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Negative Creep - Kurzgeschichte

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18.04.2001
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Negative Creep - Kurzgeschichte

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* Negative Creep *
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Eine kleine Kurzgeschichte
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Sie hieß Antje. Und so sah sie auch aus.
Blaß, Haut mit etwas zu groß geratenen Poren, lange blonde Haare, die langweilig gescheitelt an ihren Kopfseiten wie kalte Spaghetti herunterhingen und die Ohrenspitzen neckisch freigaben.
Ihre Augen hatten ein durchschnitts-blaugrau, ihre Augenbrauen und -wimpern waren hell, typischer Schweinchenblick.

Ihre Kleidung war sehr schön.
Ihre Mutter hatte sie ihr ausgesucht.
Indirekt natürlich, sie war ja schon einundzwanzig.
Im Kaufhaus hatte sie immer Mutters Worte im Ohr:
'In Deinem Alter habe ich nur Röcke getragen.
Immer, immer, und ich hatte viele Freunde.
Ist das denn nicht schön? Warum hast Du
Immer noch keinen Freund, Antje?'

Die letzte Frage kam immer in einem interessierten, netten Ton, der Drache saß jedoch hinter Mutters Augen.
'Sie wird doch nicht anders sein als Mädchen in ihrem Alter?'

Sie saß nun so da, in ihrem Rock, einer todschicken Bluse, weiß mit Rüschen, nicht zu aufdringlich. Darunter prangten ihre beiden großen Brüste.
Sie hatte eigentlich eine gute Figur, aber was bringt das schon, wenn das Gesicht nicht dazu paßt, fragte sie sich, wenn sie über ihr Aussehen nachdachte.
Sie saß nun so da, mitten unter 19 anderen Studenten in ihrem Physiologieseminar.
Ja, in der Schule war sie gut gewesen, nun ein Medizinstudium, 4. Semester, und sie hatte auch hier bisher große Erfolge zu verzeichnen.
Sie hob ihre Brust durch einen kraftvollen Atemzug und merkte, daß Christoph sie von der Seite anstarrte. Sie und wahrscheinlich ihren Busen, der sich in Richtung Tafel gehoben hatte. Dennoch atmete sie tief, denn sie roch gerne Dommis Duft. Dommi saß vor ihr. Er hatte einen ganz bestimmten Geruch, und sie hatte noch nicht rausbekommen, welches After Shave oder Deo es war, aber sie roch es gerne.
Gerne und exzessiv.
Er hatte blonde Haare wie sie.
Aber er sah einfach klasse aus. Er hatte dunkle Augen, eine ebene Nase und einen herrlichen Mund. Leichter Drei-Tage-Bart und einen Ohrring in seinem linken Ohr.
Den fand sie allerdings leicht ordinär (das hatte sie von Mutter), doch der Rest stimmte.
Sie war vor einigen Wochen noch stolz gewesen, mal mit ihm geredet zu haben. Es waren nur 7 Worte gewesen. "Hast Du schon alles in Neuro gelernt?"
"Nein", hatte er gesagt "Nein, ich hab noch gar nichts gemacht...Scheiße!" Und dann lachte er und zeigte dabei seine regelmäßigen, weißen Zähne.
Er lachte in einer Art, daß sie sich total von ihm eingenommen fühlte, daß es ihr kalt und dennoch angenehm den Rücken herunterschauderte und ihr eine wohlige Gänsehaut bereitete.
Danach hatte sie noch einmal mit ihm geredet. Viel zu viel! Bei dem Gedanken verkrampfte sich ihr Magen und Röte stieg ihr leicht in ihr Gesicht.
Sie hatte es verdrängen wollen, aber es gelang ihr nicht.
Und nun saß sie schon wieder hinter ihm und konnte diese peinliche Stille, die sich seither zwischen ihnen breitgemacht hatte, nicht ertragen.
Es war eine Katastrophe gewesen, und sie wußte nicht, damit fertig zu werden.
Es hatte sich vor sieben Tagen zugetragen:

