Nationalsozialismus
Deborah George
Der Mann, den sie fürchten
Der eisige Nordwind peitschte ihm in das blasse, mit Sommersprossen übersäte Gesicht. Was mochten sie wohl fühle? Kälte. Schmerz. Kaum einer von ihnen trug Schuhe, sie standen barfuß auf dem schlammigen, kargen Boden. Er fror, trotz der dekorierten Uniform und den gut gefütterten Winterstiefeln. Er war neu hier, als er den Befehl „Buchenwald“ erhielt, erschrak er, immer schon war er gegen die wachsende braune Macht, die für ihn das Reich an den Rand des Abgrundes drängte. Nun also sollte auch er in den Vernichtungsapparat eingebunden werden, sollte hilflose Menschen missbrauchen und quälen. Wehren. - Zwecklos. Alle mal würde man ihn an die Wand stellen und dafür, dachte er, war sein Leben zu kostbar. Vorsichtig, fast schüchtern blickte er auf die Häftlinge, vom Buben bis zum Greis, hier waren sie alle gleich – nutzloses Gesindel, von dem das Land gereinigt werden musste. Tief in seinen Herzen wollte er ihnen helfen, heimlich etwas zu Essen zustecken, ja sie sogar hinausschleusen. Plötzlich stieg der Hass in seiner Seele wieder auf, jener Hass sich selbst gegenüber, nicht genug Mut zu haben, den Mund aufzutun um seine Meinung kundzugeben. Wem schadeten diese Menschen? Wie sollten diese jungen Burschen, oft nicht älter als 15 Jahre Unheil übers Land bringen? Doch er allein konnte die Situation nicht ändern. Seine müden Augen erblickten einen jungen Mann der eilig etwas unter den zerfetzten Lumpen zu verstecken suchte, da war es auch schon passiert. Von links und rechts eilten zwei SS-Männer heran, packten den Jungen bei den Armen und schleiften ihn vom Platz. Er konnte ihn schreien hören, doch er verstand ihn nicht. Zwanghaft versuchte er es zu überhören, aber es half nichts, seine Klagerufe waren so eindringlich wie ein Starkstromschlag durch seinen Leib. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, „ Mitkommen!“. Mit gestellter Ehrfurcht marschierte er hinter dem Lagerkommandanten in den Bunker. Was ihm sich dort darbot, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Da war er, der Junge mit dem gestohlenen Brot, die Nase bereits blutig geschlagen auf dem kalten Betonboden kauernd. „Nimm den Stock und zeig dem Judenschwein was es heißt zu stehlen!“ Eine Schar SS-Männer stand hinter ihm und erwartete nun, dass er gelehrig den Stock in die Hand nahm und solange auf den Häftling einprügelte, bis dieser leblos in seiner eigenen Blutlache verendete. Mit zittrigen Händen ergriff der den Holzstab, betrachtete ihn ängstlich. Wieder fiel sein Blick auf den Menschen zu seinen Füßen, wie alt mochte er wohl sein? Wahrscheinlich nicht älter als 16 Jahre. Woher kam er? Wo war seine Familie? Sein Kopf drohte zu platzen, sein Atem wurde immer flacher. Was sollte er tun? Der flehende Blick des Häftlings trieb ihm die Tränen in die eisblauen Augen, Tränen voller Hass. Er biss die Zähne zusammen, niemand sollte mitbekommen, was tief in ihm vor sich ging. Die Stimmen der SS-Männer halten durch den Raum: „Nun mach schon, dieses Pack muss ausgerottet werden!“ Seine Knie wurden plötzlich so weich, dass er drohte in sich zusammen zu brechen. Er konnte es nicht, er konnte diesen Menschen nicht prügeln. Der Stock fiel aus seiner Hand auf den Boden vor seine Füße. Nun konnte er die Tränen nicht länger zurückhalten, sie rannen ihm über die glühenden Wangen. „Verräter!“ Er hörte ein Klicken hinter seinem Rücken, er wusste was passieren würde. Schnell schloss er die Augen, hielt den Atem an und plötzlich hatte er keine Angst mehr.
„Mörder!“
9. Dezember. 2005