicht übertrieben zu behaupten: Diese fünf Geschichten beschäftigten ihren Verstand auf Hochtouren. Sie hatte eine Pause gemacht und jetzt saß sie mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa und dachte nach.
Sie dachte über den lauteren Zusammenhang zwischen dem eben Gelesenen und ihrem Leben nach.
Vordergründig waren es grausige Geschichten von Tod und Verstümmelung. Aber zwischen den Zeilen stand so viel ... Wahrheit! Besonders eine Geschichte hatte es ihr angetan: Eine von ihrem Mann jahrelang psychisch gequälte Frau tötete diesen schließlich. Sie bewunderte den Autor für seine Einsicht in die Denkstrukturen ‚gewöhnlicher’ Frauen.
Umgekehrt konnte sie sich nicht vorstellen, wie ein Mann oder ein Junge empfinden mochte. War es so, dass man automatisch dieses Herrschaftsgehabe an den Tag legte, wenn man im Zeichen des Schwanzes geboren war? Oder wurde es doch nur anerzogen, dieses ‚lch-bin-der-Herr-im-Haus’?

Nadine bereute es bereits, mit dem Buch in engeren Kontakt gekommen zu sein.
Ja, auch sie war ehedem ein junges Mädchen gewesen. Na gut, sie war keine jener Schönheiten gewesen, denen ihr Äußeres Traummänner an den Strand des Schicksals spülten. Aber sie war ganz ansehnlich gewesen.
Das hatte Ihr Mort damals zumindest immer wieder versichert. Und sie hatte ihm geglaubt. Zum Abschlussball war sie mit Owen irgendwas gegangen, weil sie ja schlecht mit Mort hätte aufkreuzen können. Owen war ein Trottel gewesen und er hatte sich unmöglich benommen. Mort hingegen war ihr wie ein Gentleman erschienen. Er war nicht rüde, wusste sich zu benehmen und war in allen Belangen zurückhaltend.
Bis sie längere Zeit miteinander gegangen waren. So nannte man es damals. Mort verdiente ordentlich und nahm eine Wohnung in der Vorstadt.
Nach der High School hatte sich Nadine für das College eingeschrieben. Zu diesem Zeitpunkt kühlte ihre Beziehung zu Mort merklich ab. Er überraschte sie nicht mehr mit Blumen und seine Einladungen zum Essen oder ins Kino oder zu einem Konzert wurden weniger und verebbten alsbald.
Nadine dachte, dies läge an seiner finanziellen Situation, aber natürlich war es nicht das alleine.
Und ehe sie sich versah, war sie schwanger geworden. Noch kein Jahr am College und sie war schwanger. Toll. Sie erzählte Mort davon und dieser war bleich wie ein Wasserleiche geworden.
Schwanger? Scheiße. Doch bitte nicht jetzt! Abtreiben, Süße, abtreiben!
Sehr schön, man lebte ja in einer höchst toleranten Gesellschaft, richtig?
Vorsorglich vermied sie es, ihren Eltern davon zu berichten. Sie erinnerte sich an die grauenvollen Stunden der Ratlosigkeit. Sie fühlte sich im Stich gelassen, allein, ausgesetzt unter Raubtieren.
An Schlaf war kaum noch zu denken gewesen: Mort will das Kind nicht. Will ich es? Wenn ja, liegt mir an Mort überhaupt noch etwas?
Das war doch Unsinn! Mort wusste alles besser. Sie musste nur machen, was er wollte, dann würde Ordnung in ihr verqueres Leben kommen. Und dies war der Grund für die Abtreibung gewesen.
Okay. Mort wusste es eben besser. Und zur Belohnung hatte er sie zur Frau und Sklavin genommen ... ach nein, das war gemein zu denken! Er hätte sie selbstverständlich geliebt und sie ihn.
Oder?
18 Jahre waren sie inzwischen verheiratet. Zwischendurch hatte sie ein paar Halbtagsjobs angenommen, was sie den Pflichten der Hausarbeit nicht entband.
Und verdammt - wieso war sie plötzlich unzufrieden? Er hatte ihr ein wunderbares Leben geboten! Sie waren doch glücklich! Nie hatte er sie geschlagen ... jedenfalls nicht allzu brutal.
Es waren nur, äh, Notizzettel gewesen, leichte Schläge in die Magengrube. Keine wirklichen Schmerzen. Nur eine kleine Auffrischung zum Thema ‚Wer-hier-das-sagen-hat’.
Ihrem kleinen Freundes- und Bekanntenkreis erzählte sie immer wieder, wie schön das Leben mit Mort sei.
Er war kein Traummann, setzte ein wenig Altersspeck an und die Äderchen seiner Wangen waren von gelegentlichen Expeditionen durch die wunderbare Welt der hübschen Schnapsflaschen geplatzt, okay, aber er war ... Mort war gut zu ihr. Was man in den bunten Zeitschriften an den Kiosken im Supermarkt mit Entsetzen las, war ihr erfahrungsmäßig unbekannt.
Nur die flache Hand, ohne auszuholen, ganz leicht. Lediglich die flache Hand ... und auf einmal konnte sie das Buch nicht mehr in den Händen halten, denn diese benötigte sie, um die Tränen der Einsicht aufzufangen.
Bald würde Mort nach Hause kommen und mürrisch nach einem warmen Essen verlangen.
Es war Freitag und da fand sein Kegelabend statt. Er würde besoffen nach Hause kommen - doch nur einmal die Woche!
Mein Gott, da ist doch nun wirklich nichts dabei! Und er würde wie ein stinkender Sack Kartoffeln in das Bett fallen.
Und am Samstagmorgen würde seine Laune kaum besser sein. Er würde nichts mit ihr reden.
Sonntags würde er am Nachmittag vor dem Fernseher sitzen, eine Flasche Rheingold in der Hand, und sich das Footballmatch der Woche ansehen.
Und Montag Arbeit.
Und Dienstag.
Und so weiter, bis der Wochenkalender entscheidet, dass es Freitag und somit Kegelabend sei.
Und so weiter. Und Wochen und Monate.
Und - verdammt - kein Leben. Kein Leben!
Sie hatte sich geschworen, keine Ehe wie ihre Eltern führen zu wollen. Ihr Mort war ganz anders als ihr Vater. Und sie selber anders als ihre Mutter. Trotzdem lief es auf dasselbe hinaus: Irgendwann hatte man sich nichts mehr zu sagen. Das war nicht ihren Gedanken entsprungen.
Wer hatte das gesagt?
Moment - es war kurz nachdem sie die Gewissheit erlangt hatte, schwanger zu sein. Sie wollte mit jemandem darüber sprechen und hatte diesen Jemand gefunden. Wenn auch zufällig. Warum konnte sie sich erst jetzt wieder an das Gespräch erinnern?