Er war in Hirn durchgefallen.
Ihr Glück.
Sie erinnerte sich, wie sie vor dem schwarzen Brett in der großen Halle stand, und auf einmal hatte sich von hinten eine Hand schwer auf ihre Schulter gelegt. Sie war zusammengezuckt, hatte ihn erst gerochen und dann erkannt. Es war Dommi.
"Hi! Wie geht´s?"
"Hallo! Gut, danke!"
"Du...ähm", er zögerte, seine Hand ruhte noch immer auf ihrer Schulter "also, ich bin in Hirn durchgefallen und wollte Dich fragen, ob..." Wieder das bezaubernde Lächeln, "ob Du mich mal abfragen könntest. Ich meine, ich weiß, daß Du das super kannst, und ich, äh, wie Du weißt bin ich erst vor 2 Monaten nach Freiburg gekommen, tja, ich kenne noch nicht so viele Leute, weißt Du?"
"Ja, natürlich, klar, auf jeden Fall, kein Problem."
Gleichzeitig fiel ihr erst auf, was sie für einen Schwachsinn redete. "Wir können uns ja irgendwann treffen!"
"Klasse", sagte Dommi nur. "Bei Dir oder bei mir?"
"Also mir ist es ganz gleich", erwiderte Antje, in der Hoffnung, er würde seine Bude vorschlagen.
"Tja, also, bei mir ist es nicht so toll, ginge es bei Dir?"
"Ja, klar!"
Antje zögerte nicht eine Sekunde. Sie wußte, daß sie bei Dommi keine Chance hatte, aber sie konnte es ja mal versuchen. Das einzige Problem war nur Mutter. Hoffentlich hatte sie nichts dagegen.

Mutter hatte nichts dagegen.
Dommi kam.
Abends um halb sieben stand er vor der Haustür. Er sah besser aus denn je.
Weißes Jeanshemd, blaue verwaschene Jeans mit braunem Gürtel, schwarze Lederjacke, Wildlederschuhe.
Rundum gepflegt und rasiert.
Nur der Ohrring hing noch in seinem Ohr.
Dieser 'Pups-ordinäre Ohrring!' wie Mutter sagen würde.
Doch diesmal war Mutter nicht da. Sie war bridgen, mit ihrem so vornehmen Bridgeclub. Feine, nichtsnutze, dumme ältere Damen.
Sie würde spät kommen, sehr spät. Vielleicht um halb elf oder halb zwölf.
Antje führte Dommi in ihr Zimmer. Sie faselte irgend etwas belangloses, drehte sich nach ihm um, um zu sehen, ob er ihr noch folgte und wäre fast gegen die gute, alte Kommode geknallt.
Mein Gott, bin ich nervös, dachte sie sich nur, behielt sich aber ganz gut im Griff.
Jetzt nicht peinlich werden, sonst hast Du gleich verschissen!
Sie war, bevor er kam, fünfmal auf der Toilette gewesen, hatte sich immer wieder frisch gemacht und überprüft, ob ihr Scheitel noch saß. Sei hatte ihre Haare mit Haarspray ein wenig nach oben gepeppt und fand sich trotzdem nicht gerade unwiderstehlich.
Mit prüfendem Blick musterte Dommi ihr Zimmer. Vielleicht hätte sie das Poster mit den wilden Pferden doch abhängen sollen, aber sie hätte kein schöneres Bild gehabt.
Seine Augen glitten über ihre Regale, noch viele Kinderbücher standen dort säuberlich aufgereiht.
"Viel Kinderbücher, da", sagte sie mit etwas zittriger Stimme - Jetzt bloß keinen Stuß reden!
"Ich kann mich einfach nicht davon trennen..."
"Geht mir genauso, ich kann alte Sachen einfach nicht wegschmeißen"
Oh, wir haben eine Gemeinsamkeit, dachte sie, eine Gemeinsamkeit!
Dann hatte er es gesehen.
Sie hatte es, es war eingerahmt, so schön plaziert. So auffällig.
Sie hatte sich in einem Sommerurlaub auf Teneriffa einmal in ihren Surflehrer verknallt und hatte ihn auch fotografiert. Das Bild hatte sie in ihr Regal gestellt und Dommi hatte es erblickt.
"Dein Freund?", fragte er interessiert.
"Mein Ex-Freund", sagte sie schuldig lächelnd, als sei es ein Geständnis.
Scheinbares Erstaunen in Dommis Augen.
Vielleicht hat er gerade überlegt, wie ein häßliches Mädchen wie Du nur so einen tollen Freund abkriegen kann. Er hat ja so recht!
"Naja, wollen wir mal anfangen." Antje fiel wirklich nichts besseres ein, "..., wenn Du was zu trinken möchtest, Limo oder so..."
"Nein danke, im Moment nicht...."
Limo - so was bescheuertes, aber es war zu spät, sie hatte es bereits gesagt. Hätte sie nicht 'Cola', oder 'O-Saft' oder 'Bier' sagen können?
'Limo' - dieses Wort hatte sie von Mutter, und wenn sie früher als geplant nach Hause kommen würde, würde sie ihr einen ganzen Kasten 'Limo' um die Ohren knallen. 'Bimmo-Limo', wie Mutter immer sagte, 'möchte jemand etwas Limo, etwas Bimmo-Limo?'
Sie überprüfte Dommis neuroanatomisches Wissen mit gezielten Fragen, und er hatte sich auf seinen zweiten Versuch für diese Hirnprüfung besser vorbereitet. Er hatte sich offensichtlich einmal angestrengt, und er hatte wirklich kaum Probleme, selbst kniffligere Fragen zu beantworten.
Als sie fertig waren, das heißt, er hatte keine Lust mehr, war es zwanzig nach acht. Antje bestärkte ihn: "So gut, wie Du das jetzt kannst, kannst Du gar nicht mehr durchfallen!"
Er lächelte. "Ja, das hoffe ich auch."
Sie unterhielten sich noch ein wenig, allerdings nur über die Uni. Dabei lästerten sie über die Ungerechtigkeit einiger Professoren oder die schlechte Organisation einiger Kurse, bis Dommi schließlich sagte: "Ich glaube, langsam muß ich mal..."
Muß was?
"Ich hab zu Hause noch etwas zu erledigen!"
Was erledigen? Freundin?
"Also noch mal vielen Dank für Deine Mühe..."
Schritte.
Lauter werdende Schritte.
Schritte, die in einem stolpernden monotonen Rhythmus sagten "Ich kom-me, ich kom-me, ich kom-me, ich kom-me..."
Sie kannte die Schritte, nur zu gut.
Es waren nicht die schweren, gemütlichen Schritte ihres Vaters, es war...
*Wumms* - die Tür flog auf.

