Was ist neu

Oculus

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19.04.2015
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Oculus

In your deep floods
drown all my faults and fears,
Nor let his eye
see sin, but through my tears.

Phineas Fletcher​

Sieh‘ empor! Sieh‘ das leise Wolkenmeer vorüberziehen nachdem sich der Sturm gelegt hat, die Blitze erloschen sind und das Donnergrollen verhallt ist. Wie das einst aufbrausende Feld langsam auseinanderstiebt und das satte, reingewaschene Blau im Licht der Abenddämmerung noch einmal befreit wird, ehe sich ein jeder wiederfindet in erdrückender Finsternis.
Das zarte Orangerot der Sonne spiegelt sich auf der Schafwolle hoch droben wider und es wird umrahmt von einem azurschimmernden Grau. Von der Erde angezogen, sammeln sich die letzten Regentropfen am Boden der Wolken – bereit auf unsere Köpfe gleich einer Gewehrsalve barbarisch niederzuprasseln. Und wir beobachten sie; wollen ihnen folgen.
Doch etwas in uns beschwichtigt unser Gemüt und sagt: „Lass sie ziehen, denn sie kommen wieder.“
Die Wolken in Mauve.

†​

Die Sonne, so erhaben und immens in ihrer Pracht, teilte die Himmelssee und hatte den Zenit schon längst passiert, als sie nun in westlicher Richtung Schlagseite erlitt und kenterte.
Ihr Niedergang, tragisch; doch war er unvermeidbar.
Und das in die kalte Farbe des Meeres getauchte Gewölbe löschte ihr Licht noch bevor eine sternenklare Nacht wie ein Bettlaken über den Ozean gespannt wurde und sich der Äther über den Horizont erstreckte. Zuvor war es jedoch noch einigen wenigen Strahlen gelungen in die trübe See zu stechen und ihren Hilferuf auszusenden; auf dass der wärmende Stern schon bis zum darauffolgenden Morgengrauen gerettet werde.
Was soll ich jetzt tun, Jokanaan?
Nicht die Fluten, noch die großen Wasser können dieses brünstige Begehren löschen.

Die Sonne gekleidet in Gelbrot.

†​

Drop, drop, slow tears
and bathe those beauteous feet.​

In meinem siebzehnten Herbst war es gewesen; doch erst der elfte, der mir zumindest eine vage Erinnerung an ihn barg. Schon seit jeher waren mir Jahreszahlen ein Graus und unbegreifliches Konzept gewesen. Hatte ich mich doch gerade erst an das eine Jahr gewöhnt, war es bereits seit einem Dutzend Monate wieder vergangen – mein Ratschlag daher lautete auf ewig Kind zu bleiben und der Sonne Tag für Tag für Tag zu folgen. Jetzt, da mich keine Mutter mehr weckte, da mir eine Uhrzeit fremd war, kehrte mein verträumtes Bewusstsein alltäglich mit ihren Strahlen in den weichen Samt meiner Schlafstätte zurück. Ich erwachte mit ihr, überlebte zusammen mit ihr die Stunden, in denen sie hoch über allem thronte und sang sie in den Schlaf, bevor ich es in meinem eigenen Streben ihrem Vorbild gleichtat.
Oh, Margiela!
Mir ist’s, als hätte noch nie zuvor eine Frau solch einen Verzicht von mir verlangt. Doch was gab und geb‘ ich einzig deiner Liebe Willen, Margiela?