Es war vor den Semesterferien gewesen. Um genau zu sein: Der letzte Tag des Wintersemesters. Draußen regnete es, sie saß mit Sheryll, ihrer besten Freundin, und einem Jungen, dessen Namen sie sich nicht mehr entsinnen konnte, in einem der großen Aufenthaltsräume. Außer ihnen befand sich niemand in dem riesigen Raum. Der Junge war ein Verwandter Sherylls und kein Student. Er ging noch zur Schule, war bestimmt nicht älter als 16.
Er mischte sich nicht in das ruhige Gespräch zwischen Sheryll und Nadine ein, hörte aber zu. Nadine hatte gedacht, wahrscheinlich ist ihm nur langweilig. Irgendwann hatte Sheryll gemeint, sie sei hungrig. Nadine war es ebenfalls gewesen und Sheryll hatte den Jungen neben ihr gefragt, ob er nicht zwei Käse-Sandwiches holen gehen wolle. Der Junge grinste und meinte, er wolle keine typischen Machoallüren an den Tag legen und könne es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, Macht über sie auszuüben.
Deshalb war Sheryll selber gegangen. Nadine rief sich die Unterhaltung in Erinnerung.
Unglaublicherweise konnte sie sich an alles erinnern, obwohl dies fast 2 Jahrzehnte zurücklag. Der Junge - wie war doch bloß sein Name gewesen - hatte sich neben Nadine gesetzt.

"Warum suchst du Rat, bei anderen Menschen? Warum triffst du nicht für dich eine Entscheidung? Es ist dein Körper und dein Leben.", hatte er gesagt.

Sie hatte ihn verblüfft angestarrt - was ihm nichts auszumachen schien - und gemeint, sie wisse keine Antwort darauf. Es sei eben so. Auf der linken Wange des Jungen zog sich eine Narbe von etwas unterhalb des Auges bis zu den Wangenknochen.
Er hatte einen Kaugummi gekaut und diesen nicht ausgespuckt, wie es sich geziemt hätte.

"Na ja.", hatte er fortgesetzt, "Weißt du, wenn es heißt, das sei reine Männersache und dies Frauensache, weißt du, dann verstehe ich nichts von alledem, denn wir sind doch alle Menschen, oder etwa nicht?"

