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New Hope for the Wretched

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04.04.2009
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New Hope for the Wretched

Sandra versuchte sich fieberhaft zu erinnern, wann sie das letzte Mal soviel Alkohol getrunken hatte. Keine Chance. Ihre Gedanken trieben immer wieder in das Grau eines von Wodka benebelten Verstandes ab. Schlussendlich bekam sie die Erinnerung wie ein lang vermisstes Kleidungsstück in einer unaufgeräumten Schublade zu fassen. Das letzte Mal betrunken? Jetzt kehrte die Erinnerung zurück. Sie hatte letzten Sommer ihren besten Freund Uwe in Köln besucht. Gemeinsam hatten sie sich im Sonic Ballroom die Black Halos angesehen. Der Laden war rappelvoll gewesen und Sandra hatte sich nach dem Gig direkt auf der Straße vor dem Laden heftig übergeben müssen.
Zuviel von diesem selbst zusammengebrauten Lakritzschnaps. Wie kalte Limonade war das Kettenfett den ganzen Abend ihre Kehle hinabgeflossen. Sandra schüttelte sich als sie an den fiesen Geschmack in ihrem Mund denken musste. Den Rest der Nacht hatte sich auf einer Skinhead Party verbracht. Der wummernde Bass der traditionellen Ska-Musik ließ ihren Magen nicht mehr zur Ruhe kommen. Seitdem hatte sie keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Stattdessen rauchte sie Dope. Dafür gab es mehrere Gründe. Alkohol und Feiern gehörten für Sandra zusammen. Sie befand, dass es in ihrem Leben momentan keinen Grund zum Feiern gab.
Dope rauchen war eine Flucht aus der Realität.
Das hatte für Sandra nichts mit feiern zu tun.

Die Party, auf der sie sich befand, war ihre erste Party seit langem. Und es war ihre erste Party in dieser neuen Stadt. In dieser neuen alten Stadt. Mit unermüdlicher Regelmäßigkeit hatte ihre Mutter ihr immer wieder erzählte, dass sie hier geboren worden war. Außerdem habe sie die ersten beiden Jahre ihres Lebens hier verbracht…Sie erzählte es so, als ob sich sofort nostalgische Gefühlswallungen bei Sandra einstellen müssten. Leider konnte sich Sandra an rein gar nichts mehr erinnern. Und sie wollte es auch nicht. Die Wahrheit war, dass das ganze Gerede sie einfach nur tierisch annervte. Ihre Mutter wurde senil und begriff es nicht. Sandra nahm einen tiefen Schluck Wodka und sah sich um. Fremde Gesichter. Gesichter, die ihr allesamt nichts sagten. Die allesamt nichts aussagten. Als hätte man ihnen den Charakter mit einem scharfen Skalpell aus ihren Visagen geschnitten. Sie musste grinsen. Die Typen wirkten unheimlich borniert. Diese ganzen properen Gestalten – wie aus einem schnulzigen amerikanischen College-Film. Sauber rasiert und mit Gel in den kurzen Haaren. Die Mädchen mit dem gekünstelten Cheerleaderlächeln, das vollkommen unbeweglich und wie in Stein gemeißelt war.
Jetzt fiel ihr wieder ein, warum Robin sie so lange zu dieser Party hatte überreden müssen.

Sie hatte einfach nichts mit diesen Menschen gemeinsam.
In ihren Augen waren das dumme Teenager. Unauffällig musterte sie Robin. Er hatte sich neben ihr ausgebreitet und nippte stumm an seinem Bier. Sandra kannte ihn erst seit kurzer Zeit. Trotzdem hatte sie ihr Urteil unwiderruflich gefällt. Sie fand ihn albern und pubertär. Doch eines musste sie ihm lassen - er war die einzige Person in ihrer Klasse, wahrscheinlich auf der ganzen verdammten Schule, der erkannt hatte, das der Typ auf ihrem Rasierklingenshirt Stiv Bators war. Seit dieser Begebenheit hatte er ihr keine ruhige Minute mehr gegönnt. Tagelang hatte er sie mit der Aussicht auf diese tolle Party genervt - solange, bis sie schließlich einwilligte.
Einfach, um ihn ruhigzustellen.
Die Zeit war verstrichen. Der Tag war gekommen. Hier war sie - die Party. Genau jetzt hätte sich Sandra gewünscht, dass sie ihn einfach versetzt hätte. Im Regen stehengelassen. Aber das hätte sie nicht über das Herz gebracht. Irgendwie mochte sie ihn trotzdem.
Sie musste an die Fahrt denken. Wie er vor ihrem Haus aufgetaucht war. Das sie dieses beschissene Der-Typ-will-mehr-Gefühl hatte, als sie in seinen alten Ford einstieg. Die leuchtenden Augen zur Begrüßung. Mein Gott. Er war so durchsichtig. Kaum, dass sie im Wagen saß hatte er ihr einen brennenden Joint in die Hand gedrückt. Es kam ihr so vor, als habe er das alles minutiös durchgeplant.
Trotzdem nahm sie dankend an und rauchte.

Ihr war klar, dass er sie im Verlaufe des Abends versuchen würde zu küssen. Es stand ihm einfach ins Gesicht geschrieben. Natürlich konnte er nicht wissen, dass dies das Letzte war, was sie wollte. Sie wollte nur in Ruhe gelassen werden. Ihrer Mutter hatte sie nichts von der Party erzählt.
Sandra hielt es einfach nicht für nötig.
Sie war verdammt noch mal alt genug.

Die Party fand ziemlich weit draußen statt. Sandra kannte die Gegend nicht. Sie kannte nicht einmal den Gastgeber. Nach einer halben Stunde Fahrt über unbeleuchtete Straßen und Feldwege hatten sie schließlich ein kleines Waldstück durchquert und hielten vor einem großen, hell erleuchteten Haus. Alles wirkte wie in besagter Bilderbuchwelt. Gepflegter Vorgarten, teure Blumenbeete. Ein weißer Van in der Einfahrt. Eine große Garage. Die übliche bürgerliche Fassade. Sandra hasste es sofort. Robin parkte den alten Ford einige Meter neben der Einfahrt. Schon beim Aussteigen hatte sie das dumpfe Grölen von betrunkenen Teenagern gehört.
Sie legte keinen Wert darauf, jemanden kennenzulernen. Sandra fühlte sich alleine, aber nicht einsam. Das war gut so. Sie würde alleine klarkommen. Hier. In dieser neuen Stadt, die sie jetzt schon so sehr hasste.

