Neubeginn
Sie war so glücklich, dass sie dachte, ihr Herz müsste zerspringen. „Ja“, flüsterte sie. „Ja, ich will!“
Emma konnte es nicht fassen, sie hatte sich diesen Moment schon so oft ausgemalt und nun kniete Ben tatsächlich vor ihr, den schönsten Ring der Welt in den Händen. „Meinst du das ernst? Bist du dir sicher? Das bedeutet, du musst den Rest deines Lebens meine dreckigen Socken waschen und mir Bier bringen, wenn ich Fußball schaue.“ Sie musste unwillkürlich grinsen. So etwas brachte auch nur Ben fertig, sie in einem so wunderbaren, romantischen Moment zum Lachen zu bringen.
Langsam zog sie ihn an sich und umarmte ihn. „Jawohl du Holzkopf, das will ich, solange ich lebe.“, murmelte sie ihm ins Ohr. „Ich liebe dich.“
„Und ich liebe dich.“, antwortete er und sah sie zärtlich an. „Wie wäre es, wenn wir das jetzt ein bisschen feiern würden?“
Mit einem letzten Blick auf den traumhaften See, an dessen Ufer Ben ihr den Antrag gemacht hatte, und dessen Wasser nun im Licht der untergehenden Sonne glitzerte, stieg sie ins Auto.
Im Beifahrersitz des schwarzen Audi lehnte Emma sich entspannt zurück und sah ihren Verlobten von der Seite an. „Mein Verlobter...“ dachte sie überglücklich. Wie absolut unglaublich, sie würde tatsächlich heiraten! Sie würde die Frau eines gut aussehenden, wohlhabenden Mannes werden, den sie liebte und der sie ebenso liebte. Und auch wenn sie sich früher einmal vorgestellt hatte, ihren zukünftigen Mann lange vor der Hochzeit zu kennen, vielleicht vorher sogar einige Zeit mit ihm zusammen zu wohnen, fühlte es sich gerade absolut richtig an. Das eine Jahr, in dem sie sich kennengelernt und zusammengekommen waren, war voller wunderschöner Momente. Sie fühlte sich bei ihm einfach so sicher und geborgen. Niemals könnte sie sich ein Leben mit einem anderen vorstellen. Wieso also nicht ein bisschen verrückt sein und alles überstürzen? So zumindest würden ihre Freundinnen es nennen. Aber das war ihr egal. Selig lächelnd betrachtete sie den schmalen silbernen Ring an ihrer linken Hand, der mit einem einzelnen, zierlichen Stein verziert war.
Sie betraten das italienische Restaurant und wurden sofort von einem Kellner an einen bereits romantisch geschmückten Tisch ein wenig abseits der anderen geführt. Das wunderte sie nicht, wenn Ben etwas tat, dann tat er es richtig. Sie waren schon ein paarmal gemeinsam hier gewesen und es hatte ihr wegen des netten und gastfreundlichen Ambientes immer gut gefallen. Außerdem kannte Ben den Besitzer des Lokals, Luigi diMarco.
Als sie auf das Dessert warteten, erschien Luigi an ihrem Tisch, um ihnen zu ihrer Verlobung zu gratulieren. Er wirkte sehr angespannt und irgendwie nicht bei der Sache. „Vielleicht wäre es möglich, dass wir uns kurz unterhalten, Amico, wenn deine wunderschöne Frau erlaubt, dass ich dich kurz entführe.“, er zwinkerte ihr zu. „Es dauert auch nicht lange, bella Signorina.“
„Entschuldige mich kurz, Schatz“, sagte Ben und folgte Luigi durch die Tür zum Küchenraum.
Verwirrt saß Emma am Tisch. Was konnte denn so wichtiges zu besprechen sein, dass es nicht einmal einen Tag warten konnte? Hier einfach so in ihre Verlobungsfeier hineinzuplatzen, fand sie äußerst unhöflich. Aber Ben würde es ihr sicher später erklären. Der Kellner kam vorbei und schenkte ihr noch einmal Wein nach.
Was dauerte denn da so lange? Emma seufzte.
In diesem Moment schlug die Küchentür auf und Ben kam heraus geeilt. Im Laufschritt kam er zum Tisch und zog die erschrockene Emma vom Stuhl hoch. „Los, komm, wir gehen!“
„Aber was... Ben? Was ist denn... Ich...“ Emma war so überrumpelt, dass sie keinen vernünftigen Satz herausbekam. Sie konnte gerade noch ihre Tasche und ihren Mantel schnappen, bevor Ben sie vor sich her aus dem Lokal schob.