Mit ihren lieblich verspielten Augen, gefärbt von einem Grün, dessen Intensität all die Gräser und Wälder dieser Erde verbleichen ließ, verfolgte sie aufmerksam jedwede meiner Bewegungen. Endlich fanden ihre Fingerspitzen Ruhe auf den Wangen, die mir schienen, als seien sie aus dem reinsten Elfenbein geschnitzt.
„Suchst du noch immer nach einem Abenteuer?“, fragte ich meine Liebste.
Ihr zum Gähnen weit geöffneter Mund war mehr, als ich mir von einer wahrhaftigen Antwort hätte erträumen können. Sie streckte ihre müden Glieder und fand Gefallen daran, wieder an ihrem Diadem herumzuspielen. Sie ließ es gedankenverloren durch ihre Finger wandern. Die kleinen Diamanten zerbrachen das Licht der Sonne und die etlichen Regenbögen zauberten ihr den Glanz ins Gesicht, welcher fortwährend in gleicher Weise begraben wurde: Sie setzte sich die Korona in einer ablehnenden Bewegung wieder zurück auf die kurzen, blonden Haare, damit das Leuchten von ihrem Antlitz ferngehalten wurde.
Um ihrem Desinteresse gebührend Ausdruck zu verleihen, merkte sie nebenbei an:
„Das hatte er mir noch geschenkt.“
„Wer?“
„Nun, Alfred. An wen dachtest du?“
Es war das erste Mal, dass sie mir gegenüber diesen Namen erwähnte.
„Du sagtest noch. Was geschah anschließend mit ihm?“
„Mit wem?“
„Nun, Alfred.“
„Ach ja.“
Anstelle ihrer Augen funkelten mich nun Smaragde an.
Sie spielte mit den Gedanken, als wären sie ein Feuer, welches von dem einen Namen entfacht wurde, ehe sie mir wieder in ihrer teilnahmslosen Stimme erzählte:
„Er ging wieder zurück zu seiner Frau.“
Ohne nachzudenken fielen mir die Worte aus dem Mund und ich log:
„Das tut mir leid.“
„Muss es nicht“, sagte sie, „ich bin schöner als sie.“
„Und arroganter. Vergiss mir das nicht, meine Teuerste.“
Von neuem räkelte sich ihr schmaler Körper gewohnt ruhig auf dem Diwan. Sie schloss ihre Augen und versank in dem beigefarbenen Veloursleder, das sich wie ein sanfter Lufthauch an sie schmiegte.
„Ich dachte mir bereits, dass meine Charakterzüge permanent menschlicher werden. Ist denn das nicht sympathisch? Ein Leben von Fehlern geprägt und das in einer Welt, die ein einziger großer Fehler ist? Als nächstes wirst du mich noch empathisch nenne dürfen. Schreib‘ das auf deine Liste. Ich hab‘ ein solch großes Herz; schwarz, wie der Teer, welcher unsere Lungen pflastert. Aber es ist groß.“
„Margiela…“
Ich wollte ihre Hände ergreifen und sie fest an meine Brust drücken, sodass sie meine Nähe spürte und sie diese zertrümmernden Gedanken außer Haus jagen konnte.
Und die Schönheit auf dem Ottoman schenkte mir ein kurzweiliges Lächeln.
„Sag‘ ihn noch einmal. Meinen Namen. Du besingst mich stets. Ein jedes Mal, wenn du ihn aussprichst, preist und lobst du ihn mit deinem Gesang. Als sei er deine Hymne an mich. Du musst dir nur ein einziges Mal richtig zuhören und schon wird dir diese Tatsache ins Auge springen.“
Ihr Blick streifte den Meinen und ich erkannte, welch unverhofft glückliches Los ich mit ihr gezogen hatte. Sie fuhr fort:
„Du lässt ihn so unvorstellbar herrlich klingen. Wenn der Rest dieser Tiere der Gattung Homo sapiens ihn ausspricht, sehe ich ein rohes Stück Fleisch vor mir.“
„Deine Ehrlichkeit ist bemerkenswert.“
„Wenigstens werden sich die Menschen, denen ich schon begegnet bin und denen ich noch begegnen werde, an meine Ehrlichkeit erinnern. Wenn man ihnen sagt, was sie nicht hören möchten, bleibt man ihnen am ehesten im Gedächtnis. Sie denken zwar allesamt stets entrüstet an diese unliebsame Begegnung zurück, doch immerhin denken sie überhaupt an mich.“
Sie streifte mit einer Hand argwöhnisch über ihr Kleid und merzte dabei eine kleine Falte aus. War es für sie doch von außerordentlicher Bedeutung, niemals vergessen zu werden. Die bloße Vorstellung trieb ihr heiße Tränen in die Augen.
„Ach, Margiela. Immerzu ertappe ich eine Zähre dabei, wie sie dein wunderschönes Gesicht zerrüttet. Trockne dir die Narbe und schenk mir dein prächtigstes Lachen.“
Stattdessen schaute sie nur durch mich hindurch und betrachtete die Gemälde, denen ich den Rücken gekehrt hatte.
„Du, Geliebte, vermagst einen prall gefüllten Festsaal in die abgrundtiefste Depression zu stürzen und es bereitete dir den größten Freudentaumel.“
„Aus welchem Grund sollte es mich mit Wonne erfüllen? Sagtest du nicht eben, ich triebe alle in die pechschwarze Verzweiflung mit der Kümmernis, die auf mir lastet?“
Undenkbar, dass sie mir die Erlaubnis erteilen würde, sie voll Dreistigkeit als griesgrämig zu schimpfen; und dennoch nahm ich mir dieses Recht als guter Freund und Angetrauter heraus. Sie zollte meiner wagemutigen Feststellung mit einem Schmunzeln Respekt, dass sich auf ihren schmalen Lippen andeutete. Wie war ich doch verliebt in ihren sarkastischen, scharfzüngigen Mund.
Viele Tage waren vergangen, seit unsere Bekanntschaft ihren Lauf genommen hatte und ich habe nicht eine Erinnerung mit einem wahren Lachen, dass sich in all seiner Pracht über Margielas Gesicht zauberte. Ich musste ihr zweifelsohne diesen Vorwurf machen.
„Gleicht meine Haut nicht einem unbefleckten Papier?“, schalt sie mich, „Es merkt sich jedwedes Mal, dass du es in deinen Händen zusammendrückst. Es ist die bitterste Frucht, die der Samen eines jeden Lachens trägt. Die Falten!
Meine Erscheinung, meine großen Augen, eingefasst von Falten; mein Aussehen, meine Stirn, in Runzeln gelegt. Mutete ich nicht mehr und mehr meiner Mutter an?“
Sie griff hysterisch nach einem der unzähligen weißen Vorhänge, die durch den Salon glitten und donnerte:
„Dann wärst du Narr besser beraten gewesen, wenn du diese anstatt meiner zur Frau genommen hättest!“
Sie riss an, zerrte und fluchte, doch der Stoff wollte nicht nachgeben. Stattdessen verlor sie das Gleichgewicht und stürzte nach einem kurzen Fall zu Boden.
Ich stürmte auf sie zu um sie zu besänftigen, schlich mich an ihr porzellanbleiches Ohr und sprach:
„Wie Alfred es vor mir getan hat?“
Ihre Augen wanderten geistesabwesend umher. Verfingen sich in den halbleeren Weingläsern, welche lautstark zu Bruch gingen, nachdem sie beide durch den langen Raum mit den hohen Wänden geschleudert hatte. Der Rebensaft quoll an den Wänden hervor rann zu Boden, als hätten die Scherben blutige Wunden in sie hineingeritzt.
„Vergiss‘, was du gehört hast. Das war nur eine klitzekleine Albernheit von mir.“
Nach all den Jahren konnte ich ihren Gesichtsausdruck noch immer nicht lesen – als spräche ihr Antlitz deutsch. Und wer um alles in der Welt war dieser Sprache schon mächtig?
Zaghaft flüsterte sie schließlich:
„Ich hätte die beiden vergiften sollen, noch bevor sie Gelegenheit dazu hatten, mich von meinem einstigen Anwesen zu jagen.“
Ich legte sanft eine Hand auf ihre Stirn und strich ihr durch das Haar, welches der leuchtenden Farbe des Strohs auf den Feldern in nichts nachstand.
„Nun spricht Jezebel aus dir, meine Teuerste. Lass den Dämon endlich ruhen, Margiela.“
„Mit den Augen übermittelst du die Liebe“, sagte sie.
„Woher stammt das?“
„Ich weiß es nicht mehr, aber lass mich bitte meine Gedanken zu Ende führen.“
„Verzeih‘.“
Die gebrechliche Frau setzte sich auf und sagte beharrlich:
„Ich las eines Tages einmal, dass die Liebe das Licht trägt; dass die Liebe wie eine Kerze die Dunkelheit erhellt. Löschte er dann nicht mein Licht? Meine Liebe? Als er mich verließ ward die Nacht über meiner Selbst gekommen. Und dessen zum Trotz sagte er sich von mir los.“
„Wer?“
„Nun, Alfred!“
Sie wollte diesen einen Namen, diese eine mir gänzlich unbekannte Identität, niemals loslassen. Es wäre mir gleichgültig gewesen, hätte sie nur dasselbe für mich empfunden.
„Die Liebe ist unser Spiegel der Seele. Aber, mein Geliebter, empfange ich kein Licht?“
Ich sah eine Träne, die um ihr liebliches Kinn tänzelte.
„Margiela. Deine Seele mag der Nacht gleichen, die um dich herrscht und die du lebst. Doch lass‘ mich dir sagen, Margiela! Ich entsende dir mein Licht, dass dir leuchtet und dich – so sehr hoffe ich – alsbald von ihm weg zu mir führt.“
„Von wem?“
„Nun, …“
Sie fiel mir in die Arme und stützte sich auf meinen Schultern ab. Ein Windhauch trug ihren engelsgleichen Duft in meine Richtung; welch betörender Zauber auf ihr ruhte. Meine Augen weiteten sich; ich kam ihr mit jedem Atemzug näher und versank in ihrem seidig-weichen Mund.
Als sie mich weckte, konnte ich nicht umhin mich zu fragen, an wen ich mein Dasein abgetreten hatte. Hatte sie mir doch nur vage aus ihrer Kindheit erzählt – und selbst dies zu sagen war noch gelogen. Sie hatte eine Kindheit, pflegte sie auf meine unangenehmen Fragen zu antworten; doch vermied sie es, auch nur ein weiteres Detail daraus hervortreten zu lassen. Eine Kindheit. Wie konnte man solch eine Zeitspanne nur ohne ein einziges Adjektiv beschreiben? Glücklich, zufrieden, grausam? Anfangs hatte ich mir doch wahrlich noch mein Hirn zermartert, ehe ich endlich einsah und mir eingestehen musste, dass meine Frau das interessante, undurchschaubare Wesen bleiben würde. Wollte ich sie doch nicht kränken, und aus diesem Grund sah sie sich stets seltener mit Fragen konfrontiert.
Mit keinem Wort hatte sie je eine Familie erwähnt; nicht einmal einen Namen. Hatte nicht jeder eine Familie, eine Herkunft, selbst wenn diese bereits verstorben war? Nein, die bloße Erwähnung, es müsse doch eine solche Konstellation in ihrem Leben geben oder zumindest gegeben haben, ließ ihre Seele wund werden. Und obwohl ich mir keinen Reim aus ihrer schleierhaften Vergangenheit machen konnte, musste ich mich selbst preisen, ihr jetziges Ich besser zu kennen, als jeder andere Mann.
Ihr glattes Gesicht, die kleine Nase – kontrastiert von den leuchtendgroßen Augen. Sofort ward mir danach, einen Goethe aus meinem Gedächtnis hervorzukramen.