Als Sandra die Stufen zur Veranda heraufgestiegen war hatte sie tief Luft geholt. Auf was hatte sie sich hier eingelassen? Aus der Stereoanlage dröhnten seichte Rocknummern der Kaiser Chiefs. Durch die große Schiebetüre, die als Abtrennung zur Veranda diente, sah man bereits die trüben Gesichter von angetrunkenen Jugendlichen. Sie war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.
Diese Party bestand aus provinziellen Kids, die über belanglose Dinge sprachen und sich betranken, um dann in dunklen Ecken an sich herumfummelten. Das alles zur Musik von Coldplay und anderen Idioten - Bands, die sie hasste. Und das Haus war nichts weiter als ein Sammelsurium dekadenter Gegenstände. Überall Marmor, in Gold gefasste Gemälde, große und hohe Räume.
Die Fenster sahen aus wie in einer Kirche.
Sandra erinnerte das alles an einen prunkvollen Palast, den es galt, niederzubrennen.

Seitdem waren zwei Stunden vergangen. Sie hatte mehr oder weniger unbeweglich neben Robin auf der Couch gesessen und sich mit Wodka betrunken. Den Gastgeber hatte Sandra nur kurz gesehen. Ein Typ Anfang zwanzig, in modischen Jeans und einem dunklen Abercrombie & Fitch Kapuzenpullover. Braungebrannter Teint und blonden Strähnchen im Haar. Er sah aus wie der Prototyp des Sunnyboys. Das genaue Gegenteil was Sandra an einem Mann sexy und anziehend fand. Er hatte kein Wort mit ihr gewechselt und zur Begrüßung nur kurz genickt.
Robin sah sie an und zwinkerte ihr zu. Sandra wusste, dass er bald versuchen würde sie zu küssen.
Sie musste ihm zuvorkommen. Sie drehte sich zu ihm und fasste nach seinem Unterarm.
Dann zog sie ihn zu sich und flüsterte ihm ins Ohr.
-Hey, ich will mich einfach nur betrinken mit dir, okay?
Er nickte und zuckte enttäuscht mit den Achseln. Sandra war sich absolut sicher, dass er mehr als nur Freundschaft für sie empfand. Das war der Grund, warum sie ihm nicht unnötig wehtun wollte. Die letzte Zeit war hart genug gewesen. Sie lehnte sich zurück, trank einen großen Schluck Wodka und ließ ihre Gedanken Revue passieren. Ihre Mum und ihr Dad. All das hatte Risse hinterlassen. Tiefe Risse, die sie langsam nicht mehr hinter ihrer harten Fassade verstecken konnte.

In der Zwischenzeit wurde die Party allmählich wilder und nahm an Fahrt auf. Das lag eindeutig am nicht geübten Umgang mit Alkohol. Immer mehr und schneller floss er die Kehlen hinab.
Die Leute wurden unvorsichtiger. Die Bewegungen unkontrollierter. Eine Vase wurde umgestoßen und zersplitterte nach dem knallenden Aufprall in tausend Teile, die sich wie Insekten auf dem Boden verteilten. Robin schob sich ein Stück näher an sie heran. Sandra roch seinen Atem. Er drehte seine Bierflasche in seinen Händen hin und her und sah sie plötzlich besorgt an.
„Du bist ziemlich hinüber, was?“.
Sandra fühlte sich, als würde er sie wie ein Kind behandeln.
„Ach, fuck you !“, antwortete sie spöttisch. Der besorgte Ausdruck verschwand nicht aus seinem Gesicht.
„Du findest die Party also scheiße?“.
„Was kann man hier nicht scheiße finden?“ entgegnete sie und lachte laut.
Robin nickte und starrte den Fußboden an.
Sandra rülpste laut.
„Ziemlich dekadent dieser Schuppen hier...was machen die Eltern von dem Typen?“.
Sandra nickte in Richtung des Gastgebers, der es sich mit zwei Mädchen aus ihrer Stufe auf der gegenüberliegenden Couch bequem gemacht hatte. Auf Sandra wirkte das wie eine Szene aus einem schlechten Film.
Robin riss sie aus ihren Gedanken.
„Sein Vater hat irgendwas bei der Regierung gemacht...die ganze Familie hat mal ne' zeitlang in Texas gelebt, da fehlte David für zwei Jahre in der Schule...“.
Sandra nickte.
„Muss ja ein tierischer Verlust gewesen sein!“.
Robin zog die Augenbrauen nach oben und lächelte.
„Ich weiß, was du meinst, aber David war nicht immer so. Ich meine so, er deutete mit einem Kopfnicken zur Couch herüber - wir haben früher viel zusammen rum gehangen, sind zusammen Skateboard gefahren. Er stand mal auf Hardcore. Richtig krasses Zeug. Agnostic Front, Fugazi. Keine Ahnung, was passiert ist. Irgendwann wurde er zu diesem Yuppie-Arschloch, das er jetzt ist. Ich weiß nicht was ihn verändert hat - aber man kann einfach nicht mehr mit ihm reden. Ich meine, so wie früher...richtig reden“.
Sandra nickte und sah aus den Augenwinkeln, wie David von der Couch aufstand und sich in ihre Richtung bewegte. Er wirkte nicht betrunken, auf jeden Fall nicht so wie der Rest.
Er setzte sich direkt neben Sandra. Sie roch sein intensives Parfüm. Sandra ignorierte ihn.
David grinste und legte den Arm um ihre Hüfte. Sie spürte seine Hand, die an ihrer Seite herumnestelte. Sie schloss die Augen und zählte innerlich bis drei.
„Da gehst du also auch auf diese verdammte Schule...wie dein neuer Freund hier - Robin?“.
David tippte mit dem Zeigefinger in die Luft.
Sandra verzog ihr Gesicht zu einer ironischen Grimasse.
„Er ist nicht mein neuer Freund...“.
David lächelte süffisant zurück.
„Es sieht jedoch ganz danach aus!“.
„Dann solltest du besser genau hinsehen!“.
Sie sah ihm direkt in die Augen und löste sich aus seiner Umarmung.
„Hey, Baby !“.
David spielte erstaunt.
„Ich dachte, wir könnten jetzt eine Etage höher gehen…in mein Schlafzimmer!
„Nein, danke!“, sagte Sandra und winkte ab.
„Eine Braut wie du fehlt mir noch in meiner Sammlung…eine Braut mit Iro und Nietenhalsband!“. David lachte laut auf und schlug Robin gegen die Schulter.
„Was meinst du, Robby? Bringt es diese Punkerin ? Ist sie auch so hart im Bett? Ich würde es mir wünschen! Hast du sie schon getestet? “.
Sandra stand auf.
„Was bist du bloß für ein armseliger Wichser!“.
Sie zog das Wort genüsslich lang.
David runzelte kurz die Stirn und schwieg.
Dann stand auch er auf.
„Ich gebe dir Tausend Euro wenn du meinen Schwanz lutschst!“.
Er meinte es absolut ernst. Das erkannte sie an seiner Stimmlage.
David fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
„Was sagst du?“
David griff demonstrativ nach seiner Geldbörse.
Sandra schüttelte nur den Kopf.
„Fick dich...du bist sogar mehr als nur ein trauriger Wichser!“.
Er biss sich auf die Unterlippe und verharrte einen Moment. Seine perlweißen Schneidezähne schoben sich in das rosa Fleisch seiner Lippen.
„Du solltest besser aufpassen was du sagst!“, zischte er und riss sie plötzlich grob am Arm.
„Lass sofort meinen Arm los oder ich trete dir in deine verfickten Eier, du Bastard…“.
Sandra zitterte am ganzen Körper vor Wut.
David fixierte sie mit starrem Blick.
Dann ließ er einfach los und verließ den Raum.