Nadine hatte zustimmend genickt, was hätte sie auch sonst tun sollen.

"Was ich damit sagen will, ist, dass du dich nicht in eine bestimmte, zugewiesene Rolle pressen lassen solltest. Wenn du das Kind wirklich willst, und dieser Mort dagegen ist..."

Er hatte den Satz offen gelassen und zufrieden an seinem Kaugummi - Zitrone, wie sie am sauren Atemgeruch ihres Gegenübers feststellen hatte können - gekaut.

"Ja, aber ... es ist nicht so einfach. Das wirst du erfahren, wenn du ein wenig größer bist.", hatte sie gesagt.

Der Junge hatte gelacht und eine Reihe schiefer Vorderzähne entblößt. "Ich glaube, wenn ich anfange diesen Unsinn von mir zu geben, wie es scheinbar alle Erwachsenen zu tun pflegen, werde ich mir 'ne Kugel durch den Kopf jagen.
Ich meine, du nimmst mich nicht ernst, weil ich ein paar Jahre jünger bin als du. Ich finde dieses Denkmuster zum Kotzen. Du bist ganz nett, entschuldige, aber warum ... warum bist du so? Warum musst du dich anpassen? Tun, was man dir bewusst oder unbewusst eingebläut hat? Warum versuchst du nicht einmal, eigene Entscheidungen zu treffen? Auch in Sachen Konversation.
Weißt du, ich bin ein Mensch und ich habe sogar Gefühle, die du verletzt, indem du mirzu verstehen gibst: He, werd' erst mal erwachsen, Kleiner.
Aber bitte: Du willst nicht mit mir reden, okay. Ich wollte dir bloß ein bisschen Mut zusprechen, wenn du nicht willst ... okay."

Er hatte eine kleine Atempause eingelegt. "Ich sehe deine wunderbare Zukunft vor mir: Du wirst vermutlich nachgeben abtreiben. Wahrscheinlich 'ne Vernunftheirat mit deinem ach so vernünftigen Mort, ihr werdet zusammenleben und vielleicht doch noch mal Kinder kriegen und irgendwann habt ihr euch nichts mehr zu sagen und ihr seid Fremde im gleichen Haus geworden. Und du wirst eines Morgens aufwachen und dir denken: ‚War das alles? Und in ein
paar Jahren soll ich abkratzen, und das war's? Moment mal, wo ist mein Leben geblieben? Ich habe doch ein Anrecht auf ein Leben.’
Und du wirst einsehen, dass dir die Zeit die Augen verbunden hat und mit dir ‚Hasch mich’ gespielt hat. Und du hältst die Zeit in deiner Hand und sagst: ‚Hab dich’. Doch die Zeit hat- dich besiegt, noch ehe du gemerkt hast, dass du dich in einem ständigen Kampf befindest. Und das war's dann. Wiedersehen, Nadine."

Sheryll hatte mit zwei Sandwiches in den Händen den Raum betreten.

"Lass es dir noch mal durch den Kopf gehen, Nadine. Irgendwo muss man doch mit einem Leben, einem richtigen Leben anfangen.", hatte der Junge, dessen Name ihr partout nicht einfallen wollte, ihr zugeflüstert und dann den Platz bereitwillig Sheryll geräumt, welche kichernd meinte, sie wisse ja nicht, was - verdammt, wie hieß der Junge doch gleich! - ihr erzählt habe, aber sie solle es einfach nicht ernst nehmen, niemand nehme ihn ernst.