"Hallo ANTJE, meine Süße!", sang es, es sang ihr entgegen, laut, jammernd, folternd.
"Hallo Mut..."
"Huch! Wen haben wir denn da?"
"Guten Tag, Frau Riebsamen, mein Name ist Dominic."
Dommi reichte ihr die Hand, ihrer Mutter.
"Hmmm, bist Du ein Kommilitone von Antje?"
"Ja, äh, wir haben zusammen gelernt, das heißt Antje hat mich etwas abgefragt, ich war durch eine Prüfung gefallen und da-"
Peinliche Stille.
"Ah, und da hat Dir meine Antje geholfen. Meine Antje ist ja so fleißig!"
Mutters Hand legte sich auf Antjes Haar und drückte es platt.
Antje zog ihren Kopf weg.
Dommi hatte es gesehen.
Oh Gott, oh Gott'
"Antje, hast Du Deinem Gast auch etwas angeboten? Antje ist ja manchmal so vergeßlich!"
Der Drache, der Drache hinter den Augen.
Grün windend, tödlich, sanftmütig torsierend.
"Ja, Mutter, ich..."
"Wollt ihr vielleicht noch etwas trinken. Etwas Limo, etwas
Bimmo-Limo?"
'Nein-nein-Nein!'
Das kann nicht wahr sein - es ist zu abstrus - ich bin hier in einem DEFA-Film!
Dommi schaute halb verstört, jedoch freundlich lächelnd "Bimmo-Limo?"
"Ja, so hat Antje Orangenlimonade immer genannt, als sie noch kleiner war, ne, Antje, Du sagst doch immer noch Bimmo-Limo?"
"Mutter..."
"Ja, als sie noch jünger war, hat sie viele lustige Wörter gesagt, sie sagte zum Beispiel 'Sabbahahn' für Wasserhahn. Hach, und das lustigste war ja, als sie einmal mit acht Jahren zu mir ankam. Ich seh sie ja heute noch wie früher, ne, und das fragte sie mich: 'Du Mama, brauchen alle Mädchen Tanz-Gongs?' Und ich verstand nicht, was sie meinte, bis wir drauf kamen, daß unsere Antje von Tampons sprach!"
Künstliches Lachen von Dommi.
"Wir waren später etwas besorgt, weil Antje etwas später war, als die anderen Mädchen ihres Alters, naja, wie das halt so ist, die Pubertät eben."
"Ach so..." Dommi war es mittlerweile auch unangenehm, und sein Lächeln schwand etwas, er wußte scheinbar nicht, auf welche Seite er sich mit einem Lächeln jetzt schlagen würde.
"Aber ich dachte jetzt ja gerade, sie wären Antjes Freund!", fuhr ihre Mutter unbeirrt fort.
Antje war im Geiste nicht mehr da.
Ganz weit weg.
Die Sterne tanzten vor ihren Augen.
Sterne der Qual und des Hasses.
Sterne, die sie anblickten, anblickten und lächelten und riefen "Bimmo-Limo, möchte jemand etwas Bimmo-Limo?"
Sterne, die sie auslachten "Naaa, Antje, tragen wir heute wieder schicke Klamotten? Ist das wieder in Mode, ist das wieder in verdammter Mode, Antje?"
Sterne, die ihr die Liebe gaben, die sie brauchte. Liebe mit Sporen, verchromten, glücklich blitzenden Sporen, die ihr ihr dumpf reflektierendes, kostbares Blut entlockten, um mit ihr Liebe zu machen.
Liebe wie ein Freund - '...sie wären Antjes Freund', hörte sie durch einen Nebel und kam wieder zur Besinnung.
Dommi hatte sein teuerstes Grinsen hervorgezaubert und konterte: "Frau Riebsamen, als Medizinstudent hat man doch keine Zeit für eine Freundin", und lachte über seine Ironie.
Fröhliches Lachen, wie lange hatte sie nicht mehr fröhlich gelacht, und nun hörte sie ein Lachen, das von Engeln kam, die soviel Güte besaßen, die Welt von allen Sünden reinzuwaschen.
Wie sie ihn liebte, sie mußte mit ihm verschmelzen, für immer und ewig!
Wie zwei Zellen, die sich treffen, verschmelzen und eine starke, fruchtbare, helle und klare Einheit bilden.
Das Bild wurde zerrissen durch ein Lachen, welches dem im Raum stehenden nachjagte, es zu Boden warf, um es rücklings mit einer scharfen Klinge zu spalten.
Das Lachen ihrer Mutter, albern, widerlich, gemein, hüpfte im Raum einen tödlichen Tanz.
"Tja, junger Mann, sie wären Antjes erster, aber das ist ja auch gut so, sie will sich halt noch aufheben, bis der richtige kommt!"
"Achso, naja, ..., also, ich glaube, ich geh jetzt mal, ich habe noch etwas zu erledigen. Vielen Dank Antje, wir sehen uns dann ja morgen. Tschüß, Frau Riebsamen, ich find schon raus....danke...."
"Auf Wiedersehen, äh, Dominic", verabschiedete sich Mutter.
"Tschüß, Dommi, savior of my dark soul", flüsterte Antje.