Als sie wieder im Auto saßen und Ben hektisch den Motor startete, fand Emma endlich ihre Sprache wieder. „Sag mal, was war das denn? Was ist denn los? Du... oh Gott, Ben, du blutest ja!“ Erst jetzt bemerkte sie die schmale Blutspur, die von seiner rechten Augenbraue aus in Richtung Wange lief. Entsetzt starrte sie das kleine Rinnsal an. Als Ben schwieg und weiter nur geradeaus auf die Straße blickte, fuhr sie ihn wütend an: „Ben, ich will wissen was los ist! Rede mit mir!“
Er seufzte tief und fing dann zögernd an zu sprechen. „Weißt du, Em, das ist nicht so einfach zu erklären. Es geht um viel Geld und ich muss jetzt erst mal ein paar Dinge klären. Ich fahr dich jetzt nach Hause, in Ordnung? Und ich erzähle dir alles, wenn ich wieder klar im Kopf bin.“
Als das Auto vor ihrer Wohnung zum Stehen kam, zog er sie an sich und murmelte „Gute Nacht, Süße. Ich liebe dich. Sei nicht böse, bitte.“
„Nein, bin ich nicht.“, sagte Emma tonlos, erwiderte seine Umarmung halbherzig und stieg aus dem Auto.
Blass und übernächtigt saß sie am nächsten Morgen in ihrer Küche. Sie hatte kaum geschlafen, weil die Erlebnisse des gestrigen Abends ihr Gehirn auf Trab gehalten hatten. Sie verstand einfach nicht, was da passiert war. Oder wieso Ben es ihr nicht hatte erklären wollen. Mit Geld hatte es zu tun. Und Luigi musste sehr wütend gewesen sein, wenn er sogar handgreiflich geworden war. Um was ging es bei der Sache? Hatte es mit Bens Job zu tun? Über den wusste Emma so gut wie nichts. Sie hatten bisher kaum darüber gesprochen, womit genau Ben sein Geld verdiente. Sie wusste, dass er viele Kontakte hatte und nicht gerade arm war, aber immer wenn seine Tätigkeit zur Sprache kam, hatte er mit ein paar Floskeln geantwortet und mit anderen Dingen abgelenkt. Das war ihr noch nie so bewusst geworden. Sie beschloss, ihn gleich als nächstes danach zu fragen, wenn er sich meldete. Immerhin musste sie doch wissen, was der Mann tat, den sie heiraten wollte.
Gähnend nahm sie die Morgenzeitung zur Hand, ihr Blick wanderte über die Titelseite und fast im selben Moment stockte ihr der Atem. Die Kaffeetasse, die sie gerade zum Mund führen wollte, glitt ihr aus der Hand und zerschlug auf dem Boden in tausend Teile, aber das nahm sie nicht einmal wahr. Sie hatte Probleme sich zu konzentrieren, als sie den Artikel las, denn ihr Herz schlug so laut und heftig, dass sie es im ganzen Körper spüren konnte. Ihre Hände zitterten so, dass sie die Zeitung ablegen musste, um die Buchstaben zu erkennen.
Tausend Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Das war doch unmöglich, das konnte einfach nicht wahr sein! Immer und immer wieder las sie die Überschrift, die sich in fetten, schwarzen Lettern in ihre Netzhaut brannte: „Restaurantbesitzer von Mafiamitgliedern getötet“ – darunter ein Foto des in die Kamera lachenden Luigi.
Was hatte Ben gesagt? Er müsse ein paar Dinge klären. Hatte er sie auf diese Weise geklärt? Das würde bedeuten, seine Zugehörigkeit zur Mafia war der Grund für das Schweigen über seinen Beruf. Langsam wurden die Zusammenhänge immer deutlicher, alles gab jetzt einen Sinn. „Oh mein Gott...wie konnte er... ich....“, schluchzend brach Emma über dem Tisch zusammen.
Mit tränenüberströmtem Gesicht saß Emma nun am Steuer ihres kleinen Peugeot und lenkte das Auto in Richtung Ben's Wohnung. Sie wollte ihn zur Rede stellen. Sie wollte von ihm hören, wie er ihr erklären wollte, dass er sie die ganze Zeit belogen hatte. Dass er ihr seine wahre Identität verheimlicht hatte. Und dass er ein Mörder war. Bei diesem Gedanken stieg wieder ein ersticktes Schluchzen aus ihrer Kehle.
Sie parkte direkt vor seinem Haus, ohne das Parkverbot zu beachten und stieg aus.
