Oh, Theodor!
Im Grunde war ihr Aussehen nicht außergewöhnlich, aber für ihn war sie von herausragender Schönheit. Mit ihrem langen Hals, den schwarzen Augen und den bräunlichen Schatten darunter sah sie aus, wie ein kränkelnder Schwan. Erst wenn sie tanzte wurde deutlich, wie sehr ihr Körper vor Kraft strotzte: Wohlgeformte Beine, ein muskulöser Rücken, drahtige Arme. Und doch war jede Bewegung voller Zartheit, Präzision und Anmut.
Morgens in der U-Bahn, das feine blonde Haar von einer Mütze bedeckt, mit Wintermantel und klobigen Stiefeln, hätte er sie vielleicht gar nicht bemerkt. Aber nun, da er dies getan hatte, zog es ihn jeden Freitag in das kleine Tanztheater im Stadtzentrum. Dort, wo die Parkplätze rar gesät und die Stühle überaus unbequem waren. Nur für sie ertrug er die langweiligen Stücke, die in den meisten Fällen von einseitiger Liebe handelten und deren quälend umständliche Dialoge ihm mittlerweile zum Hals heraushingen. Ihr tieferer Sinn wollte sich ihm nie richtig erschließen:
„Oh, Theodor, mein Herz, mein Alles!“
„Richten Sie der Frau Mama meine besten Grüße aus.“
„Oh, Theodor, ein Wort, ein kleines. Ein kleines, liebevolles Wort für meine Wenigkeit.“
„Wo habe ich bloß mein Automobil geparkt?“
Vielleicht trugen sie schlichtweg keinen in sich, wer konnte schon wissen, was in einem, der sich solch zähe Gespräche und Situationen und Wendungen ausdachte, wohl vorgehen mochte. Vermutlich nichts besonders Tiefgründiges.
Und dennoch schlug ihm, sobald das Licht ausging, das Herz bis zum Hals und unter all dem erwartungsvollen Murmeln, all dem Applaus, all dem Scharren der unzähligen Schuhe auf dem Holzboden, hörte er nichts als seinen eigenen Herzschlag. Manchmal hatte er Sorge, wie lange das empfindliche Organ noch damit zurechtkommen würde, mit diesem Schwall unerfüllter Sehnsucht, den er die ganze Woche von sich wegschob und -drückte. Und der sich dann, wenn sie auf die Bühne kam, entlud wie ein tosendes Gewitter. Manchmal war ihm, als würde er platzen, in tausend Stücke zerbersten, inmitten der Meute aus Schulklassen, linksliberalen Intellektuellen und wohlbetuchten Alten. Und doch: Mit ihrem langen weißen Hals, dem durchgestreckten Rücken und den anmutigen Bewegungen war ihm, als wäre sie sogar einen Herzinfarkt wert.
Außerdem liebte er ihren Gesang, ihre hohe, klare Stimme, die von einer unvergleichlichen Reinheit zeugten, auch wenn die Lieder noch so furchtbar waren. Sobald die Musik einsetzte, hatte er sie ganz für sich, selbst wenn sie unter Hunderten waren. Zumindest in diesen zwei Stunden nahm er sich die Freiheit, nichts anderes zu glauben. Nur manchmal, wenn er nach der Vorführung auf dem versifften Platz vor dem Theater stand und an ein, zwei, drei Zigaretten zog, traf er den Entschluss, künftig nicht mehr hierher zu kommen. Nach jedem Freitagabend brauchte er Stunden bis Tage, um sich wieder zu fühlen, wie er selbst: Wie der große, sportliche Andreas, leidenschaftlicher Basketballspieler und Freizeitschreiner, erfolgreich in der Versicherung und beliebt unter den Kollegen. Stattdessen schien jede Vorführung dieses Gefühl der inneren Leere und Unvollständigkeit nur zu vertiefen. Jeder davon machte ihm bewusst, wie einsam er war ohne die, die er nicht haben konnte, weil sie da vorne im Scheinwerferlicht stand und er nur ein stummer Besucher war, seit Jahren unerkannt, eigenschafts- und gesichtslos.
Und doch kehrte er jedes Mal zurück.
Es war an einem nebelweißen Januarabend, als er das Theater verließ, den durch pures Glück erlangten Parkplatz erreichte und die Schlüssel für seinen Wagen zückte, als plötzlich etwas überaus Unerwartetes geschah. Da stand sie, besser gesagt fuhr, fuhr in Schlangenlinien auf einem klapprigen Fahrrad und während er noch überlegte, ob er sie grüßen sollte oder nicht, hatte sie bereits sein Auto touchiert und mit ein paar eindrucksvollen Kratzern versehen.
„Scheiße!“, rief sie aus und die Winkel ihres rotgeschminkten Mundes glitten in Richtung Boden. Sie war hingefallen und er versuchte ihr aufzuhelfen, doch sie wehrte sich und schlug seine Hände beiseite.