Sie war in einem dunklen Keller. Im Keller ihrer Seele.
Sie saß in einer Ecke, zusammengekauert.
Durch ein kleines Fenster, verriegelt, über ihr, fiel ein schwacher, regengetrübter Lichtstrahl in die Zelle. Staub wirbelte vor ihrem Mund, als sie atmete. Sie war verloren. Die Worte ihrer Mutter, so wenige an der Zahl und doch so vernichtend. Das ganze Gespräch lief und lief und lief immer wieder in ihrem Kopf ab.
Wie glücklich war sie gewesen, alleine mit Dommi, dem Ritter ihres Herzens.
Welch herrlicher Augenblick.
Dann kam der Drachen, griff die beiden an, der Ritter siegte und zog von dannen, doch ließ er die Prinzessin zurück. Zurück in der dunklen Zelle, alleine mit dem Drachen.
Sie blickte auf.
Ihre Mutter war weg.
Sie war weg.

Sie blickte auf.
Sie saß hinter Dommi in ihrem Physiologieseminar, immer noch schamvoll in Gedanken versunken.
Sie beide und achtzehn andere.
"...das Aktionspotential in Ruhe. Sie da, können Sie mir das vielleicht beantworten?"
Der Blick des Professors fiel auf Antje.
"Entschuldigen Sie bitte, ich habe nicht zugehört, mir ist nicht gut..."
"Wollen Sie vielleicht mal raus gehen?"
"Kann ich eventuell nach Hause gehen, einen Fehltermin kann ich mir noch leisten!"
Alle drehten sich zu ihr um.
Alle, auch Dommi. Er war in diesem Moment alle. Er blickte sie nur mit leichtem Desinteresse, mit gekünstelter Verwunderung an, indem er die Augenbrauen fragend hob.
"Es ist nur noch eine Viertelstunde übrig, Sie haben ja vorhin schon etwas zu dieser Stunde beigetragen, ich werde ihnen keinen Fehltermin geben." Der Professor lächelte mit Genugtuung über seine grenzenlose Gerechtigkeit. "Gehen Sie nur nach Hause, sie sehen so blaß aus!"
Ich sehe immer blaß aus, Du Arsch!, dachte sich Antje und sagte: "Danke." Das war alles.
Sie ging ohne sich noch einmal umzudrehen. Es war nicht weit zu ihr nach Hause. Sie wollte in ihr Zimmer. In ihren Keller, in ihre Zelle.

