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Old Dog
Harris saß in seiner Zelle und starrte die kalte weiße Wand an. Putz war abgebröckelt und verwandelte sie in ein abstraktes Gemälde. Er glaubte, ein kindliches Gesicht oder eine kleine Hand in den grauen Formen zu entdecken, aber in dem Moment wurde die Deckenbeleuchtung angestellt und das Hirngespinst verschwand. In allen anderen Zellen in seinem Block gingen ebenfalls die Leuchtstoffröhren knacksend an und schattenhafte Figuren begannen überall aufzustehen und an die Gitter zu gehen. Alle trugen die gleichen grau-blauen Overalls. Harris blieb sitzen, ihm war es mittlerweile egal, ob es nur wieder Frühstück gab oder sie alle hingerichtet wurden, was machte es schon für einen Unterschied. Er strich sich über sein unrasiertes Gesicht, fühlte seinen struppigen, nun viel zu langen Bart zwischen den Fingern. Ich bin einfach nur noch alt und verbraucht, rauschte es durch seinem Kopf.
Ein humanoider Roboter betrat den Gang zwischen den Zellen und schob einen riesigen Servierwagen vor sich her. Durch einen Lautsprecher im Mundbereich begrüßte er, wie immer äußerst freundlich, die Gefangenen.
„Guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich hoffe, sie hatten eine angenehme Nachtruhe. Das Frühstück ist fertig. Heute gibt es Weizenkleie mit Vitaminzusätzen und ein wenig gesüßtes Weizengebäck zum Nachtisch.“
„Schon wieder Weizenscheiße“, beschwerten sich die ersten Gefangenen in den Zellen nahe am Eingang.
„Was der Mensch sät, das wird er ernten“, konterte der Roboter in einem fröhlichen Ton und beförderte in Rekordtempo weitere Frühstückseinheiten in die Zellen.
Ein Tablett rutschte in Harris‘ Zelle und blieb vor seinen Füßen liegen. Der Hunger treibt es rein. Er nahm den Löffel und fing an seine Weizenkleie zu kauen. Er blickte zur Wand und dachte daran, wie er früher Lisa Frühstück gemacht hatte. Sie mochte Corn Tops immer gerne, oder waren es Corn Crunchs gewesen? Er wusste es nicht mehr. Es war nun fast sechs Jahre her, dass er sie zuletzt gesehen hatte, damals war sie neun Jahre alt gewesen. Ein neun Jahre altes Mädchen, als diese Dinger sie von mir wegnahmen.
Es war ein fast sommerlicher Tag, als die Gefangenen im Hof des Lagers die Runde gingen. Über die Lautsprecher kam Easy Listening Musik. In einer Ecke des Lagers gab es Fitnessgeräte, es war sogar ein Volleyballfeld aufgebaut worden. Die Muskeln trainieren, den Körper am Leben erhalten. Wozu das alles? Warum machen sie nicht einfach Schluss mit uns? So ging es Harris durch den Kopf, als er neben einem glatzköpfigen Mann vorbeiging, der Gewichte hob. Er blickte hoch zur Überwachungslounge, wie sie es hier unten nannten, und versuchte auszumachen, wer wohl hinter der Glasscheibe stehen und auf sie herab sehen könnte. Manchmal kamen sie, diese Dinger, hierher und begutachteten sie. Sie wollen wohl ab und zu mal nachsehen, ob die Roboter ihre Nahrung gut gemästet haben, dachte er dann immer. Aber diese Theorie machte nur wenig Sinn, genau wie alle anderen. Er wusste nur, dass sie ihre Kinder genommen hatten. Was haben sie mit unseren Kindern gemacht?
Plötzlich wurde er von links angestoßen. Es war Berny.
„Hey Harris, du alter Hund. Hast du schon Staffel drei von Realm of the Stranger geschaut?“, sagte er beiläufig.
„Ich schau mir nichts auf dem dämlichen Apparat von denen an. Das ist doch nur Propaganda.“ Da glotze ich lieber die ganze Nacht lang die Wand an.