Wär‘ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt‘ es nicht erblicken.
Gab es noch Zweifel, dass das Auge der Sonne ähnlich war? Sie wusste es, all diejenigen umzustimmen, die diese Tatsache nicht für wahr haben wollten.
Ach Margiela! Deine Augen sind die Diamanten, die meinen Nachthimmel erhellen. Bist du womöglich schon Platon begegnet? Gar Helios?
Nicht ohne Grund huldigten die alten Griechen ihrem Sonnengott, verehrten ihn als Panoptes, das alles sehende Auge.

Cease not, wet eyes,
his mercies to entreat;
To cry for vengeance
sin doth never cease.

War dies alles? Einen Tag zu verschlafen, brachte einem einen verlorenen Tag ein?
So fühlte es sich also an, in die Bedeutungslosigkeit zu entschwinden und kostbare Sonnenstunden unrettbar einzubüßen. Als Preis reichte man mir schwere Lider und einen gähnenden Mund, statt des blitzenden Pokals oder zumindest einer Schärpe.
Ihre Gestalten tanzten in den Schleiern, den milchig-weißen Vorhängen, hoben die Stoffe und ließen sie wieder fallen; Böen, sacht, schoben sie vor sich her, trugen durch die Gardine ihren Spott und das gackernde Gelächter. Sie verhöhnten mich.
Die blass-grauen Figuren, die sich hinter ihrer Anonymität versteckt hielten, verleumdeten den menschlichen Verstand und lehnten meine Rationalität im Denken ab. Sie trieben mir eine beispiellose Wut in die Glieder; ich wollte ihre gutgläubigen Vorstellungen der Lächerlichkeit preisgeben, im Spiel, das sie ein jedes Mal mit mir wagten, wollte ich den Spieß umdrehen. Ihr Schäkern rührte meinen Zorn auf nur weiter auf.
Ich verdamme euch alle! Wann immer ihr mir ins Gesicht lügt, sobald meine Stirn voll Sorgenfalten gekrümmt ist, und ihr mir eure Weisheit kundtut:
„Du hast noch so viel Zeit.“
Die Posse, von der mein Leben zehrte.
Im Kern dieser Narretei jedoch lag ein gewaltiges Problem, welches mich blindlings zum Toben brachte – letzten Endes glaubte man wirklich, man hätte noch so viel Zeit.

Und schreiend fuhr ich zu einer Gestalt herum:
„Halt’s Maul! Halt’s Maul! Halt endlich dein Maul!