Als Antje dann wirklich ihr Zimmer betrat, niemand war zu Hause, tat sie, was sie geplant hatte.
Sie ging an die unterste Schublade ihres Schreibtisches. Dort hatte sie sie versteckt. Mutter hätte sicher einen Herzinfarkt erlitten, hätte sie davon erfahren.
Es war nur eine CD. Eine ganz normale CD.
Doch in der Hülle war ein Päckchen.
Sie legte die CD auf. Nirvana 'Bleach' und wählte Track sieben, 'Negative Creep'.
Sie hatte noch weitere fünf CDs in ihrem Regal stehen, alles ruhigere Dinger, Klassik und so.
Sie drehte ihre alte Kompaktanlage bis zum Anschlag auf, lehnte sich zurück und schluckte den Inhalt des Päckchens.
'I´m a negative creep, I´m a negative creep, I´m a negative creep, when I´m stoned.
Daddy´s little girl ain´t girl no more, Daddy´s little girl ain´t girl no more...', dröhnte es aus den Lautsprechern, ein absoluter Hammer, der ihr Hirn weich schlug. Ihr verdammtes Hirn, ihr abgefucktes zentrales Nervensystem.
Scheiß drauf, dachte sie. Heute bin ich ein Negative Creep. Scheiß drauf! Sie begab sich in die Tiefen ihres Körpers, in die Abgründe ihres Ichs und fand nur Dreck. Unsägliche langweilige, unnütze Scheiße!
Wie Mutter ihr Leben regiert hatte.
Sie erinnerte sich noch an eine Szene ihres Lebens, die sie immer verdrängt hatte.
Sie war damals so fünf oder sechs Jahre alt und sie war mit einem Nachbarsjungen, Peter, in den Wald, der vor ihr Gartentor grenzte, gegangen. Sie hatten so gespielt, nahe des Hauses, in dem sie früher noch gewohnt hatte, vor dem Umzug in die Stadt. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was genau sie gespielt hatten, nur daß es irgendwann langweilig wurde. Da hatte Peter die zündende Idee, Doktor zu spielen. Sie hatten sich beide ausgezogen, und Peter hatte sie zuerst 'untersucht'. Sie hatte es lustig gefunden, wie Peter sie so begutachtete und berührte. Als sie dran war und gerade begann, Peter zu 'untersuchen', warf sich plötzlich ein dunkler Schatten über sie.
"Was macht ihr denn da für Ferkeleien? Antje! Das tut man nicht, komm sofort mit nach Hause!"
Sie war vermöbelt worden - nach Strich und Faden.
Nach Strich und Faden? Was soll das denn heißen? Lachen schüttelte sie heftig. Lachen, lachen, lachen, weinen. Tränen flossen. Tränen rannen ihre Wangen herunter. Rannen ihre blassen, porigen Wangen herab. Das war wohl ihre genitale Phase gewesen. Zumindest ein Teil davon. Aber Mutter hatte gewußt wie man solch dreckiges Gebärden verhindern konnte. Kontrolle. Alles war kontrolliert worden.
Ihre Sauberkeit, ihre Freundinnen, ihr Tagebuch. Ja, sogar ihr Tagebuch. Prügel, immer wieder.
"Papi, Mama hat mich heute gehauen." Mit Tränen in den Augen war sie ihrem Vater, der für sie zu spät von der Arbeit heimkam, entgegengerannt. In seine Arme. In seine schützenden Arme. Da war Mutter immer freundlich gewesen, wenn Vater zu Hause war. Ihr Ernährer. Der Drache wartet auf seinen Nährer und verwandelt sich dafür in einen goldenen Singvogel.
"Was soll ich gemacht haben? Dich geschlagen? Nun übertreib mal nicht, ich habe Dir einen Klaps auf Deinen Popo gegeben!"
"Deine Mutter wird schon wissen, was Du wieder angestellt hast, mein kleines Herzchen!"
"Natürlich, ich bin ja auch ihre Mutter!" Schallendes Lachen - 'Warte nur, bis Vater weg ist, warte nur!'
"Wie war Deine Arbeit, Liebling?"