Sie spürte Adrenalin durch ihren Körper jagen. Die Magensäure in ihrem Inneren brannte wie Feuer. Sandra wusste, was das bedeutete.
„Wo ist die beschissene Toilette, verdammt!“
Robin verstand sofort und griff ihr unter die Schulter. Mit einer wuchtigen Bewegung zog er sie hoch. Ihr Körper fühlte sich in seinen Händen wie Wachs an. Vorsichtig bugsierte er sie in Richtung Treppe. Er wusste, dass es mehrere Badezimmer in diesem Haus gab. Die Toiletten, die definitiv am nächsten lagen, waren die im Keller.
Sandra drohte bereits auf den ersten Stufen umzukippen. Robin steuerte mit seinem Gewicht dagegen und drückte sie sanft gegen das Geländer.
So steuerte er sie behutsam in Richtung Toilette.
Robin trat ohne Rücksicht auf Verluste die Türe zur Toilette auf. Dann machte er Licht.
Langsam ließ er Sandras steifen Körper auf einen Vorsprung der Badewanne gleiten.
„Danke, kotzen kann ich alleine...!“, sagte Sandra plötzlich schroff.
Er sah sie an.
Sie sah sehr hilflos und einsam aus.
Endlich hatte sie diesen unnatürlichen Panzer abgelegt.
„Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?“
„Nein, nichts ist in Ordnung! Fuck! Ich bin beschissen noch mal besoffen. Ich…ich werde jetzt kotzen, und dann…dann, Robin, lass uns hier verpissen, bitte! Keine Ahnung wohin. Lass uns irgendwo hin fahren, alles ist besser als diese verkackte Party bei diesem Idioten. Okay? Tust du mir diesen Gefallen?“
Sandra war erstaunt, wie klar sie ihre Gedanken noch formulieren konnte.
Robin nickte.
„Okay, Sandra. Ich warte draußen vor der Türe auf dich.
Er wartete eine Moment lang, ob sie etwas erwidern würde.
„Wenn du Hilfe brauchst, dann…schrei einfach, einverstanden?“
Sandra nickte und zwang sich zu einem Lächeln.
Robin drehte sich um und schloss die Türe.
Sandra krabbelte wie ein Säugling auf allen vieren zur Türe und verriegelte das Schloss.
Dann wurden ihre Knie schlagartig weich und sie stürzte mit letzter Kraft zur Toilette. Sie sank auf den Boden. Die Kacheln schlugen hart auf ihre Kniescheiben, doch das spürte sie nicht.
Sie umklammerte die Schüssel und erbrach sich. Dabei versuchte sie gar nicht erst, den weißen Marmor zu verschonen. Ihr Magen zog sich zusammen und pumpte den Inhalt in langen Strahlen aus ihr heraus. Solange bis sie den bitteren Geschmack von Galle auf ihrer Zunge schmecken konnte.
Vollkommen erschöpft sackte ihr dehydrierter Körper in sich zusammen. Speichelfäden verklebten ihren Mund. Das Erbrochene hatte die gesamte Toilette verschmiert und tropfte dickflüssig vom Sitz auf den Boden herab. Handtuchhalter, Spülkasten und die gekachelten Wände waren nicht verschont geblieben. Es war ihr beschissen noch mal egal. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie klemmte sich ein paar Haarsträhnen, die von ihrem ruinierten Mohawk herunterfielen hinter das Ohr.
Blut rauschte in ihren Ohren. Sandra wunderte sich wie sehr Kotzen einen auslaugen konnte.
Die Party dröhnte über ihr und war weiter in vollem Gange. Laute, ekstatische Schreie. Dumpfes Bollern, als stampfen alle gleichzeitig einen seltsam schrägen Takt. Sie blickte tief in das Spülbecken der Toilette. Das klare Wasser vermischte sich mit Erbrochenen. Etwa in derselben Geschwindigkeit wie sich Trinkpulver in einem Glas kaltem Wasser auflöst.
Auf der Oberfläche spiegelte sich das kalte Licht der Neonröhre wieder. Sie hörte ein unregelmäßiges Kratzen von außerhalb der Türe. Es klang, als ob ein kleines Kätzchen wieder in das warme Haus eingelassen werden möchte. Sie hatte keine Katzen bemerkt.
Angewidert vom bitteren Geschmack in ihren Mund spuckte sie noch einmal aus.
Atme regelmäßig...wiederholte sie wieder und wieder und spürte, wie die Luft allmählich das Würgegefühl vertrieb. Dann unternahm sie einen ersten Versuch aufzustehen.