Die Gebilde wurden klarer und aus ihren Umrissen entsprang das zauberhafte Gesicht meiner Margiela, deren Elfenbeinteint noch blasser anmutete. In ihren Augen spiegelte sich mein umnachteter Blick; meine angstgeweiteten Pupillen, deren Schwarz noch erstaunlicher glänzte; meine Arme packten noch immer ihre zierlichen Schultern und voll Abscheu und Ekel vor mir selbst, löste ich meine verkrampften Finger von ihr und stürzte betroffen vom Diwan. Welch grauenhafter Blick, als ich an mir hinabsah, und erkannte, dass mich meine Fantasie auf kurz oder lang zu einem Monstrum werden ließ. Bittere Tränen schäumten hervor und der Damm wollte sich nicht schließen lassen. Musste nicht mein Herz brechen, so schnell schlug es in meiner Brust, dass es schon im Kopfe nachhallte.
Sie kniete neben mir und strich wohlwollend über meine Wangen.
„Berichte mir von deinem Nachtmahr. Alpträume erkennen einen schwachen Geist, Geliebter. Sie ergötzen sich an einer labilen Seele und reißen ihr erbarmungslos die Flügel aus dem Leibe, wie wir es früher mit den Schmeißfliegen taten.“
Ihre Worte versprachen Linderung und gemeinsam setzten wir uns wieder; meine Hand jedoch hielt sie fest und ihr Kopf ruhte auf meinen herabhängenden Schultern.

†​

Sie hatte ihre Aufmerksamkeit abermals dem Diadem zugewandt; die einzige Zier, die sie sich erlaubte. Gefesselt starrte sie auf ihren Kopfschmuck von unschätzbarem Wert. Meine Margiela blickte zufrieden drein, als sie ihr Juwel wieder in ihrem Haar zurechtrückte.
Ich musterte sie und sagte:
„Deinem Hals würde bereits ein leichtes Kettchen unsäglich schmeicheln. Ich versteh‘ nicht so recht, aus welchem Grund du jedweden anderen Schmuck von vorne herein ablehnst. Nun, da du dein Haar wieder in Wellen trägst; kurze Wellen zwar, aber so schön wie eh und je.“
Sie spielte mit einer Strähne, die ihre Lippen liebkost hatte.
„Eine Kette verleiht mir ein solch beengendes Gefühl in der Kehle; ich bekomme keine Luft mehr, sobald sich mir etwas um den Nacken legt. Und Ohrringe kribbeln und jucken stets auf der Haut. Ich mag es nicht, wenn mir etwas in den Hals sticht“, warf sie beschwingt durch den Salon.
„Ich meinte nur, du sollst weder Halsband noch Collier tragen, sondern ein winziges Kettchen. Allenfalls ein goldenes Herz.“
„Was sollte das bewirken? Was?“
In ihrer Stimme lag ein aufgebrachter Unterton.
„Was sollte ich damit schon meinen, Margiela? Glaubst du mir nicht, wenn ich sage, dass du längst begehrenswert bist, oder bedarf es noch nach einem Beweis? Oder glaubst du allen Ernstes, dass ich Zweifel anbringen möchte, an deine märchenhafte Schönheit? Glaubst du wirklich, ich wollte das damit zum Ausdruck bringen? Ich versichere dir, manches Mal raubst du mir den Atem, einzig durch einen scheuen Blick deiner hinreißenden Augen! Ja, wenn ich es dir sage, Margiela, ich zähle mich selbst zu den glücklichsten Männern auf Gottes Erde.“
Ich wollte anmerken, dass ich es leid bin, mit ihr nach Streit zu suchen, doch sie tat meine Bewunderung ab; spielte meine liebesähnlichen Gefühle und mein wahrhaftiges Begehren herunter. Sie schüttelte den Kopf und sagte mit einer abwertenden Geste:
„Ich kann nicht durch deine Augen hindurch in deinen Kopf hineinsehen um zu erkennen, ob du mich belügst oder nicht, also werde ich deine Worte wohl so hinnehmen müssen. Allerdings nur widerwillig.“
„Grad, so scheint es mir, bautest du mich noch auf. Sag, meine Liebe, angetrieben von dem Hintergedanken, mich rasch wieder auf die Knie zu zwingen? Sieh‘ in das Blau meiner Augen, in die Wellen, welche du aufrührst und über die Ozeane hetzt, und nun sag‘ mir, schwimmt eine Lüge darauf?
Matthäus 6, 22, hörst du?
Das Auge gibt dem Körper Licht. Wenn dein Auge gesund ist, dann wird dein ganzer Körper hell sein. Wenn aber dein Auge krank ist, dann wird dein ganzer Körper finster sein. Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß muss dann die Finsternis sein!
Erhellst du doch mein Herz allenfalls wie ausgebrannte Grabkerzen den Friedhof bei Nacht. Ich seh‘ in deine Augen, und sehe Wärme, Licht und Liebe. Was siehst du in meinen Augen, Margiela? Was? Sag es mir schon!”
Ich bemerkte, dass ich mit jedem Wort lauter wurde und flüsterte nun nur noch:
„Du siehst dich selbst. Deine Finsternis.
Wenn du dir jeden zum Feind halten möchtest, bist du dir selbst dein größter. Doch bemerktest du dies gar nicht.“
Haltlos sah ich mich im Raum um und sie fing meinen sorgenvollen Ausdruck auf. Den bösen Mächten in meinen Ausführungen, welche ich schon bereute, als sie gerade von meiner Zungenspitze geflohen waren, begegnete sie mit einem Zauber.
Nämlich ihrer einfühlsamen Stimme.
„Meine Mutter verglich mich gern mit einem kleinen Lämmchen. Sie sagte zu mir, ich sei wie ein Lamm in der Höhle des Löwen.“
Sie stockte.
„Weißt du, was sie damit meinte?“
Ich schüttelte leicht den Kopf und folgte den Worten, die von ihren Lippen tropften.
Vorsichtig strich sie mit einem gefalteten Taschentuch unterhalb ihrer Augen entlang und legte den Kopf schief.
„Niemand weiß so recht, was sie mit mir anfangen sollen. Woher auch? Die Löwen sehen nichts in dem verschüchterten, kleinen Lamm. Ich bin ein niemand für sie, den sie bestenfalls in einem Stück verschlingen können. Aber das lasse ich nicht zu!“
Wir sahen einander an.
„Ich hatte viel zu lange darauf gewartet, dass jemand kommt und mich aus dieser verruchten Grube befreit. Kein Engel hat ihnen das Maul verschlossen. Sollten wir bei der Metapher mit dem Lamm bleiben, würde ich sagen, ich stopfte ihnen das Maul mit meiner Wolle.“
Sie stützte ihr Kinn auf den Händen ab, die zu Fäusten geballt waren.
„Ich gestehe mir ein, selbst ich wusste nicht, was mit anderen anzufangen war. Gespräche? Über was? Das Wetter. Als hätte ich Zeit für diese oberflächlichen, nichtssagenden Plaudereien. Weißt du; sie wären im Anschluss ohnehin schlicht weitergezogen zu ihren wahren Freunden, hätte mich aus ihren Gedanken gejätet, und sich über Themen unterhalten, die für sie von Bedeutung waren.“
„Nein. Das war nicht richtig so,“ sagte sie zu sich selbst, „Weshalb ich das alles hinter mir ließ und fortging.“
Sie griff nach der obersten Zeitung auf dem Stapel vor uns.
„Mit jeder Schlagzeile, die ich für mich vereinnahmte, mit jeder Titelseite, die ich prägte, mit jeder einzelnen Nachricht über mein Leben in Saus und Braus und meinen Kontakten in der feinen Gesellschaft, mit jedem Beweis, dass ich etwas aus mir gemacht hatte, mit all dem habe ich ihnen das Maul gestopft. Sie vor Neid erblassen lassen. Mit meinem Geld! Mit den grünen Scheinen habe ich ihre Mäuler gestopft.“
Sie lachte herzhaft auf und schrie:
Reich muss man sein, um sich alles erlauben zu dürfen.“
Oh, Margiela; wir recht du hast.