Antjes Gedanken tanzten um ihre Kindheit herum, immer weiter, immer tiefer.
Bis sie auf die Uhr an ihrem linken Handgelenk blickte, mit farbverhangenem Blick. Schon sechs Uhr. Zeit für ihren Plan.
It´s time to die, mother!
Sie kroch auf allen Vieren zu ihrem Schreibtisch. Der Schreibtisch, ihr alter Freund. Gutmütig, verschwiegen hatte er ihre Geheimnisse vor Mutter aufbewahrt. Sie hatte sich ein Fach gebastelt, Platz für einige geheimen Dinge. Einige Briefe, ein Skalpell und eben die CD mit doppeltem Inhalt.
Ein Skalpell in Übergröße. Sehr scharf. Hatte sie während ihres Krankenpflegepraktikums aus dem OP mitgehen lassen. Das würde Arterien zum Singen bringen.
Ihr Lied würde in pulsierenden, lauten Tönen aufleben, rot, wahr und ewig.
Verliebt sah sie das massengefertigte Instrument an. Ganz und gar aus Metall.
Es war mit 'Stainless Steel' bedruckt. Die Buchstaben tanzten auf und ab, sie mußte sich konzentrieren. Sie war schon wieder in unendliche Weiten abgedriftet. Sie holte die Briefe aus dem Fach. Einen an ihre wohl beste Freundin, einen an ihren Vater und einen an Dommi. Fünfzehn Seiten war er stark.
Mit Beschuldigungen, Anklagen, Liebesgeständnissen, ihrem Leben, ihr Lieben.
So wie sie es mitbekommen hatte, hatte Dommi keinem über das peinliche Gespräch mit ihrer Mutter erzählt. Das rechnete sie ihm hoch an. Vielleicht hatte er es gar nicht so schlimm gefunden.
Aber wie hatte er es aufgefaßt, daß sie ihn mit diesem Pseudofreund, diesem Surflehrer von Terneriffa belogen hatte?
Sicher hatte er sich gedacht: 'Armes, kleines, häßliches Wesen, dumme Antje!' und dabei gegrinst. 'Sie wird ewige Jungfrau bleiben!' Die Briefe legte sie behutsam auf den Schreibtisch, liebkoste ihr abschließendes Werk mit letzten Blicken.
'That´s gonna be my last song, it´s not gonna take long'
Sie schreckte auf.
Ihre verträumten Chaosgedanken ordneten sich in Sekundenbruchteilen - Mutter!
Sie war schon zu Hause, mußte es denn jetzt schon enden? Jetzt nicht schwach werden, Antje! Deine Chance, Dein Leben ist ein Punkt der durch den Kosmos schwirrt und nur schwach leuchtet. Puste ihn aus, raub ihm die Energie zu leuchten, gib ihm einen Abschiedskuß wie einer Ferienliebe, wehmütig, jedoch nicht verliebt. Die Wahrheit über die Koordinaten des Punktes im Raum wird nie jemand erfahren, es bleibt unter uns.
Unter uns?
Mutter und mir.
Tränen liefen wieder warm und schwächend über ihre Wangen.
"Antje?"
"Aaaaaaantje?"
"Mutter? Mutter, ich bin hier!" Leises sprach sie zu sich selbst, niemand könnte sie durch die aggressiv hämmernde Musik vernehmen.
Aber Mutter würde kommen - angezogen durch die ungewöhnliche, laute Musik, angezogen wie eine neugierige Spinne, die durch das Rütteln an ihrem Netz aktiviert wird.
Die Tür flog auf.
Antje hielt das Skalpell in der rechten Hand, das linke Handgelenk nun ohne Uhr freigelegt und gestreckt gehalten.
"Antje, sag mal, spinnst Du, mach sofort die...", schrie Mutter, doch weiter kam sie nicht.
Sie sah Antje in der Ecke ihres Kinderzimmers sitzen, mit verheulten Augen mit einem Todesblick hinter geweiteten Pupillen, welcher sie für immer zu verdammen schien.
"Antje, Liebling..."
"Halt´s Maul", fauchte Tochter ihre Mutter an. "Tschüß, und fahr zur Hölle, wir werden uns dort treffen"
Der erste Schnitt.
Sie hatte vorher Befürchtungen gehabt, sie könnte nicht tief genug schneiden, doch sie konnte. Sie zog den Schnitt von außen nach innen, tief verlangend, begehrend. Dabei zerteilte sie beinahe komplett ihre Sehnen durch einen Schmerznebel hindurch. Sie traf eine größere Arterie.
Erlösung.
Jesus am Kreuz, das Kreuz tief in die kalte Mutter Erde gerammt, mit Seilen seine Arme und Beine am Kreuz befestigt, Nägel in Händen und Füßen.
Daneben, im Schatten seines Kreuzes, ihr Kreuz, leer. Doch langsam nahm eine Person den Platz ein, mit einem dankbarem Lächeln auf den Lippen, mit einem Seufzer der Erleichterung - sie selbst.
Wie schön sie doch war, wie schön dieser Moment, hinter dem Sohn des Schöpfers mit ihm in den Himmel starrend.
Sie hielt ihr Handgelenk in die Richtung, aus der ihre Mutter auf sie hinzustürzte. Druckstarke Fontänen ihres Blut schossen aus dem Schnitt hervor. Sie konnte das ekelverzerrte Gesicht ihrer Mutter durch den roten Schleier ihrer getrübten Augen erkennen, als Spritzer ihres eigenen Blutes das Gesicht jener trafen.
Mutter schnappte sich eine ihrer weißen Blusen von dem Schreibtischstuhl und versuchte, Antjes Handgelenk zu greifen. Dabei gab sie komische Laute von sich. Sie wechselten zwischen Grunzen, Stöhnen und Verzweiflungsschreien.
Ganz schön raffiniert, das alte Weib, dachte sich Antje und mußte sich zusammenreißen, um nicht zu kollabieren. Sie wollte bis zum letzten kämpfen, Mutter würde sie nicht kriegen.
Sie sah, wie ihr Blut das ganze Zimmer in einen Schlachthof verwandelte. In wilder Agonie wand sie sich auf dem Boden und versuchte, ihr linkes spuckendes Handgelenk unter ihren Brüsten zu vergraben, um es vor den Rettungsmaßnahmen ihrer Mutter zu schützen.
Das war der Moment, in dem sie ihr Bewußtsein verlor.