Ihr Kopf drehte sich und ihre Knie gaben nach. Es war, als schlüge ihr jemand mit einem Baseballschläger unnachgiebig in die Kniekehlen. Sie bekam den Rand des Waschbeckens zu greifen und zog sich mit letzter Kraft an das Becken heran. Als sie in den hell beleuchteten Spiegel sah, erkannte sie sich nicht. Das Bild im Spiegel musste eindeutig jemand anders sein. Diese geröteten, blutunterlaufenen Augen, dieses Gesicht, aus dem jede Farbe gewichen war – es musste zu jemand anderem gehören. Sandra näherte sich dem Spiegel solange bis ihre Nasenspitze das Glas berührte. Dann wartete sie bis ihr Blick verschwamm und das Bild vollkommen verzerrte.
Dieses Gefühl hatte sie als Kind geliebt. Ihr Vater hatte ihr diesen Zyklopenblick beigebracht.
Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie für einen Moment an ihren Vater dachte.
Ein langgezogenes Scharren, das aus dem Gang vor der Toilette durch die Wand drang, riss sie aus diesen Gedanken. Sie verdrehte die Augen.
Was für eine verdammte Klette Robin doch ist!
Genervt presste sie ihren Rücken fest an die Wand und spürte das regelmäßige Muster der kalten Kacheln durch das T-Shirt. Langsam ließ sie ihren schmerzenden Körper auf den Boden gleiten. Dann begann sie unvermittelt zu weinen. In diesem Moment wurde ihr klar, das es alles nicht so einfach war wie sie gedacht hatte. Es war ihr nicht alles so egal, wie sie immer gedacht hatte.
Ihre Mutter, die wegen einem besser bezahlten Job Köln verlassen musste und der sie kommentarlos gefolgt war. Ihr Vater, der seine Familie wegen einer Affäre mit einer jüngeren Frau verlassen und sich seit letztem Sommer nicht mehr bei ihr gemeldet hatte.
Ihr Geburtstagsgeschenk hatte er vor der Türe ihres neuen Apartments abgelegt – ohne Grußkarte, ohne alles. Es war ein Buch, von dem er wahrscheinlich nicht einmal wusste, dass sie es niemals lesen würde. Sandras Antwort kam schnell. Sie grub im Vorgarten des Hauses, in das ihr Vater mit dieser jüngeren Frau eingezogen war ein großes Loch. Mitten in die penibel angelegten Blumenbeete. Dann schmiss sie das Buch hinterher, übergoss es mit Benzin und zündete es an.
Sie konnte seine Blicke förmlich spüren. Er blieb außer Reichweite hinter dem Schutz der verspiegelten Fenster – aber sie wusste, er war da.
Es hatte sich angefühlt, als sei sie für ihn bereits gestorben.
Damals war es Sandra wirklich egal gewesen.
Ein dumpfer Knall platzte mitten in ihre Gedanken.
„Verdammt, Robin...was ist los! Ich brauche noch einen Moment um mich zu erholen, okay?“.
Sandra versuchte erneut aufzustehen. Ihre Knie waren immer noch weich wie Pudding, aber schaffte es, halbwegs sicher auf den Beinen stehenzubleiben.
Ganz langsam ging sie auf die Türe zu.
Mit zittriger Hand drehte sie den Schlüssel im Schloss und zog die Türklinge nach unten.
Sofort drang ihr ein seltsam stechender Geruch entgegen. Das Licht im Flur war ausgegangen. Sie suchten den Lichtschalter neben der Tür und betätigte ihn. Außer einem hohl klingenden Klacken passierte nichts. Sandra trat in den Flur und stützte sich an der Wand ab.
Nach einigen Schritten trat sie in etwas Klebriges. Sie war sich sicher, dass da noch jemand ganz kräftig gekotzt hatte – und derjenige hatte es nicht bis auf die Toilette geschafft.
Das fühlte sich wie ein Erfolg an. Sie grinste amüsiert und trat noch einmal in die Kotze. Unter der dicken Sohle ihrer Doc Martens fühlte es sich wie der Überrest eines zerkohlten Marshmallow an.
Sie drückte erneut auf den Lichtschalter. Das leise Surren von Neonröhren erfüllte die Dunkelheit, einen Moment später flackerte spärliches Licht von der Decke. Einige Röhren versuchten mit einem zirpenden Geräusch anzuspringen, doch es gelang ihnen nicht. Der Flur wurde in ein fahles, halbgraues Licht getaucht. Sandra musste ihre Augen zusammenkneifen um die Umgebung erkennen zu können. Irgendjemand hatte die weißen Wände für Schmierereien verwendet.
Nach einigen Schritten stieg ihr wieder dieser seltsame Geruch in die Nase. Ein Geruch nach altem Metall, doch mit Sicherheit konnte sie es nicht sagen. Sie drehte sich um, warf einen Blick zurück auf die halb geöffnete Türe der Toilette und kam sich vor wie in einer verdammten Geisterbahn.
Wo war Robin abgeblieben? Zuerst nervte er sie die ganze Zeit und stand vor der Türe herum um ihr beim Kotzen zuzuhören – jetzt hatte er nichts Besseres zu tun als sich zu verpissen.
Es waren nur noch ein paar Schritte bis zur Treppe. Im Schein der letzten, kaputten Neonröhre lag ein großer Gegenstand, der wie ein zusammengetretenes Möbelstück aussah. Sandra lachte unwillkürlich auf. Was haben diese besoffenen Idioten hier bloß veranstaltet? Haben sich diese Spießerkids noch in echte Anarchos verwandelt!
Sie wollte das Möbelstück mit dem Fuß zur Seite schieben. Es knackte dumpf, als ihr Stiefel auf der Oberfläche auftraf. Der Gegenstand gab nach wie warme Buttermasse. Sandra blieb verwundert stehen. Irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen, doch sie bückte sich um den Gegenstand genauer zu untersuchen.
Sie wusste dass sie diesen Anblick niemals wieder vergessen können würde.

