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Nummer sieben
„Ich werde Vater und weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“ Theo sah seinen Vater erwartungsvoll an, fast so, als hätte er es mit einem Orakel zu tun, vom dem er sich Erleuchtung versprach. Der ließ sich durch die Neuigkeit jedoch nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen, saß weiterhin bequem in seinem Sessel und versuchte, eine Ananas mit einem Brotmesser zu schneiden. Der klare Fruchtsaft lief ihm bereits über die Hände, doch er war sich seiner Sache sicher und verspürte in seiner bierbäuchigen Gemütlichkeit nicht die geringste Not, ein geeigneteres Messer aus der Küche zu holen. „Möchtest du dir nicht die Hände waschen?“, fragte Theo. „Das geht schon, danke“, versetzte sein Vater, ohne auch nur aufzuschauen. „Hörst du mir überhaupt zu?“ Nun blickte der Angesprochene erstmals auf. „Klar, du wirst Vater.“ Die beiden sahen sich eine Weile an, dann widmete sich der Alte wieder der schwierigen Aufgabe, das nasse Fruchtfleisch in mundgerechte Stücke zu schneiden. „Ist diese Nachricht so alltäglich für dich, dass du sie völlig ungerührt hinnehmen kannst?“ Herausfordernd schaute Theo seinen alten Herrn an, so als wollte er ihn zum Aufblicken zwingen. Doch der ließ sich auf diese kleine Provokation nicht ein. Er überlegte kurz, um etwas zu sagen, was ein weiser Vater vielleicht sagen würde. Doch er fand in seinem Gehirn nichts, das der herbeigesehnten Tiefgründigkeit auch nur nahegekommen wäre. Außerdem erforderte das Herumwerkeln an der tropfnassen Ananas einfach zu viel Aufmerksamkeit.
„Was genau ist dein Problem?“, fragte der immer noch ungerührt Sitzende schließlich. „Als ich das erste Mal Vater wurde, war ich 18 Jahre alt. Es passierte einfach. Hätte ich ohne deine große Halbschwester entspannter gelebt? Auf jeden Fall. Doch irgendwann kroch sie aus dem Bauch, schrie, und was soll ich sagen, meine damalige Freundin und ich gewöhnten uns schnell an das kleine strampelnde Etwas. Dir wird es nicht anders ergehen. So ist das Leben.“ Theo wunderte sich über die Leichtfertigkeit, mit der sein Vater über das Thema sprach. Zwar fühlte er sich in seinen Bedenken nicht ernst genommen, andererseits beruhigte ihn die unerschütterliche Zuversicht in den Worten seines Vaters, auf die er insgeheim gehofft hatte. „Außerdem bist du heute älter als ich damals. 24 – das ist kein schlechtes Alter für die Vaterschaft.“
„Papa, ich bin 22 und habe bis vor wenigen Wochen noch nie ernsthaft über das Thema nachgedacht. Ich finde die Vorstellung seltsam, dass da draußen bald jemand herumkrabbeln und später laufen wird, zu dem ich in so einer eigenartig nahen Beziehung stehe. Jemand, für den ich immer eine ganz besondere Person sein werde. Mich verstört dieser Gedanke.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest“, sagte der Vater lachend, legte seine Hand auf die Schulter seines Sohnes und steckte ihm mit der anderen ein würfelförmig geschnittenes Stück Ananas in den Mund.
Als Theo später in seinem Bett lag, ging ihm durch den Kopf, wie ungeheuer oberflächlich das Gespräch mit seinem Vater verlaufen war, dessen fröhliches Unverständnis Theos Redebedürfnis wie einen Fleck weggewischt hatte. Das vielleicht wichtigste Detail hatte er ihm nicht offenbaren können: Er und Slava waren kein Paar, sondern Freunde. Ein gemeinsames Kind würde ihre Freundschaft nicht verändern, hatte Theo ihr mehrmals gesagt, bis sie es schließlich glaubte. Slava hatte einfach Lust auf Nachwuchs und Theo erschien ihr als der geeignete Kandidat für diesen Auftrag. Was sie ihm jedoch nicht gesagt hatte war, dass er unter ihren Favoriten nur auf Nummer sieben rangierte. Ihr First Pick wäre ihr ehemaliger Kommilitone Charly gewesen, der sich jedoch als objektophil herausstellte. Da Slava leider nicht die funktionale Beschaffenheit einer Bohrmaschine aufwies, hatte sie keine Chance bei dem süßen Olympioniken aus dem Schwimmbecken. Die anderen Jungs wären für Spaß offen gewesen, jedoch nicht für seine Konsequenzen.