„Was für ein Scheiß“, kreischte sie, als sie ins Stehen gekommen war und das ganze Ausmaß des Schadens erkannt hatte. Sie schlug die Hände vor den Mund. „Scheiße, Scheiße, Scheiße.“
„Halb so schlimm“, sagte er beschwichtigend. „Das zahlt Ihre Haftpflichtversicherung.“
Sie starrte ihn wortlos an. Als wäre sie erst jetzt auf ihn aufmerksam geworden.
„Was für ein verfickter Abend“, murmelte sie und sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Und dann: „Sowas habe ich nicht.“
„In Ordnung, dann …“
„Das war auch gar nicht meine Schuld“, fiel sie ihm mit zittriger Stimme ins Wort. „Was stellen Sie Ihren Wagen auch an einer so bescheuerten Stelle ab? Ich zahle das nicht.“
Unter normalen Umständen wäre er jetzt ungehalten geworden. Aber der Schock, aber ihr verzagtes Gesicht, aber das dürftige Gehalt einer kleinen Theaterschauspielerin, aber die Tränen, die aus tiefliegenden schwarzen Augen spritzten und sich den Weg über starkgeschminkte Wangen bahnten. Feine salzige Schlieren, auf feinem Puder über feinen Poren. Sie schluchzte. Und er vergötterte sie, vergötterte sie seit mehr als drei Jahren, seit 1.132 Tagen in aller Heimlichkeit und Stille. Er träumte tagsüber und nachts von ihr und lehnte jede freitägliche Einladung ab, um keine ihrer Vorstellungen zu verpassen. Er hielt Judith aus der Rechtsabteilung auf Abstand, obwohl sie eigentlich ganz hübsch war und eine offensichtliche Schwäche für ihn besaß, vielleicht gerade deshalb, weil sie es nicht verdient hätte, ständig mit einer Person verglichen zu werden, die er auf ein Podest gestellt hatte. Und nun war er da, der eine Moment, um endlich aus der Gesichtslosigkeit eines heimlich verliebten Theaterbesuchers hervorzutreten.
„Machen Sie sich über das Geld keine Gedanken“, hörte er sich sagen. „Das Wichtigste ist, dass Sie sich nichts getan haben. Darf ich Sie in ein Krankenhaus bringen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin okay“, sagte sie und zupfte sich die feinen blonden Strähnen zurecht, die wirr um ihr Gesicht herumstanden. Er hätte sie so gerne in den Arm genommen.
„Dann …“, jetzt oder nie, dachte er dann und nahm all seinen Mut zusammen. „Darf ich Ihnen vielleicht ein Getränk spendieren? Auf den Schreck?“
Sie sagte ja, doch statt in die Bar an der Ecke gingen sie in eine Pizzeria zwei Querstraßen entfernt. Sie überredeten erst den Kellner und dieser den Koch, ihnen trotz der späten Stunde noch zwei Pizzen zu servieren, tranken sauerschmeckenden Hauswein, boten sich das Du an und unterhielten sich über ihren Tanz, ihr Schauspiel, ihre Stücke, ihre Kollegen, ihr Theater.
Sie stamme aus einer alten Artistenfamilie, erzählte sie. Aus einer, in der bereits die Kinder sechs Stunden am Tag trainierten. Und sie liebe das fahrende Leben, aber damit sei kein Geld zu verdienen, nicht mehr jedenfalls, also habe sie sich dazu entschlossen, in die Stadt zu gehen und das Glück in der Schauspielerei zu suchen. Er konnte sein Glück kaum fassen: Das war ihr Leben, über das er drei Jahre lang gerätselt hatte, all die Details, die er sich stets nur hatte ausmalen können, und jetzt war er Schlag auf Schlag mittendrin in ihrer Kindheit, ihren Erinnerungen, ihren Gedanken.
„Das Problem ist“, sagte sie zwischen zwei Schlucken Hauswein, „dass damit auch kein Geld zu verdienen ist. Nicht mehr jedenfalls.“
„Aber das ist doch Ihre Leidenschaft“, sagte er, in der verzweifelten Absicht ihr deutlich zu machen, wie sehr er ihre Arbeit schätzte. „Das ist doch das, wofür Sie brennen, wofür Sie leben! Die Theaterkunst!“
Er brauchte nicht lange, um festzustellen, dass er etwas Falsches gesagt hatte: Ihr Blick lag irgendwo zwischen amüsiert und irritiert.
„Oh, Theodor, mein Herz, mein Alles!“, äffte sie sich selbst nach. Legte eine Hand an die Brust und die andere an die Stirn, und ihre Stimme war so laut und spöttisch, dass das Pärchen am Nachbartisch zu kichern begann. „Ein einz’ges Wort von dir genügt!“
„Um ehrlich zu sein“, sagte sie dann, „kann ich den Rotz, den ich da von mir gebe, selbst nicht mehr hören. Es wäre jedenfalls sehr traurig, wenn es das wäre, wofür ich lebe. Das ist keine Theaterkunst, wie du das nennst, das ist einfach nur ein riesiger Haufen Scheiße, der dich aussaugt und dich jeden Monat weiter davon entfernt, deine Rechnungen zu bezahlen.“
„Aber … naja, jedenfalls finde ich deine Art zu singen sehr schön.“
Jetzt brachen endgültig alle Dämme und sie lachte los, als hätte er einen großartigen Witz zum Besten gegeben. Als sie sich wieder beruhigt hatte, prostete sie ihm zu, während ihr Blick gleichzeitig durch ihn hindurchglitt.