Nachdem sie erkannt hatte, dass es Robins zersplitterter Schädel war der dort im Halbdunkel vor ihr lag, schnürte sich ihre Kehle zu als würde sie jemand mit einem Gürtel würgen. Sie erkannte ihn an dem Anarchy-Ohrring. Es war das einzige, das von ihm übriggeblieben war. Alles andere war zermalmt. Knochen ragten wie Gräten aus der in Fetzen gerissenen Kopfhaut heraus. Hirnmasse war auf dem hellen Boden der Treppen verspritzt. Seltsamerweise blieb sie vollkommen ruhig.
Es sah nicht anders aus als im Fernsehen. Leichen, Leichenteile, zerrissene Körper, blutende Menschen. All das hatte sie tausendmal in irgendwelchen Reality-Sendungen gesehen.
Sie war erstaunt, wie abgestumpft sie tatsächlich war.
Dann setzten sich die Gedanken in ihrem Kopf rasend schnell zusammen. Egal, wer Robin das angetan hatte – es war ein psychopathischer Killer, der sie ebenfalls fertigmachen würde.
Sandra sammelte ihre Energie. Sie atmete noch einmal tief durch, dann rannte sie die Treppen hoch.

In der Anlage hakte eine CD. Simmm-prrrrr...Immer wieder, wie ein Echo. Der Geruch von schalem Alkohol strömte ihr entgegen. Sandra stürzte über die letzte Treppe und fiel auf den Boden.
Sofort rappelte sie sich wieder auf. Dann bemerkte sie es - sie war vollkommen alleine.
Das ganze Haus war leer. Keine Spur von anderen Partygästen. Sandra blieb geschockt stehen und sah sich noch einmal um. Da war niemand. Wie eine Flüssigkeit pumpte die Panik sich in ihren Körper. Dieser eigenartige Geruch stieg ihr wieder in die Nase.
Er war ganz nah. Sandra drehte sich um.
Dann sah sie den Schatten, der auf der Wand vor ihr immer größer wurde.

Sie hatte nichts Vergleichbares gesehen. Kein vergleichbares Monster.
Sein Schädel sah aus wie eine an beiden Enden zerdrückte Banane – Knochen, Sehnen, Muskeln - gefüllt mit weicher Hirnmasse, die in einem mit pulsierenden Adern durchzogenem Hautbeutel hingen. Schräge Schlitze, die ganz Pupille zu sein schienen, starrten sie bewegungslos an. Dort, wo sein Mund hätte sein sollen, ragte ein rostiges Metallgewinde aus einem fast rechteckigen Kiefer. Eine leuchtend gelbe und zähe Flüssigkeit tropfte daraus in langen Fäden auf den Boden.
Es wirkte wie ein einziger, massiver Klumpen aus Fleisch und Sehnen. Sein Körper leuchtete auf. Wie explodierende Glühwürmchen, dachte Sandra. Über diesen kleinen Explosionen zogen dunkle Schemen wie Fische in einem Aquarium. Sandra starrte gebannt auf das Wechselspiel von Explosionen und vorbeiziehenden Schemen.
Dann erkannte sie ihre Gesichter.

Im nächsten Moment durchdrang ein leises, mechanisches Gurren den Raum. Eine große Explosion zuckte durch den riesigen Körper. Die Leichen der Partygäste wurden in diesem Lichtblitz atomisiert. Sandra spürte wie sich die Muskeln in ihrem Kiefer zusammenzogen. Sie glaubte nichts von dem, was direkt vor ihren Augen passierte. Monster, die Menschen in ihren Körpern auflösen konnten, waren ganz klar ein Fall für die Twilight Zone. Auch der blutüberströmte Körper, der jetzt in ihr Blickfeld robbte, konnte nur eine Illusion sein. Doch dann erkannte sie den Partygeber. Den Sunny Boy mit den blonden Strähnen. Ein handtellergroßer Glassplitter steckte in seinem Kehlkopf. Der Splitter hatte den Hals in zwei auseinanderklaffende Hälften zerteilt, die wie ein künstlicher Mund aussahen.
Sie konnte direkt auf die bleiche Knochenstruktur sehen. Wie in ihrem Anatomiebuch.
Die Stimmbänder baumelten wie lose Schuhsenkel aus dem halbierten Kehlkopf. Die Szene wirkte absolut surreal, als wäre es ein Film noir, projiziert auf eine überlebensgroße Leinwand.
In Zeitlupe schleppte er sich durch sein eigenes Blut.
Sandra wollte schreien, doch aus ihrem geöffneten Mund kam nur Luft. Dann beugte sich das Ding über ihn. Leuchtend gelber Speichel floss aus der rostigen Metallröhre auf Davids Gesicht.
Sie wollte ihren Blick abwenden, doch es gelang ihr nicht. Hypnotisiert klebte sie an diesem Bild fest. Das Etwas erhob sich zu vollständiger Größe. Es drehte sich um und sah Sandra direkt in die Augen. Für einen Augenblick wirkte es fast vertraut. Sandra spürte schlagartig keine Angst mehr.
Als habe man ihr die Fähigkeit, Angst zu empfinden, wie ein elektrisches Bauteil einfach ausgebaut.
Das Monster gab einen dumpfen Grunzlaut von sich.
Dann umschlangen seine Klauen den Kopf mit den blonden Strähnen, die jetzt wie angeklebt aussahen.