„Ein >Ich will ein Kind von dir< geht doch viel tiefer als ein >Ich liebe dich<, findest du nicht? Es ist um einiges folgenschwerer.“ Es schmeichelte Theo, dass Slava ausgerechnet ihn als künftigen Vater ihres Kindes auserkoren hatte. Doch genau solche Aussagen waren es, die sie nachdenklich werden ließen. War es eine gute Idee gewesen, sich ausgerechnet von Theo schwängern zu lassen? Für ihn sprach jedoch, dass er es nicht darauf angelegt hatte, sie in lange Gespräche zu verwickeln und auf Safer Sex herunterzuhandeln. Er fragte nicht, warum, sondern nur, wann – das gefiel ihr. Seine virile Lust am Zeugen blieb jedoch nicht lange vorherrschend.
„Ich habe vorhin Papa erzählt, dass ich Vater werde.“
„Wieso hast du ihm davon erzählt? Henriette und ich werden die Mütter des Kindes sein. Ich habe dir doch versprochen, dass wir dich nicht in die Sache hineinziehen werden.“
„Ist das realistisch? Ich werde immer daran denken müssen, wenn ich den Knirps zu Gesicht bekomme. Hörst du, immer.“
„Wieso musst du das? Wer zwingt dich dazu? Stell dir einfach vor, es wäre das Kind eines anderen. Wir haben doch ausgemacht, dass alles zwischen uns so bleibt wie bisher.“
Immer mehr wurde Theo bewusst, wie sehr er sich in die „Ich will ein Kind von dir“-Fantasie hatte einwickeln lassen. Doch Slava trug keine Schuld an dem Streichelbedürfnis seines männlichen Egos. Langsam dämmerte ihm, dass er für sie vor allem eines war: ein Mittel zum Zweck. Ein Mann, der interessant genug war, um sich von ihm schwängern zu lassen, der aber auch hoffentlich über ausreichend Selbstreflexion verfügte, um sich darauf nicht allzu viel einzubilden. Immerhin wollte Slava das glauben. Genauso wie Henriette, die dieser unkomplizierten Erfüllung ihres Kinderwunschs sonst wohl kaum zugestimmt hätte. „Theo ist ein nasses Holz, da können die Funken fliegen, wie sie wollen“, hatte Slava Henriette mit größtem Nachdruck versichert, vermutlich auch, um auch ihre eigenen Bedenken aus der Welt zu räumen.
Slava gab sich dem fordernden Rhythmus des Mannes hin, den sie ihrer Freundin gegenüber als bloße Spritzdüse bezeichnet hatte. Immer wieder hatte sie sich eingeredet, dass sie nie mehr von Theo wollen würde, doch mit jedem seiner tiefen Stöße wurde ihr bewusster, wie wenig sie ihn eigentlich kannte. Noch wenige Stunden zuvor hatte sie ihm noch geschrieben, dass es wegen der Bindungshormone keine so gute Idee sei, hinterher noch lange zu kuscheln. Letztlich brachte sie es aber nicht fertig, Theo nach getaner Arbeit in die kalte Herbstnacht zu entlassen. Nicht deshalb, weil er ihr leidgetan hätte, sondern weil ihre Lust einfach zu groß war. „Um auf Nummer sicherzugehen, hängen wir morgen früh noch eine Runde dran. Darum sehen wir uns erst gegen Mittag. Ich küsse dich auf die Stirn, mein liebes Schrotterl“, hatte Slava ihrer Freundin geschrieben. Anschließend stellte sie ihr Handy aus und robbte sich fast schüchtern an Theo heran, um ihren Kopf auf seine Brust zu legen.