„Ich kann überhaupt nicht singen“, sagte sie dann. Es klang wie eine nüchterne Feststellung.
„Aber ja doch, ich finde es wirklich total schön“, sagte er, doch etwas in ihm fühlte sich plötzlich seltsam an. Wie eine zähe Flüssigkeit, die sich den Weg vom Scheitel durch den Kopf, die Speiseröhre und den Magen bahnte. Und dort ein dumpfes, brennendes Gefühl hinterließ.
„Quatsch“, winkte sie ab. „Glaub doch nicht alles, was man dir erzählt. Ich kann dir sagen, wie der Hase läuft: Hinter der Bühne steht die dicke Rita, die keiner sehen will, die ungerechterweise aber über ein ganz entzückendes Singstimmchen verfügt. Und ich stehe vorne auf der Bühne und unterhalte die Leute, indem ich tanze und meine Lippen bewege.“
„Das … ich … oh.“ Jetzt wusste er noch weniger als zuvor, was er sagen sollte. Und das Schlimmste daran: Ihr Geständnis schien ihr nicht ansatzweise peinlich zu sein. Im Gegenteil: Sie schien es bereits wieder vergessen zu haben. Spielte gleichgültig mit ihrem Handy, verteilte Likes auf Instagram und prüfte die Aktivität auf ihrem eigenen Profil, das er schon viele, unzählige Male aufgerufen und durchgescrollt hatte. Diese Frau, bei deren Anblick er über Monate und Jahre hinweg alles um sich herum vergessen hatte, saß ihm endlich gegenüber. Und doch fühlte es sich so ganz anders an, als er es sich immer erträumt hatte.
Sie verfielen in Schweigen, bis die erlösende Pizza kam.
„Zweimal Margherita mit frischen Tomaten und Basilikum“, sagte der Kellner freundlich.
„Was ist das denn?“, blaffte sie und legte endlich ihr Handy beiseite. „Ich habe Salami bestellt.“
„Ja, Signora, es tut mir leid, aber die Küche war bereits geschlossen und die Salami leider aus. Ich kann Ihnen noch eine Karaffe vom Hauswein bringen, aufs Haus, natürlich …“
„Auf gar keinen Fall esse ich das Zeug“, sagte sie entschlossen. „Das ist eine Unverschämtheit. Ich habe Salami bestellt!“
„Nun, aber wir haben leider keine Salami mehr …“
„Das ist mir doch egal. Es ist Ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass ich als Gast bekomme, was ich will. Oder mit was beschäftigen Sie sich hier sonst den ganzen Tag so?“
„Magst du denn keine Pizza Margherita?“, mischte Andreas sich vorsichtig ein.
Sie sah ihn verständnislos an. „Jeder mag Pizza Margherita. Aber es geht ums Prinzip!“
Es war nichts zu machen. Sie ließ die Pizza zurückgehen und bestand darauf, trotzdem eine Kanne Hauswein als Entschädigung zu erhalten. Als der Kellner diese servierte, kam ihr kein Wort des Dankes über die Lippen.
Er konnte das Gefühl des Schams nicht abstreifen, als er sie wenig später, nach weiteren zähflüssigen Gesprächen, nach Hause fuhr. Während er darauf wartete, dass sie ausstieg, stellte er den Motor nicht ab. Doch sie fing wieder an zu reden, sagte, es sei ein lustiger Abend gewesen, und sah ihn an, mit ihren schwarzen Augen und dem blassen Gesicht, das nun ein bisschen animalischer, ein bisschen breiter, ein bisschen unreiner wirkte. Ob er mit nach oben kommen wolle, wollte sie wissen. Sie lächelte und er wusste, das hier war sein Moment. Der Moment, von dem er seit seinem ersten Besuch im Tanztheater geträumt hatte, den er nicht abschlagen konnte, um keinen Preis. Einmal neben ihr einschlafen, einmal ihr Gesicht sehen, wenn er am Morgen die Augen aufschlug. Sie hatte ihn nicht einmal nach seinem Beruf gefragt oder ob er eine Freundin hatte. Und obwohl sie nichts gegessen hatte, hatte sie etwas Grünes zwischen den Zähnen.
„Ich muss morgen früh raus“, sagte er und starrte auf seine Hände, die das Lenkrad so stark umklammerten, dass die Fingerknöchel ganz weiß waren. Nachdem er abgelehnt hatte, fing sie an zu lachen. Warum er denn bitteschön alles so ernstnehme, so eine sei sie doch gar nicht, er solle sich nicht so viel einbilden. Sie stieg aus, ohne sich für die Pizza oder seine Nachsicht bezüglich des Autos zu bedanken, und er brauste davon.
Als er am nächsten Tag vor der Autowerkstatt stand und die Reparatur des Wagens abwartete, nahm er sich vor, Judith aus der Rechtsabteilung zu einem Kaffee einzuladen. Das Theater besuchte er nie wieder. Der Platz auf dem Podest blieb leer.