Der stetige Tränenfluss wollte kein Ende nehmen. Hätte sie den Jungen ernst genommen, wäre ihr vermutlich viel erspart geblieben, nämlich ein Leben ohne Sinn.
Konnte ein Leben schlimmer verlaufen, als ohne die Erdphasen des ‚Ich bin glücklich’ und ‚Ich bin zu Tode betrübt’? Nur dieses Wozu lebe ich’?
Und tatsächlich wusste Nadine nicht, welchem Umstand sie ihr Leben zu verdanken hatte. Wie hatte sie Mort nur jemals lieben können.
Moment, sie hatte ihn nicht wirklich geliebt, sie hatte es sich eingeredet, bis sie davon überzeugt war. Oder bis sie von ihren Freunden überzeugt worden war, dass es Liebe sein musste.
In Morts Augen stand die Gewöhnlichkeit geschrieben, seit jeher. Er war ein Langeweiler. Eben ein echter Mann, nein, ein Mensch.
Sie, die sie Ende 30 war, konnte wohl auch keinen Mann mehr vom Barhocker schmeißen, außer dieser war besoffen.
Und unwillkürlich schweiften ihre Gedanken zu dem Jungen zurück: An ihm gab es oberflächlich nichts besonderes zu entdecken. Er war kein Adonis und kaute mit der Geduld des ‚Mir-ist-fade’-Jugendlichen den Kaugummi.
Aber in seinen Augen hatte sie Bände an Lebensbereitschaft erkennen können. Er wollte nicht existieren, er wollte leben. Leben! Mein Gott, was wird aus ihm geworden sein? Ein Mort? Nicht mit diesen Augen, diesem ‚Ich bin ein Mensch’-Blick.
Sicher war der Junge niemals Mitglied einer Jugendgruppe geworden oder hatte sich den Riten der Hippies unterworfen ... Das war der passende Ausdruck: Unterwerfen.
Sie hatte sich ihr Leben lang demütig den Starken verschrieben: Ihren Eltern, den Behörden, Mort, ihren wenigen Freunden ... Und dabei hatte sie ganz vergessen zu erwähnen: „Hey, das ist mein Leben, mit dem ihr spielt!“
Doch jetzt, oh du, die du es immer allen recht machen wolltest (und bislang auch tatest), weißt du um dein Versagen. Wer wird dir jemals eine Träne nachweinen, Gedanken des Seelenschmerzes an dich verschwenden, wenn du nicht mehr bist?
Aber im Grunde bist du doch längst tot. Du nimmst fälschlicherweise an, du würdest leben, dabei bist du tot! Leben definiert die Kombination aus körperlicher und geistiger Existenz. Sind Koma-Patienten lebendig? Wohl kaum. Und was, wenn nicht eine im Koma liegende Frau, bist du denn wirklich? Mort ist jene Maschine, die dich künstlich am Leben erhält...

Langsam versiegt der Strom der Tränen. Sie steht auf und geht in das Badezimmer, ein Taschentuch holen. Sie schnäuzt sich und kehrt in das Wohnzimmer zurück. Schuldbewusst betrachtet sie das leblos am Boden liegende Buch. Der Hochglanzeinband ist geknickt.
Mort wird wütend sein, wenn er dies sieht. Er hasst Eselsohren ... Ja, und ...
Vor ihren mit feinem Tränennebel beschlagenen Augen hebt sich ein Vorhang...Und er hasst mich. Gott bewahre mich vor dem Tag, an welchem er dies wieder einmal nicht unterdrücken kann. Was, Essen ist kalt? Kein Bier im Kühlschrank? Mein Hemd ist schmutzig? Oder - möglich wär's - ein geknickter Einband eines Buches?
Tja, dann könnte die gute alte Lektion ihres Mentors fällig, überfällig wie ein entliehenes Buch sein. Mentor? Ach, nenn es, wie du willst.
Aber keine Angst: Er schlägt nicht hart zu und meistens entschuldigt er sich hinterher sogar. Du bist die Frau und er der Mann, der dir den Himmel zu Füßen gelegt hat, und wenn du Flügel hättest, könntest du bei Continental einen Job kriegen.
Und wenn ... wenn dich Mort lieben würde, könnte er seine Hand in Zaum halten.
Und dir manchmal ein Lächeln schenken. Oder gar eine Blume.