Robert sah auf das blau beleuchtete Armaturenbrett seines nagelneuen Mercedes Benz SUV. Zielstrebig trat er dass Gaspedal durch und bog mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit in den Kieselweg ein, der zu eigentlichen Einfahrt führte. Schotter und Steine wurden durch die Luft geschleudert. Befriedigt stellte er fest, wie die Nadel des Tachometers unerbittlich stieg und das Vehikel zu zittern begann.
Er erkannte sofort, dass David eine Party gefeiert hatte. Der Morgen dämmerte bereits. Jemand hatte das Außenlicht der Veranda angelassen. Sein Sohn war in einem seltsamen Alter. Doch er konnte ihm vergeben. Robert hatte seine eigene Jugend als lästiger Anhang eines Geschäfte machenden Vaters in Bangkok verbracht. Er wusste, wie man feiert. Allerdings war er nicht ohne Grund an den Ort zurückgekehrt, an dem er seine Kindheit verlebt hatte. Es war für ihn ein Ort der Unbekümmertheit. In den üppigen Wäldern und den kernigen Gesichtern der Einwohner haftete nichts Böses. Keine Gefahr, die in den oft übersehenen Details lauerte. Er parkte den SUV direkt vor dem Haus. Die Eingangstüre war nur angelehnt. Amüsiert schüttelte er den Kopf. Ihn beschlich die leise Vorahnung, dass Dinge kaputtgegangen waren. Dinge, die sich jetzt für immer und ewig aus seinem Besitz verabschiedet hatten. Mit einem saugenden Geräusch schloss sich die Türe des Mercedes. Ihn beschlich ein seltsamer Gedanke: da standen knapp einhunderttausend Euro, verbaut in Metall, etlichen Kabelbäumen, Hybridchips und einem Herz aus vierhundert Pferdestärken. Irgendwann denkt man einfach nicht mehr über den Wert eines Gegenstandes nach. Er gehört einfach zum Alltag und wird selbstverständlich – und unverzichtbar.
Robert kniff seine Lippen zusammen und suchte in der Innentasche seines Jacketts nach den Zigaretten. Als er sie gefunden hatte steckte er sich eine an. Mit einem Seufzen lehnte er sich gegen die Veranda und sog den Rauch tief in seine Lungen. Der Wind wehte durch die Wipfel der Bäume. Er glich einem Summen, einem sich leise aufbauschendem Rauschen.
Entspannt legte er den Kopf in den Nacken, rauchte und hörte für einen Moment lang nur der Natur zu. Wie lange habe ich nicht mehr richtig Urlaub gemacht? Die innere Ruhe, die ihn einst ausgemacht hatte - sie war im abhanden gekommen. Er wusste nur zu gut, wo er sie gelassen hatte: In den dunklen Gängen der Rapid Labore.
Diese Gedanken verursachten ein unwillkürliches Schauern, das seinen ganzen Körper erfasste.
Er zog heftiger an seiner Zigarette.
Rapid.
Zwölf Stockwerke unter der Erde.
Hermetisch abgeriegelt wie ein Hochsicherheitstrakt.
Vier Wochen Schichten ohne einen Strahl Sonnenlicht. Arbeiten, Essen, Schlafen in voll ausstaffierten Apartments, in denen jeder nur erdenkliche Luxus verfügbar ist.
Dass irgendetwas nicht stimmte, wollte er sich von Anfang an nicht eingestehen.
Er fühlte sich nur ein bisschen wie ein Gefangener.
Überall Kameras, die alles mit ihren stummen Augen beobachteten.

Robin sah dem Rauch seiner Zigarette nach. Ständig beobachtet. Nach den ersten Monaten hatte sich das Puzzle zusammengesetzt. Erstens war die Fluktuation des Personals immens: Psychosen, Depressionen, Suizide. Dann die Projekte, die ihm sein Laborleiter anvertraute. Projekte.
Er experimentierte mit biomechanischem Gewebe an speziell gezüchteten knochenlosen Föten.
Er untersuchte die Gencodes von handverlesenen siamesischen Zwillingen und versuchte sie dann mit radioaktiven Medikamenten zu verändern. Selbst erschaffene Freaks.
Robin schüttelte den Kopf und schnippte seine Zigarette auf den weißen Kies. Er musste diese Gedanken loswerden. Damit konnte niemand leben. Mit den Fingerspitzen massierte er sich die Schläfen. Freaks, die für das Militär in Serie gehen sollten.
Robin hatte die Schmerzrezeption laborgezüchteter Mutanten in zermürbend langen Testbatterien erprobt. Noch immer sah er es genau vor sich: Projektile, die Fleisch und Organe zerfetzten.
Klingen, die sich durch verändertes Gewebe schnitten. Markerschütternde Schreie, die von den nackten Wänden der ewig dunklen Labore widerhallten und die in jedem Gang des Labors zu hören waren. Nur noch übertönt durch das dumpfe Geräusch mechanischer Schläge.
Es waren hilflose Mutanten in den Klauen von riesigen Maschinen aus Metall und Stahl.
Das Erschütternde war, dass die Maschinen zu nichts anderem erfunden worden waren, als diesen wehrlosen Kreaturen Schmerzen zuzufügen.
In diesem Moment sah er das Bild, das in immer noch in seinen Träumen verfolgte. Wie er seine Hand an die kalte Wand aus Sicherheitsglas presste und in ihre Augen sah. Es war das einzige, das sich in ihren unbeweglichen Körper noch bewegen konnte.
Nach nur sechs Monaten stieg er wieder aus. Er war während dieser Zeit regelmäßig nachts schweißgebadet aufgewacht.
Kein Geld konnte diese Schuldgefühle aufwiegen. Die Schuld wurde zu einem unsichtbaren Ballast.

Die Außenwelt erfuhr nicht den Hauch der Wahrheit. Robin wusste, was passiert, wenn das Personal sein Schweigen brach. Ein Kollege hatte ein einziges Mal ein winziges Detail eines Experiments am Küchentisch erwähnt. Zwei Tage später verschwand sein dreizehnjähriger Sohn.
Er kehrte erst nach fünf Tage wieder. An einer Hand fehlten ihm zwei Finger. Seit dieser Zeit hatte der Junge kaum ein Wort mehr gesprochen.
Kurze Zeit später erhängte sich der Kollege in seinem Apartment.
Jeder wusste, wie weit der mächtige Arm des Unternehmens reichte.
Doch Robin hatte es einfach nicht mehr ertragen. Deswegen war er hierher zurück gekehrt.
Zwei Jahre waren seitdem vergangen, und nichts war passiert. Er war sich immer noch nicht sicher, ob seine Schuld jemals gesühnt werden würde.
Der Wind wehte immer noch durch die Baumwipfel. Die Nacht würde sternenklar werden.
Er räusperte sich. Dann drückte er seinen steif gewordenen Rücken durch, solange, bis die Wirbel knackten. Langsam ging er auf die angelehnte Haustüre zu. Vor seinem inneren Auge sah er bereits die verschmutzte Wohnung, das Chaos, dass angetrunkene Teenager verursacht hatten.
Er atmete tief durch und zog an dem Türgriff.
Es riecht seltsam, dachte er, dann streifte er seine italienischen Lederslipper ab und trat ein.