Das liebe Schrotterl hatte die Tage zuvor eine zweite Runde zwar längst abgesegnet, aber natürlich auf eine zügigere Begattung gehofft. Henriette kannte Theo nicht, doch ihre Fantasie wucherte trotzdem fröhlich vor sich hin und produzierte schauerliche Bilder, die sie um den Schlaf brachten. Klar, auch sie hatte ihre Freundinnen, doch sich Slava mit einem Mann vorzustellen, überstieg ihre Kräfte um ein Vielfaches. Schon als 17-Jährige hatte sie einen flammenden Essay über die Ungerechtigkeit geschrieben, dass Frauen Männer brauchen, um Kinder zu bekommen. Erst nach endlosen Gesprächen mit Slava hatte sie sich schließlich aber erweichen lassen, diese Ungerechtigkeit wenigstens für drei Nächte hinzunehmen, um irgendwann den Kugelbauch ihrer Freundin liebkosen zu dürfen. Als sie mitbekommen hatte, dass Theos Gefühlswelt sich nicht in den verabredeten Pragmatismus fügte, entschloss sie sich, dem aus ihrer Sicht wilden Treiben ein Ende zu setzen.
Henriette stand eines Tages vor Theos Tür. „Wer bist du?“, fragte er. „Ich bin Henriette. Um es gleich zu sagen: Zwischen dir und Slava wird nichts laufen, hast du mich verstanden?“ Theo schaute die schwarz gelockte Dame neugierig an und verstand zuerst nicht, wer sich da überhaupt zu ihm verirrt hatte. „Du bist also das liebe Schrotterl?“, fragte er, ohne sich durch den drohenden Unterton der unbekannten Frau beeindrucken zu lassen. „Dieser Name ist mir heilig. Mit dem darf mich nur Slava ansprechen. Für dich heiße ich Henriette, klar?“
„Slava nennt dich auch in meiner Gegenwart Schrotterl“, versetzte Theo mit einem dezenten Lächeln, „mein kleines, liebes, garstiges Schrotterl. Ja, genau in dieser Reihenfolge.“ Mit eigenen Ohren hören zu müssen, wie dieser in ihren Augen dahergelaufene Typ beiläufig diese Worte innigster Verbundenheit aussprach und sie dabei angrinste, erzürnte sie. Dabei handelte es sich jedoch um den vielleicht am wenigsten bedrohlichen Zorn überhaupt, den Zorn einer zierlichen kleinen Dame, der man anmerkte, dass sie bewusst laut sprechen musste, um überhaupt verstanden zu werden.
„Solltest du mir nicht etwas dankbarer sein?“, fragte Theo.
„Dankbar dafür, dass du meine Beziehung zerhackstückst? Nein, definitiv nicht!“
„Welche Beziehung meinst du? Wenn ich Slava glauben darf, hast du mehrere am Start. Warum sollte das zwischen Slava und mir ein Problem sein?“
Henriette musste tief durchatmen. Dass Slava ihre berühmt-berüchtigte Indiskretion nutzte, um ihre Freundschaft zu Theo in dramatischer Einseitigkeit zu schildern, war ihr nicht neu. Doch dass diese Mitteilungsfreude auch sie und ihr alles andere als langweiliges Privatleben einschloss, hatte sie bisher nur dunkel geahnt. Sie war zu aufgewühlt, als dass sie mit ihrer üblichen Schlagfertigkeit hätte kontern können. Erste Tränen flossen ihr über die Wangen. „Du bist mir noch nie begegnet, aber ich kenne dich und deine Freundinnen längst aus Slavas Erzählungen. Sie liebt es, pikante Details zu schildern und in ihre launigen Berichte einfließen zu lassen. Ich erfahre alles.“ Theo sprach zu überzeugt, als dass er hätte lügen können, und Henriette fürchtete, noch mehr hören zu müssen. Offenbar kannte er sie vom reinen Hörensagen bereits so gut, dass er sie mit einigen gezielten Worten außer Gefecht setzen konnte. Das hätte sie ihm nie zugetraut, denn Slava hatte Theo immer auf eine denkbar ungünstige Weise porträtiert, als Versager, Einspritzdüse, Nummer sieben. Gewiss, auch sie hätte einige Pfeile in ihrem Köcher gehabt, die ihm hätten schaden können, doch alles in ihr schrie nach Rückzug. Der verbliebene Rest ihres Stolzes verbot ihr, das Taschentuch anzunehmen, das Theo ihr angeboten hatte.