†​

Though I cannot see
I can hear her smile as she sings

alt-J​

Es wurde Nacht.
Es wurde Tag.
Und die Jahre zogen durch die Welt, und durch deren Menschen, in ebengleichem Schritt wie eine heimatlose Wandertruppe, die ihre Stücke auf den Bühnen der Welt zu schauspielern versucht. Die Sekunden gaben den Takt an und die Zeiger schlugen, wie mechanische Herzen in sterbendem Fleisch.
In ihrem Fleisch. Ihre Augen mochten zwar noch von dem gleichen Leuchten umfangen werden, wie ich es schon seit jeher an ihr bewundert und ich mich damals verliebt hatte. Die Zeit würde sie nicht stumpf werden lassen; nein, nicht die Zeit, aber ihre Einsamkeit, deren Gift sie schwächer werden ließ.
Ich war bei ihr, doch konnte ich meine Margiela nicht mehr erreichen.
Immer seltener stahl sich ein Lächeln in ihr Gesicht, keine noch so bitterböse, sarkastische Bemerkung über politische Armleuchter oder weltenmordende Bankentreiber erhellte ihre Züge. Alles wirkte fahl und müde; außer ihre wundervollen Augen.
Ihr zierlicher Körper, mit den vage angedeuteten Rundungen, lag vor mir, war gegeißelt worden von der Zeit und wirkte matt und abgekämpft. Es war jedoch nicht ihr Körper, ebenso wenig ihre Haut, die dahingerafft wurden – ihr Geist war befallen und gefangen genommen worden von einem Parasiten, der sie lähmte und ihr inneres Auge trübte; und übertragen von ihrer Liebe zu mir, war auch ich hinab gerissen worden in das Tal der Ohnmacht.
Ich wütete nicht mehr, verführte sie nicht mehr, dagegen anzukämpfen, da unsere Schlacht schon zu sehr an unseren Kräften zerrte, schon zu lange andauerte und stattdessen legte ich mich neben sie, ließ das geistige Sedativum seine Bahnen durch mein Blut ziehen.

Die Klänge einer vereinsamten Gitarre verhüllten meine Ohren sanft mit Küssen; eine Träne benetzte meine Augenlider. Margiela richtete sich auf und ich spürte ihren Blick durch den Salon streifen, gleich einer beunruhigten Silberlöwin, die ihr Revier auf der Suche nach dem unverschämten Eindringling absuchte.
„Meine Mutter hatte mir zu diesem Lied stets eine Gutenachtgeschichte vorgelesen.“
„Aus diesem Grund habe ich es aufgelegt, meine Liebste“, sagte ich zu ihr.
Welch‘ herzzerreißende Melodie.
„Es war zu der Zeit, als sie mich noch Matilda nannten.“
Ihr Stimme legte sich wie ein Balsam um die nihilistischen Töne, die langsam durch meinen Brustkorb hindurchsickerten.
„Ich kann mich noch gut an ihre Geschichte des Lagartijo erinnern.
Sie nannte den Stier, gegen den er angetreten ist, und an diesem schwülheißen Julitag war es bereits sein dritter Kampfstier, Gordito, das Dickerchen.
Der Kalif tänzelte um das gequälte Tier herum, scheuchte es auf mit dem purpurnen Stoff, wo doch Gordito sich keineswegs um dessen Farbe scherte, und hetzte ihn durch die Arena. Das Blut rann ihm aus Wunden, die die federbesetzten, silberglänzenden Degen in sein Fleisch geschlagen hatten, über den muskulösen Nacken und doch gab er nicht auf; jagte mit letzter Kraft dem Tuch hinterher, schabte mit den müden Hufen über den Sand, schnaubte das kreischende Publikum an, welches den Todesstoß für ihn forderte.
Als plötzlich etwas vollkommen Unerwartetes geschah.“
Sie sah zu Boden, pausierte für den Moment.
„Desinteressiert wandte sich Gordito vom Matador ab, der noch immer freudetaumelnd das puterrote Muleta umherschwang, hochwarf und mit Leichtigkeit wieder auffing, ehe er seine einstudierten Figuren den zwanzigtausend Schaulustigen um ihn herum vorführte.
Gorditos Seite schmerzte, er brüllte um das Brennen zu unterdrücken.
¡Qué me des la estocada! A volapié.
Lagartijo folgte seinem Rufen und setzte zum Todesstoß an, als zwanzigtausend Münder entsetzt schwiegen, sie den Atem anhielten und beinahe vierzigtausend Hände regungslos über den Köpfen verharrten.
Der Jubel verhallte allmählich.
Die verzweifelten Hörner hatten ihn von den Füßen gerissen, schlugen nach ihm, wollten ihn umklammern und zerfetzten seinen Bauch, sein Gesicht und erwischten seinen Hals. Entzweiten seine Luftröhre, durchtrennten die Arterie und stießen ein auf seine Nackenwirbel.
Die frisch gestrichene Holzverkleidung, der Sand, welchen man einzig für dieses Spektakel herangekarrt hatte, der verängstigte Gordito und auch Lagartijo, alles wurde überflutet vom Lebenssaft des Toreros, der schließlich leblos in der Mitte der Arena zur Ruhe gekommen war.
Und Gordito legte sich neben ihn, machte seine Augen zu und beide fielen in einen ewigen, tiefen, tiefen Schlaf.“

