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Nicht immer.
Nicht immer
Mascha stand in der letzten Reihe. Seit Wochen hatte sie diesen Knödel im Hals, von dem sie wusste, dass sie ihn irgendwann herausheulen musste. Aber auch jetzt, während die Kinder vorne sangen, hielt sie die Tränen tapfer zurück. Wanja, ihrem Sohn zuliebe.
»Lasst uns froh und munter sein
und uns recht von Herzen freun!
Lustig, lustig tralalalala!
Bald ist Nikolausabend da,
bald ist Nikolausabend da!
Bald ist …«
Immer näher rücken die Tage, was mach ich bloß? Wenn mir nicht bald etwas einfällt, irgendeine Lösung muss es doch geben …
»… lustig tralalalala!
Bald ist Nikolausabend da,
bald ist Niklausabend da!
Dann stell ich den Teller auf,
Niklaus legt gewiss was drauf!
Lustig …«
Was soll er nur drauf legen? Oh Gott, hilf mir! Mein Sohn soll doch hier so leben können, wie alle anderen Kinder … dazugehören. Er hat es doch nicht verdient, bestraft zu werden, der Einzige zu sein, zu dem kein Christkind kommt! Er …
»Wenn ich schlaf´, dann träume ich:
Jetzt bringt Niklaus was für mich!
Lustig, lustig tralalalala! …«
Schokolade, Mandarinen, Nüsse für den Nikolaus werde ich mir noch leisten können, aber wenn alle Kinder dann erzählen, was ihnen das Christkind gebracht hat …? Dann ist er wieder der Einzige, der kein besonderes Geschenk bekommen hat, genauso wie schon zu Ostern: In der Nacht hab ich die Eier gekocht und gefärbt, habe auf jedes einen der beigepackten Aufkleber gedrückt, und aus Pappe habe ich zwei Osterhasen ausgeschnitten und bemalt, einen von vorne, einen von hinten, und dazwischen eine Tafel Schokolade gesteckt. Das war sein Schokoladen-Osterhase, und er hat ihn sich lange aufgehoben … Aber ich weiß auch noch genau, wie er vom Kindergarten mit gesenktem Kopf nach Hause kam und glaubte, er sei nicht brav genug gewesen … Und jetzt hat er sich so angestrengt und ich habe noch immer kein Geld, keine richtige Arbeit, keine Alimente. Wie soll ich das nur alles schaffen?
»… rieselt der Schnee,
still und starr liegt der See,
weihnachtlich glänzet der Wald;
Freue dich, s’Christkind kommt bald!«
Die Zeit vergeht wie im Flug, bald schon ist es soweit …
»… ist’s warm,
still schweigt Kummer und Harm.
Sorge des Lebens verhallt,
freue …«
Wie soll sie nur verhallen? Gerade jetzt spür ich sie doch am allergrößten …
»… Nacht,
Chor der Engel erwacht.
Hör nur, wie lieblich es schallt,
freue dich, ’s Christkind kommt bald!«
Ja, wir Erwachsenen haben dafür zu sorgen, dass dieses Märchen wahr wird. Wo seid Ihr denn, Ihr Engel? Mit Nichts stehen wir beide da! Aber die Politik verlangt Anpassung an die Kultur. Wie, darüber machen sich die Herren ja keine Gedanken …
Wanja kam zu seiner Mama gelaufen und fiel ihr um den Hals. »Na, haben wir schön gesungen?«
»Super, mein Schatz! Ganz toll hast du das gemacht!« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Vorigen Februar sind sie in dieses Land gekommen, und Wanja sollte sich schnell mithilfe des Kindergartens an hier übliche Sitten und Bräuche gewöhnen. Und natürlich Deutsch erlernen. Er sollte kein Außenseiter sein, sondern sich integrieren. Das Gesetz verlangte das. Seine Mutter unternahm alle Anstrengungen, ging in die Wohnungen anderer Menschen putzen, in der Nacht machte sie ein Lokal sauber, nach der Sperrstunde, wenn Wanja fest schlief. Immer hatte sie Angst, es könnte ihm eines Tages etwas passieren, während sie arbeitet. All die kleinen Geldbeträge brauchte sie aber, um sich und Wanja das nackte Leben zu finanzieren. Die Miete war teuer und die Stromrechnung hoch. Mascha konnte es sich nicht leisten, eine ordentliche Heizung einbauen zu lassen, deshalb hielt sie die Wohnung mit einem elektrischen Schnellheizer auf siebzehn Grad. Nur, wenn sie Wanja badete, heizte sie etwas mehr ein. Ihr machte das ja nichts aus, für sie war es warm. Schwanger flüchtete sie aus der Kälte Sibiriens, nachdem ihr Mann als Helfer bei einer Rettungsaktion gestorben war. Sie verbrachte, unterwegs zu ihrem eigentlichen Ziel, zwei Jahre in Polen, da die Wehen zu früh einsetzten.
Nun war sie endlich hier und hatte erneut Kummer und Sorgen. So gern wollte sie ihrem Sohn all das bieten, was auch den anderen Kindern die Freude aus den Augen strahlen ließ. Sie konnte es nicht mehr am Essen einsparen, da sie schon mehr als nur billig kochte. Auch für Kleidung gab sie keinen Groschen zuviel aus. Nur die Unterwäsche für Wanja kaufte sie neu, da es davon in Second-Hand-Läden kaum etwas gibt. Und sie flickte und nähte, was das Zeug hielt.