Sie wachte wenig später auf.
Wenig später in Zeit.
Es fiel ihr schwer, sich aufzurichten, ein zittriges Stöhnen verließ ihre Lippen. Sie griff sich an die Stirn und fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Haut, glitt dann etwas tiefer, um ihr ganzes Gesicht wahrzunehmen. Etwas Speichel klebte in ihrem Mundwinkel.
Erst jetzt spürte sie durch ihre Bewegungen, daß sie schweißgebadet war.
Sie erhob sich, ihr Blick wanderte langsam und sehr bedächtig durch das Zimmer. Der Spiegel, den sie sehnsüchtig suchte, war gegenüber an der anderen Wand angebracht.
Langsam humpelnd, nur mit einem Nachthemd bekleidet, näherte sie sich ihrem langjährigem Feind. Das Licht neben dem Bett hatte sie angeschaltet, es war dennoch gedämpft, geheimnisvoll, rhythmisch schlagend.
Als sie in den Spiegel blickte, ihr Gesicht sah, golden umrahmt, wußte sie, sie war zu Hause.
Ihre trüben, alten Augen noch die gleichen, ihre schlaffe, faltige Haut belog sie auch nicht. Ihr schlohweißes Haar klebte seitlich den Gesichtszügen, wie eh und je.
Sie war kleiner und gebeugter als in jungen Jahren.
Ihre Mutter lebte schon lange nicht mehr, doch sie wurde wiedergeboren in tausenden einsamen Träumen, die Antje mit sich verbrachte.
Das Ende ihres Alptraums, ja, Mutter hatte sie gerettet, und sie hatte es selbst nie wieder gewagt, ihr Leben den Göttern zu übergeben. Abgesehen davon, fühlte sie sich wie ein Leichnam, ihr Leben gleich dem Tod.
Auch Dommi war früh gestorben.
Mit ihm ihre Träume.

Mutter, bald werde ich bei Dir sein!

MRW, 1992

 

Aber hallo,

ganz hervorragend, finde ich. Richtig schön nachvollziehbar. Bueno, bueno, weiter so ...