†​

Ich hatte mich durch die Schleier nach draußen gekämpft. Der blasse Schein des Mondes verlieh ihrem makellosen Weiß einen gespenstischen Hauch und sie folgten mir heimlich mit hinaus auf die Terrasse.
Mitternacht.
Aschfahle Wolkenheere stürmten über mir das Feld, warfen den Regen auf mich ab und zogen in aller Eile weiter, als Vorboten eines mächtigen Gewitters. Immer wieder blitzte zwischendurch ein kleiner Lichtkegel am Nachthimmel auf und ließ den Wald um Matildas Anwesen als blaugraue Silhouette in Erscheinung treten.
Von den Blättern der Kirschbäume rieselten, verborgen in der Dunkelheit, Tropfen herab und imitierten die Schritte eines Räubers. Ich machte mich darauf gefasst, dass sie näher kommen würden, der Wind heulte allerdings auf und trug die schauderhaften Geräusche davon.
Sie hatte sich unbemerkt auf die Terrasse gestohlen, legte ihre kalten Hände um meinen Körper und bettete ihren Kopf auf meinem Rücken, so wie sich ein Katzenjunges in das Fell der Mutter vergrub.
Das scheue Reh war zu mir gekommen.
Als sie sprach, nahm ich die sachten Erschütterungen war, die sich von ihrem Brustkorb aus über unser beider Körper ausbreiteten; ihr Worte schwangen in meine Richtung und sie zwang mich genau hinzuhören, sie abzufangen, da sie zu schwach war um lauter zu reden.
„Du bist auch ein Kind der Nacht.“
„Die Nacht braucht den Tag, Margiela“, gab ich ihr zu verstehen.
Sie schlug die Zigarette aus meinen Fingern, umklammerte meine Hände und sagte nun wieder mit ihrer festen Stimme.
„Doch die Finsternis sucht die Finsternis und die Nacht ihre Dunkelheit. Die Lügen, die man sich selbst erzählen kann; die Monster und bösen Geister, die man beschwört, die man ruft. Und sie antworten. Ihr Echo fällt auf den Verängstigten zurück. Sie rufen und sie heulen, rasseln durch die verlassenen Straßen. Immer auf der Suche, niemals auf der Hut und ihre Ketten, klimpernd und klackernd erschrecken die Träume der Kinder, welche erschaudern und erwachsen werden. Das Grauen lässt sie altern.“
Sie sah empor.
Auge in Auge mit der Übermacht des Mondes vor der grauen Leinwand.
„Und die Geschichten, die sie uns als Kinder erzählen, dass sie überall lauern, im Schrank, unter unseren Betten. Wir schließen die Augen, schließen die Naivität weg, und sie öffnen ihre Augen. Gelbe, rote Paare lugen hervor. Krallen und Klauen, die nach dir gieren, und du, unruhig, Schweiß auf deiner Stirn, auf deinem Kissen, mit dir unter der Decke. Und es wäre so einfach – musst du doch nur nach ihnen rufen! Vater? Mutter? Doch jagen dich die Alpträume, wie das Blut, welches durch dein Herz schießt, durch einen gelähmten Körper, ohnmächtig zu handeln, lässt du es in deinen Ohren dröhnen, die verbrauchte Luft deine Lungen füllen, dein Gehirn wird müde, du wirst müde. Aber du kommst ganz langsam wieder unter der Decke hervor und sie ziehen sich zurück und lassen dich in Frieden schlafen.
Lassen dich eintauchen in das Meer deiner Träume.“
Ich deutete hinauf.
„Sieh‘ empor! Sieh‘ die nachtschwarze See. Ein Glattwal schlägt mit seiner Fluke, taucht hinab und das Wasser kräuselt sich um die Stelle, an der er verschwand. An der Stelle, wo deine Träume dich schlafenden Auges hinführen mögen.“
Sie brach ein und kniete neben mir nieder. Ihr Bewusstsein hatte sie schon halb eingebüßt, ehe ich sie auf einen Diwan niederlegen konnte und als sei sie einem starken Opiumrausch verfallen, ergriff sie unbeholfen meine Schultern, wühlte nach den richtigen Worten und wisperte:
„Erzähl‘ mir noch einmal das Märchen, welches ich so gerne von dir gehört habe.
Das Märchen vom Mädchen im Meer.“
Ich nahm den Ottoman ihr gegenüber in Beschlag und legte mich darauf. Während ich zu erzählen begann, bannte sich ihr Augenmerk auf meine Lippen. Sie verfolgte jeden Ton, jede Silbe und jeden meiner Sätze, wie ich sie formte und Worte werden ließ. Matilda beäugte die Bewegungen meiner Zunge, schenkte meinen Zähnen ein leises, gebrechliches Lächeln.
Und ich, ihr Geliebter, unterhielt sie mit dem Märchen, das ich mir einzig für sie erdacht hatte. Ihre Lider flatterten wie ein Schmetterling im Wind, fesselten meine Aufmerksamkeit und ich schweifte ab in das smaragdleuchtende Grün ihrer Augen, die sie ein letztes Mal schloss.

Ihr Gesang erfüllte die Nacht auf dem Meer. Ein Seemann wäre doch glatt versucht zu denken, sie sei eine Sirene, die dem Odysseus den Kopf verdrehen und vom Leibe reißen wolle. Das Gewitter eroberte jedoch die See, Blitze entluden ihre Last auf der Wasseroberfläche, erleuchteten die Wellen, die das Boot schließlich zum Kentern brachten.
Und das Mädchen fiel und schon wurde die See wieder ruhig.
Doch war sie nicht verstummt.

Sie lachte zufrieden singend, als die schwarze Tiefe sie verschlang.
Und wann immer du den Weg ans Meer findest, kannst du sie hören, wie ihr Schlaflied von den Wellen zu dir getragen wird.
Aber kein Auge wird sie je wieder sichten.