»Mama, zu dir kommt doch auch das Christkind? Du bist doch auch immer brav, oder?«
»Ach, mein Schatz, weißt du, das Christkind kommt immer nur zu euch Kindern, sonst hätte es viel zu viel zu tun.«
»Aber zu den Eltern von Klara, Daniel und Christoph kommt es auch!«
»Das glaub ich nicht, Wanja, die schwindeln ganz bestimmt.«
Soll ich ihm den Glauben, den sie ihm im Kindergarten beigebracht haben, wieder nehmen? Soll ich ihm die Wahrheit sagen, ihm die Träume zerstören? Er soll doch glücklich werden …
Am zwanzigsten Dezember hielt sie es nicht mehr aus. Sie ging in ein Spielwarengeschäft, suchte erst herum und fand dann, was das Christkind ihrem Sohn bringen sollte: ein Lego-Polizeiauto und ein Schwarzer-Peter-Spiel. Beides waren kleine Packungen, die in ihren Manteltaschen Platz hatten. Eine links, eine rechts.
Du sollst nicht glauben, dass du schlimm warst, du hättest dir noch viel mehr verdient …
Dann sah sie sich noch kurz im Geschäft um, …
Was du alles aus diesen vielen bunten Steinen bauen könntest, mein Liebling …
… und ging zugleich mit einer schick gekleideten, älteren Dame durch die Tür hinaus.
Hinter ihr erklang schrill die Melodie der Sirene und sofort wurde sie von Passanten aufgehalten. Natürlich tippte man sofort auf sie. Die alte Frau konnte ungehindert weitergehen, während Mascha in das Geschäft zurückgeholt wurde. Die Kassierin schaute in ihre Tasche und sie sollte die Manteltaschen nach außen wenden …
Der Besitzer des Geschäftes kam und zitierte sie in sein Büro, wo er zum Telefon griff und die Nummer der Polizei wählte. Während des Wartens ließ er sie in Ruhe und besprach am Telefon mit seiner Frau die Einkaufsliste für die Feiertage. Maschas Gedanken schauten durch einen Tunnel aus Angst und Verzweiflung abwechselnd vom Donauturm hinunter, von der Reichsbrücke in die Donau, sie sah sich als Straßenbelag auf der Autobahn und stellte sich vor, wie sie ihr großes Küchenmesser in sich rammte. Wie eine Versagerin fühlte sie sich, durch die alles immer nur schlimmer wurde.
Wenn ich nicht mehr bin, kommt Wanja zu Pflegeeltern, dann geht es ihm gut. Er soll es gut haben im Leben.
Der Beamte nahm ihre Personaldaten auf und fragte sie beiläufig: »Wieso haben’s denn das gemacht?«
Eine derart ausführliche Antwort, während der Mascha zwei Packungen Taschentücher vollheulte, hatte sich der Beamte nicht erwartet. Sie erzählte ihm ganz genau, warum sie das gemacht hatte. Und auch der Geschäftsbesitzer hörte nun aufmerksam zu. Als sie fertig war, knisterte die Stille im Raum.
Der Polizist fasste sich als erster wieder, zuckte mit den Händen, in denen er Stift und Block bereit hielt, und öffnete den Mund zum Reden. Da stand der Geschäftsführer auf, ging zu Mascha, machte hilflose Anstalten, seine Hände auf ihren Kopf zu legen, platzierte sie dann aber doch neben ihr auf dem Tisch.
»Herr Inspektor, was soll ich sagen … also … weil doch Weihnachten ist: Ich ziehe meine Anzeige zurück. Hier hat niemand etwas gestohlen … es war ein Fehlalarm … Wollen Sie einen Kaffee?« Er wandte sich zu Mascha. »Und Sie lassen sich von der Kassierin ein Sackerl geben, in den Manteltaschen trägt man doch keine Weihnachtsgeschenke nach Hause … Ich wünsche Ihnen ein schönes Fest!«
»Oh Herr …« Mascha warf sich, von ihrer tonnenschweren Last befreit, vor ihm auf die Knie und küsste ihm die Hände. »Ich danke Ihnen! Danke! Ich wünsche Ihnen alles Glück auf Erden!«
Der Geschäftsinhaber bedeutete ihr, wieder aufzustehen. »Ist ja schon gut, ich hab es doch gern getan. Und jetzt tragen Sie das mal schön nach Hause, und verstecken Sie es gut bis Weihnachten!«
Am Nachhauseweg fühlte sich Mascha seltsam, so seltsam, wie man sich fühlt, wenn man von einer solch schweren Last befreit wurde. Und irgendwie fing sie doch ein ganz kleines bisschen an, ans Christkind zu glauben.
Als der Besitzer des Spielzeuggeschäftes am zweiundzwanzigsten Dezember auch noch mit einem Korb voller Lebensmittel vor der Türe stand und sagte: »Eigentlich brauchen wir noch jemanden, der unser Geschäft putzt. Bisher machten das immer die Verkäuferinnen nebenbei und unter Murren mit. Aber es wäre wirklich Arbeit genug, dass ich jemanden extra dafür anstelle«, da war sie sich ganz sicher:
Es gibt ein Christkind, aber es wohnt nicht irgendwo im Himmel …