Der Kies des Gartenweges knirschte unter ihren Füßen, als sie auf das Haus zuging. Irgendwie wurden ihre Beine immer schwerer und langsamer und sie spürte eine ungekannte Angst in sich aufsteigen. Was war, wenn er ihr etwas antat? „Das ist doch Blödsinn!“, schimpfte sie sich selbst. „Es ist doch immer noch Ben, wir lieben uns doch.“ Wobei sie sich bei Letzterem nicht mehr sicher war. Was war noch alles gelogen gewesen?
Als sie endlich bei der Haustür angekommen war, wollte sie eigentlich schon wieder kehrtmachen, aber da wurde die Tür aufgerissen und Ben stand vor ihr. Er sah überrascht aus und er trug eine kleine Reisetasche in der Hand. „Was tust du denn hier?“ Mit starrem Blick fixierte Emma die Tasche, die er trug und anstatt zu antworten fragte sie nur leise: „ Du willst weg? Du willst einfach abhauen, ohne etwas zu sagen, ohne dich zu verabschieden, ohne irgendeine Erklärung?“ Ihre Stimme hob sich jetzt. „Was denkst du dir dabei? Dachtest du, du kannst mich erst verarschen und dann einfach sitzen lassen? Du bist doch echt das Letzte, Ben! Die ganze Zeit hast du mir vorgegaukelt, ein toller Kerl zu sein, der ja ach so verliebt in mich ist! Wozu das alles? In Wahrheit bist du nichts als ein Arschloch und ein eiskalter Gangster! Ich hasse dich!“ Den letzten Satz schrie sie förmlich hinaus. Verwirrt blickte Ben sie an. „Em, beruhige dich doch, ich kann dir das erklären...“
„Spar dir deine Erklärungen für die Polizei, die wird es nämlich auch interessieren, dass du der Mörder von Luigi bist, du hinterhältiger Mafioso!“
„Aber...“, doch Emma ließ ihm keine Zeit, etwas zu sagen. „Wie sieht das aus? Bist du jedes Mal, wenn du gesagt hast, du wärst geschäftlich unterwegs, rausgegangen und hast Menschen getötet oder Drogen und Waffen verkauft? Oh Gott, Ben, wie konntest du mir das antun? Wieso hast du mich nicht einfach in Ruhe gelassen? Ich will dich nie mehr wiedersehen!“
„Aber Emma!“, Bens Stimme war nun auch lauter geworden und er packte sie am Arm. „Hör mir doch mal zu!“
Verzweifelt und mit Tränen in den Augen sah sie ihn an. Sie fühlte sich leer und kaputt, so als wäre alle Kraft aus ihrem Körper verschwunden. „Dann rede,“, ihre Stimme bebte, „aber es wird nichts ändern.“
„Das denke ich schon. Ich hoffe es zumindest.“, widersprach er ihr mit ruhiger Stimme. „Emma, ich kann verstehen, wie das alles für dich aussehen muss. Aber das ist ein großes Missverständnis! Ich bin nicht bei der Mafia. Ganz im Gegenteil. Ich bin verdeckter Ermittler einer Sonderkomission der Polizei. Ich habe den Mittelsmann bei einem Geschäft zwischen der italienischen und russischen Mafia gespielt, um wichtige Beweise zu sammeln. Leider ist bei dem Geschäft etwas schief gegangen und Luigi wollte die Russen nicht bezahlen. Bei meinem Streit gestern mit ihm ging es um den geplatzten Deal, an dem er mir die Schuld gab. Wir konnten nicht ahnen, dass die Russen so schnell handeln würden, sonst hätten wir uns gestern noch eingeschaltet. Es ist einiges ziemlich schief gelaufen bei diesem Einsatz. In der Tasche,“, er hob die Hand, in der sie sich befand,“ sind die restlichen Beweise, die ich gesammelt habe und gerade aufs Präsidium bringen wollte.“
Mit großen Augen sah Emma ihn an. „Ist das wahr? Dann bist du kein Gangster und Mörder?“
„Nein, das bin ich nicht. Diese Leute bringe ich für gewöhnlich hinter Schloss und Riegel. Es tut mir leid, dass ich meinen Job so lange vor dir geheim halten musste, aber das ging nicht anders. Bitte verzeih mir. Jetzt können wir neu anfangen, ohne irgendwelche Geheimnisse. Kannst du mir verzeihen?“
Über Emmas Gesicht breitete sich ein glückliches Lächeln aus und statt einer Antwort küsste sie ihn lange und zärtlich.