Ich sah zu meinen Händen hinab und sie erwiderten meinen Blick; das trübe Grün war zu einem Nebel verkommen und hatte seinen Glanz verloren.
Aber ich werde sie dennoch immer lieben, Margiela.
Dein Augen.

 

Hallo cofias,

ich weiß nicht, ob ich dir jetzt einen Gefallen tue mit dem Kommentar. Ich bin nicht bis zum Ende deiner Geschichte gekommen, und ich muss sagen, der Stil ist leider gar nicht mein Fall.

Aber der Text steht jetzt schon ein paar Tage unkommentiert rum. Das heißt, auch wenn mein Feedback dir nicht so richtig weiterhilft, weil ich nicht zur Zielgruppe gehöre, erhöhen sich durch meinen Kommentar die Chancen, dass jemand anders die Geschichte liest, der vielleicht mehr damit anfangen kann. :)

Da ich nicht bis zum Ende gelesen habe, kann ich also keine Einschätzung zur Geschichte als Ganzes abgeben. Aber ich finde, es ist schon ein legitimer Grund für Kritik, wenn ich mich durch so etwa ein Drittel eines Textes gearbeitet habe und immer noch keinen Schimmer habe, worum es eigentlich geht. Und auch kein Gefühl, dass mir das Weiterlesen in absehbarer Zeit Klarheit verschaffen würde, weshalb ich es dann aufgegeben habe.

Du bemühst dich sehr um schöne Sprache und poetische Bilder - aber wenn es mir allein darum ginge, dann könnte ich ja einen Gedichtband zur Hand nehmen. Sprachliche Schönheit reicht nicht, um mein Interesse für eine ganze Geschichte wach zu halten - ganz besonders nicht für eine in dieser Länge. Geschichten leben von der Handlung und den Figuren - und beides kommt in dem Teil deiner Geschichte, den ich gelesen habe, aus meiner Sicht zu kurz. Hinzu kommt noch, dass die Konzentration auf "schöne" Formulierungen an einigen Stellen zu Lasten der Verständlichkeit und manchmal sogar der Logik geht.

Aufgrund des fehlenden Gesamtbildes werde ich in meinem Kommentar also hauptsächlich einzelne Sätze herauspicken und die kritisieren.

In your deep floods
drown all my faults and fears,
Nor let his eye
see sin, but through my tears.
Phineas Fletcher

Die Bedeutung der eingestreuten englischen Zitate ist mir nicht klar geworden (ich meine, ich verstehe sie, aber ich weiß nicht, was sie in der Geschichte zu suchen haben). Ich bin auch der Meinung, dass man fremdsprachliche Zeilen in Geschichten sehr sparsam und nur mit sehr gutem Grund verwenden sollte, weil Leser, die die jeweilige Fremdsprache nicht beherrschen, sonst quasi ausgesperrt werden.

Sieh‘ das leise Wolkenmeer vorüberziehen nachdem sich der Sturm gelegt hat, die Blitze erloschen und das Donnergrollen verhallt sind.
Das müsste nach meinem Gefühl heißen: die Blitze erloschen sind und das Donnergrollen verhallt ist. Ich hab jetzt nicht erst irgendein Grammatiknachschlagewerk bemüht, aber ich glaube einfach nicht, dass man das so zusammenfassen kann, wenn das eine Subjekt im Singular und das andere im Plural steht.

und das satte, reingewaschene Blau im Licht der Abenddämmerung noch einmal befreit wird, ehe sich dieses wiederfindet in erdrückender Finsternis.
Worauf bezieht sich "dieses" - das Feld, von dem vorher die Rede war, oder das Blau? Wenn letzteres, dann wäre es sachlich falsch, weil das Blau ja nicht mehr da ist, wenn es dunkel wird. Und wenn es um das Feld geht, finde ich das mit der "erdrückenden Finsternis" ziemlich aufgebauscht - soll mir da das arme Feld leid tun, weil es sich in der Dunkelheit fürchtet? :hmm:

Das zarte Orangerot der Sonne spiegelt sich auf der Schafswolle hoch droben wider und es wird umrahmt von einem azurschimmernden Grau.
Schafwolle ohne s; azur ist ein Blauton, kein Grau

Die Sonne, so erhaben und immens in ihrer Pracht, teilte die Himmelssee und hatte den Zenit schon längst passiert, als sie nun in westlicher Richtung Schlagseite erlitt und kenterte.
Ihr Niedergang, tragisch; doch war er unvermeidbar.
Nein, nein, nein, Cut!
Nimm es mir nicht übel, aber das ist so bombastisch ausgedrückt, so schwülstig und so gewaltsam mit Bedeutung aufgeladen, ich kann das nicht für voll nehmen. Also ich meine: Sonnenuntergänge sind toll und manchmal ein so unglaubliches Schauspiel, dass man davon emotional bewegt wird und erhabene Gedanken hat - das weiß ich und ich spreche dem Protagonisten deiner Geschichte nicht das Recht ab, so eine Erfahrung zu haben. Aber dass jemand mit vollem Ernst denkt: "Oh, die Sonne geht unter, wie tragisch." - Das kauf ich dir nicht ab. Das liest sich für mich, als ob jemand sich den Handrücken an die Stirn legt und dann theatralisch in Ohnmacht fällt - das ist entweder ein Witz, oder eine schlechte Inszenierung.
Beschreibungen von solchen Naturschauspielen sind zugegebenermaßen echt schwierig. Dieses Gefühl der Erhabenheit, oder wie immer man das nennen möchte, diese meditative Stimmung, die kann man nicht erzwingen, und es ist schwer, so was allein mit der Sprache zu erzeugen. Die Gefahr, Kitsch oder Langeweile zu produzieren, ist groß. Das spricht nicht dagegen, es trotzdem zu versuchen - Herausforderungen sind ja immer gut - aber ich finde, ich sollte als Leser erst mal wissen, mit wem ich es zu tun habe und was für eine Geschichte mich erwartet - und dann kann ich deinem Protagonisten dabei zusehen, wie er den Sonnenuntergang beobachtet.