Nadine ist verwirrt, kann sich der Gedankenflut nicht mehr erwehren. Sorgsam, fast zärtlich, nimmt sie das Buch an sich. Was bist du? Mein Lebensretter? In den Filmen, die sie gemeinsam mit Sheryll oder einer anderen Freundin im Kino gesehen hatte, gab es keine innere Logik. Das Puzzle fügte sich ineinander. Stück um Stück. Jedes Mädchen und jede Frau ... jeder Junge und jeder Mann.
Damals war es noch so unkompliziert. Es gab keine Schwulen, keine Lesben, kein AIDS, nicht einmal die - in den meisten neueren Filmen obligate - Bettszene.
Und sie, Nadine, hatte geträumt, ein schüchterner Junge würde auf sie zukommen und mit ihr reden. Einfach reden, ohne Hintergedanken. Und vielleicht - nein, sicher - würde er ihr ein holpriges Gedicht schicken und sie, mit einem Kloß in seiner Kehle, zum Abschlussball einladen.
Konnte das der Realität entsprechen?
Konnte dies geschehen sein, ohne dass sie es gemerkt hatte?
Eines Tages, ein kleiner dicker Junge mit Brille und vorstehenden Zähnen, der nur mit ihr reden hatte wollen aber - haha, man konnte sich doch nicht mit so' nem Typen sehen lassen! - sie hatte ihn abgewiesen?
Gut möglich. Oh Gott, wie sehr.hatte dies im Bereich des möglichen gelegen! Verbissen kämpft sie gegen eine neuerliche Springflut des Schmerzes an. Zur Ablenkung legt sie das Buch auf das Nachkästchen zurück und - der Autor ... Konnte es wahr sein ... konnte es?
Sag mir ... der Autor.
Er ist es!
Es trifft sie wie ein Donnerschlag: Der Autor des Buches ist der Junge, dessen Gedanken sie damals gegenüber jenen des guten alten Mort das Nachsehen gegeben hatte.
Mort, der sie nur dann schlug, wenn ... Scheiße, das war doch eine ganz infame Lüge! Sie belog sich und kämpfte nicht dagegen an. Damit sollte jetzt Schluss sein - wieder einmal?
Und sie ließ die Geschichte noch einmal Revue passieren: Der Junge - der Autor - hatte seine Vorhersage zu Papier gebracht. Vielleicht für sie? Und wenn ja - warum dieses blutige Ende? Auch für sie?
Oder Zufall. Nadine würde bald 40 sein. Und etwas später 50. Und kurz vor Mitternacht würde sie alles bereuen. Alles.
Aber dann würden 12 Stundenschläge erfolgen, und ihre Gedanken in den knochigen Händen des Todes ersticken. Es war unfair! Sie hatte doch nichts wirklich böses angestellt! Und ein paar Jahre sollten ihr doch vergönnt sein.
Jahre, um zu leben.
Hatte ihr der Junge - der Autor - diese eine Geschichte geschenkt? Sie musste schlucken. Das war nicht nur möglich, das war wahrscheinlich.
Ein Lächeln huschte tückisch über ihre spröden Lippen: Ich werde das Geschenk dankend annehmen! Und wer weiß: Vielleicht sehen wir uns einmal, Junge, der du unter die Autoren gegangen bist, und dann werden wir viel zu bereden haben. Nadine machte sich daran, das Essen zu bereiten.

Irgendwo musste man ja anfangen ... Hoffentlich würde Mort sich nicht beim Sturz von einer wackeligen Leiter das Genick brechen.
Oder vergessen, den Strom abzuschalten, wenn er die neue Deckenlampe im Schlafzimmer anbringen wollte.
Mein Gott - welch ein Unglück wäre das, würde das Radio in das von Morts Dreck und Schweiß besudelte Badewasser fallen.
Jedes Jahr verunglückten mehr Personen im Haushalt, als es Gefallene während des 'nam-Krieges gab.
Nadine würzte die Bratensoße und lächelte ... denn irgendwo musste man ja schließlich anfangen.

 

Ach, Rainer, ich werde hier immer seltener erscheinen, weil mich die meisten langweilen. Du aber gehörst zum kleinen Kreis der Autoren, deren Geschichten ich weiterhin lesen werde. Ich finde diese Geschichte inspirierend und angenehm, da sie zu der kleinen Gruppe der Lesbaren gehört. Danke, Rainer!

 

@ zaza Wenn du mit "Lesbar" den Stil meinst, will ich mal ganz arrogant sagen: Stimmt! :D

Inhaltlich versuche ich einfach, mit jeder Geschichte gewissermaßen mich selbst neu zu definieren.
Deshalb finden selbst mir wohlgesonnene Kritiker die meisten meiner Geschichten schlecht, eben weil sie stets anders sind und keine typische Handschrift tragen.

Mein Hauptaugenmerk bleibt natürlich bei Dark Fantasy und SF.
Danke jedenfalls für die lieben Worte - meine persönliche Meinung dazu ist: Wenn von 10 Geschichten, die ich hier lese, wenigstens eine "lesbar" mir erscheint, hat sich der Zeitaufwand gelohnt.

 

So, Armelle, wie Du möchtest; das kriege ich gerade noch hin.

 

Wow !

"Warum suchst du Rat, bei anderen Menschen? Warum triffst du nicht für dich eine Entscheidung? Es ist dein Körper und dein Leben."

Die Aussage sollten sich die meisten Menschen zu Herzen nehmen, und ist auch zu gleich meine Lieblingsaussage in der Geschichte.

Hervorragend würd ich sagen.
Und berührend.
Und mal wieder eine Geschichte in die ich mich richtig hineinversetzen konnte.
Wirklich gut, danke !