Heiko

 

Hast Du Dich durch Stephen Kings "Carrie" zu diesem Werk inspirieren lassen? Hat eine Ähnlichkeit damit... ;) :D

Och, diese bösen, bösen Mütter - da bin ich nur froh, daß ich keine habe. Meine Mutter ist die Einzige, die mein Zeug freiwillig liest und korrigiert! *stolz auf die Mutter is* ;) :)

Die Geschichte hat mir auch sehr gut gefallen. Toll erzählt. Und vor allem; Nirvana, Negative Creep. Ich wußte doch gleich, als ich den Titel las, hierbei kann es sich nur um Nirvana handeln! Sonst weiß ich auch nicht weiter! :D
Und es geht absolut REIN GAR NICHTS ÜBER NIRVANA! Cooler Song, dieses "Negative Creep". Den wollten wir in der Band auch noch covern...
Ach, ich rede einen Haufen Müll, sorry!

Die Geschichte jedenfalls ist sehr gut!!!!!

Griasle
stephy

 

Lieber Markus!

Es ist erbärmlich, naja, eher sehr traurig, daß diese wunderbare Story nicht von mehr Leuten kommentiert worden ist. (Hoffentlich haben sie mehr Leute gelesen als schriftlich gewürdigt!)

Sie läßt sich sehr gut lesen, ist von Anfang bis Ende spannend und wird nicht schnell in Vergessenheit geraten, wenn sie denn erst einmal gelesen worden ist. (Ich habe sogar mein Bier vergessen zu trinken, und das will einiges heißen!)

Carry - nun ja ... also ... nettes Buch, aber die Parallelen muß man nun wirklich nicht ziehen.

Daß Du sonst nichts bei KG veröffentlicht hast (und dazu kommt, daß die Story bereits 1992 entstanden ist), kann allerdings nicht die Deutung zulassen, daß Du nichts mehr geschrieben hast. So eine Story ist meiner Meinung nach kein Zufallstreffer, sondern setzt allerhand Schreiberfahrung und Liebe zum Detail voraus.

Ich bin auf Dich gestoßen, als ich Deinen aktuellen Vorschlag zum Posten von Verlagsreaktionen gelesen habe.

Nun ja, es ist schwer, an einen Verlag zu kommen, der einen auch noch für seine Arbeit bezahlen möchte, in den meisten Fällen verhält sich dies leider umgekehrt. (Sonst vielleicht print on demand bei bod.de, aber da warst Du sicherlich schon.)

Wenn Du sehr an Dich glaubst, wird Dir vielleicht ein Buch weiterhelfen, das ich mir letztens gekauft habe. Aber ... laß Dich nicht entmutigen! Die Amazon-Kritiken sprechen für sich, jedoch scheint das Buch die Wahrheit zu sprechen, es ist von einer ehemaligen Lektorin eines angesehenen Verlages geschrieben worden.

Sylvia Englert - So finden Sie einen Verlag für Ihr Manuskript.

bei Amazon weitere Infos:

http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3593361531/qid=1011223968/sr=8-1/ref=sr_aps_pr od_1_1/302-4530408-4857657

Schreib weiter, was Du ja hoffentlich auch tust, und was meine eigenen Erfahrungen angeht ... einige Verlage waren noch nicht einmal dazu imstande, bei ihrer Absage den Namen des abgelehnten Romans richtig zu schreiben (aus "Hexenwinter" wurde "Hexengewitter" ...), wenn es überhaupt eine persönliche Antwort gab und nicht eine vorgedruckte Postkarte, welche dankend ablehnt und für verlagseigene Publikationen wirbt, die unbekannten Autoren Tips geben sollen. (Auch wenn das oben genannte Buch natürlich dieser Kategorie angehört, kann ich es nur empfehlen.)

Andere ordnen das eingesandte Manuskript in einer falschen Kategorie ein und antworten, daß sie nicht in diese Kategorie passen würde, auch wenn der Autor ausdrücklich auf das Genre hingewiesen hatte, in welchem er die Story angesiedelt hatte.

Würde mich freuen, etwas von Deinen Erfahrungen zu hören!

Alles Gute,

Ralf

P.S.: Stephen King - Über das Leben und das Schreiben (sehr zu empfehlen, die Erfahrungen des Meisters am Anfang seiner Karriere ... Manuskripte immer kürzen und niemals tackern, immer nur mit einer Büroklammer zusammenhalten ...)

Verschiebe Deine Story doch in einen anderen Bereich bei KG! Horror würde auch gut passen, dann bist Du auch kurzfristig ganz aktuell und gibst den Lesern die Chance, direkt auf Dich zu stoßen! Mail an den Chef, der macht das dann.

[Beitrag editiert von: Hexenmeister am 17.01.2002 um 00:58]

 

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