Marina hatte die Kurznachricht auf der Autobahn erhalten. Robin hatte einen späteren Flug gebucht. Der Kongress in Berlin. Er würde später kommen. Manchmal hegte Marina den Verdacht, er würde sie betrügen. Ihr Mann hatte die letzte Zeit kaum noch mit ihr gesprochen. Er hatte sich sehr verändert. Vor drei Jahren war er mit der klaren Absicht zu Rapid gegangen, Karriere als Biochemiker zu machen, doch schon bald zwang er sich regelrecht zur Arbeit. Sie hatte nie verstanden, warum er sich selbst solange gequält hatte. Sechs Monate lang diese harten Schichten, in denen er kaum seine Familie zu Gesicht bekam. Was wollte er sich damit beweisen. Dass er ein harter Typ war den nichts so schnell umhaut? Sie hatte die Ahnung, dass innerhalb des Labors grauenvolle Dinge geschahen. Dinge, die ihrem Ehemann Alpträume bescherten, die ihn ständig nervös über die Schulter blicken ließen. Doch er durfte ihr nichts erzählen.
Sie hatte den Kopf geschüttelt und gelacht. Danach hatte sie sich vorgeworfen, ihn nicht ernst genug zu nehmen.
Für heute hatte sie sich vorgenommen, ihren Mann zu überraschen. Sie war noch kurz im örtlichen Supermarkt gewesen und hatte ein paar Kleinigkeiten eingekauft. Eine Flasche Rotwein, Anti-Pasti, eine orientalisches Dessert.
Sie freute sich ein nettes Abendessen und vielleicht ein wenig leidenschaftlichen Sex, den es in der letzten Zeit viel zu wenig gegeben hatte.

Robins bluttriefender Schädel lag wie eine Trophäe auf dem gläsernen Wohnzimmertisch.
Ihre erste Reaktion war ein unbeholfenes Grinsen. Er sah so anders aus: die Haare waren ganz grau, die Haut aschfahl – dort wo seine wasserblauen Augen gewesen waren, klafften dunkle Löcher aus denen eine klare Flüssigkeit troff. Sie stieß spontan einen hellen Schrei aus. Einen einzigen.
Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund und erbrach sich.
Alles begann sich zu drehen. Alles wurde zu einer verzerrten Rotation in ihrem Kopf. Marina wollte Luft holen, doch ihre Kehle war abgeschnürt. Ihr schmaler Oberkörper begann unkontrolliert zu zucken. Die großen Augen rollten in ihren Höhlen und brannten das Bild des Grauens tief in das Bewusstsein.
Der nackte Körper ihres Mannes lag gehäutet zu ihren Füssen.

Ihr Verstand wollte es nicht glauben, aber sie wusste es. Sie wusste, dass diese tote, fleischige Kreatur auf dem Fußboden ihr Ehemann war. Instinktiv ging sie einen Schritt zurück und stolperte.
Mit rudernden Armbewegungen versuchte sie ihr Gleichgewicht wiederherzustellen. Es gelang ihr nicht. Marina stürzte und blieb auf dem Rücken liegen. Ein stechender Schmerz pulsierte durch ihren Kopf, als sie versuchte, sich langsam wieder aufzurichten.
Sie zwang sich langsam und tief zu atmen. Ein schwerer Geruch lag wie dicht aufgewirbelter Staub in der Luft. Sie richtete sich wieder auf. Als sie auf halber Höhe angelangt war, sah sie es.
Der Lichtreflex der Deckenlampe zauberte einen grotesken Heiligenschein auf die Szene.
Marina erkannte ihn an den blondierten Haarsträhnen, die wirr, wie blutbefleckte Sonnenstrahlen aus dem aufgeplatzten Schädel ihres Sohnes herausragten.
Das letzte, was sie sah war der wuchtige Siegelring ihres Vaters, der immer noch an seinem rechten Ringfinger steckte.
Dann verlor sie das Bewusstsein.

Brendel drückte seine Zigarette in dem schweren Aschenbecher aus Bleiglas auf seinem Schreibtisch aus. Er rieb sich die Schläfen. Dann nahm er die Füße vom Schreibtisch und sah Peters fragend an. Peters verstand die Aufforderung.
„Alles ist erledigt...leider ließen sich einige Kollateralschäden nicht vermeiden...der Sohn feierte eine Party!“.
Brendel nickte. Er wirkte äußerlich völlig ruhig.
„Und wo ist es?“.
Peters zog einen Stuhl herbei und setzte sich.
„Es ist wieder im Testlabor...“, er stockte, legte kurz die Stirn in Falten,“ und es hat etwas mitgebracht…“.
Brendel knackte mit den Fingern und sah ihn ausdruckslos an.
„Etwas mitgebracht ?“.
Peters nickte.
„Eine junge Frau...sie war bewusstlos als wir ihn an der Markierung aufgegriffen haben...sie ist die einzige Person, die er nicht getötet hat...“.
„Wo ist sie jetzt?“.
Peters grinste. Sein Gesicht glich dem einer Ratte.
„Sie ist im C-Flügel...“.
Brendel nickte.
„Wir warten auf weitere Instruktionen!“ sagte er und winkte müde mit der Hand.
Das war das Zeichen für Peters.
Er ließ seinen Chef alleine.

Sandra konnte ihren Kiefer nicht bewegen. Metallstäbe klemmten ihn ein und rissen ihn auf, wie bei einem wilden Tier. Nadelfeine Widerhaken zogen ihre Augenlider auseinander. Tränenflüssigkeit lief in salzigen Rinnsalen ihre Wangen herab. Sie spürte auf beiden Seiten ihres Beckens einen stechenden Schmerz. Es waren Metallstäbe, die ihren Körper durchbohrten und sie in der Zentrifuge gefangen hielten. Finger und Zehennägel hatte man ihr bereits ausgerissen.
Überall unter ihrer Haut glänzten schwarze Sensoren, die man ihr implantiert hatte.
Sandra schmeckte Blut aus Rissen in ihrem eigenen Fleisch.
Sie wusste nicht, wo sie war und was mit ihr geschehen würde.
Sie hatte Angst.
Dann spürte sie ein dumpfes Saugen an ihrem unteren Rücken. An dem sie nichts ändern konnte, dem sie ausgeliefert war.
Sie wollte nach ihrem Vater rufen, doch die Stäbe in ihrem Kiefer ließen ihr gerade genug Platz zu einem flachen Atmen.