 

Danke! Aber leider ist das nur eine Geschichte ... Wie die meisten anderen auch bin ich schwach und lasse mich herumschubsen und manipulieren.

Jedenfalls überrascht es mich, dass die Story irgendwie doch ankommt - hätte nicht gedacht, dass sie überhaupt jemand liest... :cool:

 

Also: Das mit "gezierlich" ist natürlich ein Fehler, den ich soeben ausgebessert habe - ich danke für den Hinweis!

Was gegen einen lauteren Zusammenhang einzuwenden ist, verstehe ich nicht ganz: Wenn ich nicht völlig irre, handelt es sich um eine gebräuchliche Phrase.

Doch jetzt, oh du, der du immer alle unterhalten willst, weißt du um dein Versagen...

:confused: Was willst du mir damit sagen? Dass ich ein Versager bin? Dass ich nur ein doofer Unterhalter bin? Dass es unanständig ist, unterhalten zu wollen?

Ich schreibe hauptsächlich DF-SF-Stóries, ja und? Natürlich könnte ich auch pseudo-intellektuelles Gefasel hier reinstellen und mich an den Interpretationen ergötzen und mich freuen, als kluger Kopf bezeichnet zu werden, aber diese Charade interessiert mich echt nicht - ich möchte unterhalten, mehr nicht, auch mit dieser Story!

Aber wenigstens fiel mir durch Deine vor sich hin köchelnde Heldin wieder eine Geschichte ein

Schön - genau das wollte ich mit meiner Story erreichen! :D

 

Hallo Rainer,

nun habe ich die Geschichte gelesen und möchte auch etwas dazu sagen. Was ich gut finde, ist die Wahl der Perspektive, der ständige weitergehende innere Monolog dieser Nadine, die so, allmählich, vor dem erstaunten Auge des Lesers, ihr eigenes Lebensbild entwirft, das Bild einer unterdrückten jungen Frau. Die verschlüsselte Ankündigung ihrer eigenen Bluttat, die hier wie ein Befreiunsschlag wirken muss, ist gut gemacht. Irgendwie bleibt alles offen, in der Schwebe, und doch hat man als Leser das Gefühl, dass mit einer solchen Tat unmittelbar zu rechnen ist.

Was mich manchmal bei deinen Geschichten innerlich beschäftigt, ist die Wahl der Themata. Es ist ganz ohne Zweifel so, dass du einen sehr leichten, um nicht zu sagen, virtuosen Stil schreiben kannst. Und ich möchte auch vermuten, dass dieses Schreiben dir innere Begeisterung verursacht. Wenn man mit dem Stoff der Sprache gut umgehen kann, dann sucht man sich natürlich auch Inhalte, die es wert sind, dargestellt zu werden, und bei denen sich auch etwas von innerer Identifikationsmöglichkeit ergibt. Man möchte vermeiden, dass das Geschriebene als belanglos und überflüssig erscheint. Und dann kratzt man in der Phantasie und sucht nach Geschichten, die einem erzählenswert erscheinen.

Der langen Rede kurzer Sinn: es schmerzt mich manchmal beim Lesen deiner Texte, wenn ich sehe, wie radikal und absolut das Bösartige hier doch immer die Oberhand behält.
Aber vielleicht habe ich dich auch nie richtig verstanden.

Viele Grüße

Hans Werner

 

Erstmal danke für die interessante Kritik. Natürlich versuche ich, halbwegs "ansprechende" Storys zu erfinden - und das ist der Schlüsselpunkt: ALLE Storys sind imaginär. Ich verarbeite keine Kindheitstraumata von mir oder anderen, aktuelle Ereignisse oder hänge mich an etwas ran, das gerade "in" ist.
Wenn mich was berührt, schreibe ich es.

Dadurch vermeidet man auch den berüchtigten lustlosen Stil, den man erkennt, wenn eine Story ärgerlich fade und schlampig geschrieben ist.

Der langen Rede kurzer Sinn: es schmerzt mich manchmal beim Lesen deiner Texte, wenn ich sehe, wie radikal und absolut das Bösartige hier doch immer die Oberhand behält.

Echt? Ist mir gar nicht bewusst geworden! Du dürftest aber recht haben - das Böse siegt immer.
Ich bin wohl ein klassischer Fatalist - was Wunder, wissen wir doch um den Tod, der uns ereilen wird?
Aber ich werde mich bemühen, auch mal was weniger "ernstes" zu schreiben. :)

 

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