Zuvor war es jedoch noch einigen wenigen Strahlen gelungen in die trübe See zu stechen und ihren Hilferuf auszusenden; auf das der wärmende Stern schon bis zum darauffolgenden Morgengrauen gerettet werde.
"in See stechen" hat eine spezifische Bedeutung, die Sonnenstrahlen sind kein Schiff ...
auf dass

Doch was gab und geb‘ ich einzig deiner Liebet Willen, Margiela?
Liebe

Mit ihren lieblich verspielten Augen, gefärbt von einem Grün, dessen Intensität all die Gräser und Wälder dieser Erde verbleichen ließ, verfolgte sie aufmerksam jedwede meiner Bewegungen
Ja okay, blass und bleich sind Synonyme. Aber bei "verbleichen" denkt man eher an "der/die Verblichene" als an "verblassen", zumindest geht es mir so. Und ich glaub nicht, dass grüne Augen die Vegetation absterben lassen, egal wie intensiv die Farbe ist.

Endlich fanden ihre Fingerspitzen Ruhe auf den Wagen, die mir schienen, als seien sie aus dem reinsten Elfenbein geschnitzt.
Sicher? Vom Kontext her hätte ich vermutet, dass es die Wangen sind.

Ein Leben von Fehlern geprägt und das, in einer Welt, die ein einziger großer Fehler ist?
Komma nach "das" weg

Wenn der Rest dieser Tiere der Gattung Homo Sapiens ihn ausspricht, sehe ich ein rohes Stück Fleisch vor mir
sapiens klein

„Gleicht meine Haut nicht einem unbefleckten Papier?“, schelte sie mich, „Es merkt sich jedwedes Mal, dass du es in deinen Händen zusammendrückst. Es ist die bitterste Frucht, die der Samen eines jeden Lachens trägt. Die Falten!
schalt

Mutete ich nicht mehr und mehr meiner Mutter an
Das soll ausdrücken, dass sie ihrer Mutter immer ähnlicher sieht, richtig?
"anmuten" heißt auch "so wirken wie xy", aber in dieser Formulierung (mit "meiner Mutter" im Dativ) funktioniert das nicht, das ist nicht wie "annähern". "Mutete ich nicht mehr und mehr so an wie meine Mutter" wäre richtig, klingt aber blöd, finde ich. "Werde ich meiner Mutter nicht von Tag zu Tag ähnlicher" oder so was wäre mein Vorschlag.

Bei den Dialogen insgesamt habe ich den Eindruck, dass du die sehr angestrengt auf altertümlich getrimmt hast, aber das bringt öfter Stilblüten hervor. Sich stilistisch älteren Werken anzunähern heißt nicht, dass man alles so kompliziert wie möglich ausdrücken und mit möglichst vielen exotischen Worten aufpeppen muss.

Ich könnte in dem Stil noch weiter machen, aber ich lasse es mal gut sein. Ich werde mit der Geschichte wohl nicht mehr warm, für mich gibt es einfach zu wenig Information über die Figuren und die Handlung, und zuviel Schwulst. Sicher steckt viel Arbeit hier drin, es ist ein langer und sorgfältig formulierter Text. Aber ich denke, es würde ihm gut tun, wenn du ein paar anderen Aspekten ähnlich viel Aufmerksamkeit widmen würdest wie den Formulierungen, insbesondere der Frage: Was genau passiert in dieser Geschichte? Und damit meine ich nicht Sonnenuntergänge und dramatische Dialoge auf Velourssesseln, sondern ganz konkret: Wer sind die zentralen Figuren und was geschieht mit denen? Wann und auf welche Art erfährt der Leser davon? Das sollte möglichst früh passieren, damit man ein Interesse daran entwickelt, weiter zu lesen und zu erfahren, wie es endet. Also eventuell wäre es gut, die Reihenfolge der Szenen zu ändern, so dass man die wesentlichen Infos am Anfang bekommt.

Grüße von Perdita

 

Liebe Perdita!

Vielen, vielen, vielen Dank für deine ausführliche Bewertung!

Ich kann verstehen, dass es sehr schwierig ist, etwas zu Ende zu lesen, wenn es einen nicht wirklich anspricht beziehungsweise wenn kein erkennbares Ende in Sicht ist oder der Spannungsbogen nicht vorhanden ist.

Ich lese unheimlich gerne Poe - aus diesem Grund auch der düstere, veraltete Stil. In meinen Kurzgeschichten verarbeite ich sehr vieles, was mich interessiert, bewegt etc. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du das kennst - wann immer man etwas aufschreibt tut man das nicht ohne Grund.

Ich habe zuvor erneut Ligeia und Berenice von E. A. Poe gelesen und diese Geschichte an die beiden Werke angelehnt.

Die Rechtschreibfehler habe ich (nun, da ich endlich wieder Zeit gefunden habe und ein wenig Abstand vom Text hatte) umgehend ausgebessert.

Zu Phineas Fletschers Gedicht:
Der Titel sagt bereits aus, wovon der Text handelt: die Augen.
Aus diesem Grund habe ich das Gedicht von Fletscher (die Autokorrektur zu Gletscher macht mich wahnsinnig) ausgewählt - ich beginne Kurzgeschichten gerne mit Zitaten, wie beispielsweise Poe oder Landy. Die Lyrics von Alt-J ist mit eingeflossen, weil ich ihre Musik beim Schreiben gerne höre.

Azur ist in der Tat ein Blauton - allerdings habe ich mir dabei gedacht, dass die Wolken blaugräulich schimmern. Dieses Blaugrau wiederum war mir zu langweilig vom Ausdruck her und daher habe ich daraus azurschimmerndes Grau gemacht, also eine bläulich schimmerndes Grau. :)

Wie du bemerkt hast bemühe ich mich um eine "schöne Sprache und poetische Bilder": Die Bedeutung von "In See stechen" wollte ich hier als Metapher verwenden.

Noch einmal vielen lieben Dank dafür, dass du dir die Zeit genommen hast a) in die Geschichte reinzulesen und b) einen so ausführlichen und vor allem hilfreichen (!) Kommentar zu verfassen.

Viele Grüße
cofias

 

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