Brendel legte die Hand auf das kalte Glas der verspiegelten Scheibe. Er schürzte seine Lippen und atmete tief. Christina war in demselben Alter wie dieses Mädchen, dass in der Laborzentrifuge hing und deren Rückenmark langsam abgesaugt wurde. Dieses Mädchen würde nie eine Highschool besuchen. Sie würde nie erfahren, wie es sich anfühlt, seine eigenen Kinder aufwachsen zu sehen.
Er kratzte sich am Kopf. Dieses junge Mädchen würde Schmerzen erleiden. Schmerzen, die sie nicht für möglich gehalten hätte in ihrem kurzen Leben. Von denen sie nicht einmal geträumt hatte. Ihre Augen wurden langsam trübe. Ihr Blick matt. Er wusste, was das bedeutete.
Dann sah er auf seine neue Uhr, ein Geschenk seiner Frau zum zwanzigsten Hochzeitstag. Christina hatte ein wichtiges Hockey-Spiel um sechs Uhr. Er würde sich beeilen müssen - die Autobahnen waren um diese Zeit verstopft. Rush hour. Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und drückte sie aus.

Sein Mantel hing ordnungsgemäß an der Garderobe. Er streifte ihn über und nickte der Sekretärin zu, die hinter dem großen Schreibtisch aus Eiche saß und etwas in den Computer tippte.
Die Luft schmeckte ein wenig salzig, als er auf dem Parkplatz stand.
Ein paar Wolken füllten das kräftige Blau des Himmels.
Dann stieg er in den Wagen und startete den Motor.

 

Woah, also die Geschichte schafft es, dass man nach den ersten fünf Absätzen nicht nur der Protagonistin einen schmerzvollen Tod wünscht, sondern eigentlich allem Personal der Geschichte.
Außerdem denkt man darüber nach, was das für Figuren sind, die sich so wahnsinnig danach sehnen, in der Dawsons Creek-Variante von Amerika zu leben. Also im ersten Absatz sind irgendwie 20 Wörter, die englisch oder etwas englischähnliches sind.

Und als man dann grade in dem Selbsthass und allgemeinen Hass der guten Sandra versunken ist, kommt eine gute Szene. Und es ist nicht das Kotzen und das "Ich sage, ich rauche auch nur noch, saufe aber trotzdem", sondern es ist der Zyklopenblick im Spiegel. Das ist eine starke Szene, bei der man das Gefühl hat ,die Person ist echt. Die lebt irgendwie.
Aber das ganze Drumherum halt. Oh mei. Tausend Euro (Dollar will man da hören) für einen Blowjob und warum? Weil er noch keine Punkerin hatte. Aha. Naja, der Typ scheint auch nicht mehr alle beisammen zu haben, wenn er da in einem Resident-Evil-Labor ausgewählte siamesische Zwillinge analysiert und sich denkt: "Oho, da könnte was nicht ganz in Ordnung sein" - Jaaaaaaa, klar.

Und wieso unter einer Landvilla irgendwo auf dem Land - wenn ich das richtig verstanden habe - nun ein 12 stöckiges Untergrundlabor ist mit wahrscheinlich aberhunderten Arbeitskräften - die ja auch täglich irgendwie dahin kommen müssen ... ich versteh's nicht, es ist mir auch herzlich egal, das ist auch handwerklich nicht gut gemacht, die entscheidenden Informationen in 3 verschachtelte Rückblick-Blöcke zu packen von Perspektivträgern erzählt, die entweder Ärsche und tot sind oder bis dahin noch gar nicht eingeführt worden waren (denn die Exposition ging dafür drauf, oberflächlich das Psychogramm einer Frau zu zeichnen, die für das Verständnis des Plots nicht die geringste Rolle spielt)

Also da hapert's einfach auch an der Struktur. Keine Rückblicke, sondern erzählen. Perspektivträger vorher schon einführen. Mal versuchen, "Menschen" zu zeichnen und nicht elende Klappschablonen, denen die Tinte tröpfchenweise durch die Adern fließt. Und dann muss man sich fragen: Muss man wirklich Resident Evil in dieser Version haben? Ohne Actionszenen, sondern nur: Oh mein Gott, da sind ja alle tot.
Also ein Film wie Resident Evil hat ja durchaus seine Berechtigung. Er ist gruselig, da gibt's Szenen, wo man nur schwer hinschauen kann und er zeigt auch Menschen unter Extremsituationen. Die Fahrstuhlszene, die den Plot auch keinen Jota voranbringt, ist für sich genommen ganz großartig. Ehm, okay, das ist jetzt auch wurscht, also die Geschichte hier ist ganz schlimm. Da gibt's auch wenig Positves darüber zu sagen, nur sowas wie: Relativ fehlerfrei und diese Zyklopenszene. Nichtmal den Mut-Punkt nimmt du vollends mit. Zwar wird durchaus mal von Schwanzlutschen gesprochen, aber um die Morde wird sich gedrückt in diesen unseeligen "Alle sind tot, Oh mein Gott"-Rückschauen.

Okay, das war jetzt ein Veriss, das ist nie angenehm, aber ... herrje, die Geschichte war's auch nicht
Quinn

 

Hallo Quinn!
Mit dem Verriss, nun ja, so ist das halt manchmal. Was soll ich sagen! Das hat auch nichts mit angenehm zu tun, du bist ja nicht der Nabel der Welt, oder? ;-)
Ich werde mich schon nicht umbringen, haha!
Du hast natürlich Recht - die Geschichte kommt irgendwie nicht ans laufen. Allerdings hast du wohl einiges nicht richtig verstanden. Der Typ auf der Party ist der Sohn des Laboranten. Die Szenen, in denen ich Gewalt explizit darstellen könnte, habe ich bewußt ausgelassen, weil ich keinen 08/15 Horrorschinken schreiben wollte. Und das Labor ist auch nicht unter der Landvilla. Aber, das ist dir wahrscheinlich sowieso egal.

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diese Geschichte zu analysieren, auch wenn du sie "verrissen" hast...besser als im Mittelmaß zu versinken!

grüße
yukio

 

Wenn das Labor nicht unter der Landvilla ist, wie zur Hölle kommt dann das Killer-Monster da hin? :)

 

Hmmm...es ist dort abgesetzt worden, um den Vater des Typen, der die Party gibt, umzubringen - wegen Mitwisserschaft. Brendel, der Leiter aus dem Labor, sagt im letzten Absatz auch noch, wie sie das "Experiment" an der geplanten Stelle wieder aufnehmen und das es etwas mitgebracht hat...ist das so unklar geschrieben oder hast du es vielleicht nicht richtig gelesen ;-)

 

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