„Dreh mir nicht durch, Harris.“, sagte Berny und rannte zu einer anderen Gruppe, um sich mit denen über Realm of the Stranger auszutauschen. Es war eine alte Serie, es wurden ja eh keine neuen mehr produziert. Warum sollte man sich den alten Scheiß noch ansehen. Seit sie hier waren, war eh alles anders. Es macht alles keinen Sinn mehr, selbst der Name der Show war sinnentleert.
Er dachte wieder an Lisa. Das letzte mal als er sie gesehen hatte wollte sie ihn dazu überreden ein neues Auto zu kaufen, etwas modernes. "Verkauf die alte Schrottmühle, Papa." sagte sie ihm. "Geh wenigstens ein bisschen mit der Zeit."
"Einem alten Hund kann man keine neuen Tricks mehr beibringen" antwortete er wie immer darauf. Während er gedankenverloren über den Hof schlenderte bemerkte er etwas im Augenwinkel. Oben in der Lounge. Plötzlich sah er etwas hinter der Glasscheibe. Es war eins der Dinger und neben ihm stand ... Nein, das kann nicht sein ... neben ihm stand ein Teenager. Ein junges Mädchen. Sie schauten auf die Gefangenen herab. Das Mädchen sagte etwas zu dem Ding. Und dann, dann lächelte sie.
„Harris, hey Harris!“, kam es aus seiner Nachbarzelle. Es war Berny. „Hast du das Mädchen gesehen, Harris? Ich habe es dir gesagt, sie haben unseren Kids eine Gehirnwäsche verpasst. Die sind jetzt auf deren Seite. Komplett indoktriniert und so.“ Diesmal könnte er sogar mal recht haben, schoss es Harris durch den Kopf. Was haben sie mit Lisa gemacht? Ist sie jetzt auch eine von denen?
Auf einmal ertönte ein Signalton und das Licht wurde heller. Ein Roboter kam in den Gang und rief einen Namen auf. „Peter Slavik“. Eine Zellentür ging auf und Peter Slavik wurde abgeführt. Das ist ungewöhnlich. Etwa jede halbe Stunde wurde ein weiterer Gefangener aufgerufen. Mehr und mehr Roboter kamen und gingen den Gang auf und ab. Berny brach in Panik aus. „Jetzt ist Erntezeit, Harris. Das war’s. Mach deine Gebete. Oh, Gott, sie werden uns zu Dosenfutter verarbeiten.“ Dann wurde auch er aufgerufen und abgeführt. Er wehrte sich mit Armen und Beinen, wollte in seiner Zelle bleiben, aber die Roboter verpassten ihm ein Beruhigungsmittel und schleiften ihn dann den Gang herunter. Mach’s gut Berny, dachte Harris nur und starrte die Wand an. Dann fiel endlich sein Name: „Harris Braun“. Er ging freiwillig mit und wurde in einen kleinen Verhörraum gebracht. Ein Tisch, zwei Stühle, standen darin. Er setzte sich und wartete ein paar Minuten. Die Tür ging auf und ein junges Mädchen betrat fast schüchtern den Raum. Sie hatte ihr langes rotes Haar zu einem Zopf gebunden, dazu nur ein weißes T-Shirt und eine alte Jeans. Aber es war nicht das Mädchen vom Hof - es war Lisa.
Erst war es fast wie ein Schock gewesen. Aber Lisa hatte sich schnell gefangen. Sie setzte sich gegenüber von ihrem Vater und sah ihn sich genau an. Er war natürlich etwas älter geworden, aber sonst sah er immer noch aus wie ihr Vater.
„Hallo Papa. Wie geht es dir?“, fragte sie vorsichtig „Ich hoffe, sie haben dich gut behandelt.“ Er starrte sie fassungslos an. Ihre braunen Augen.
Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck zu einer ängstlichen, verwirrten Grimasse. „Lisa... Lisa!“, stammelte er „Bist du es wirklich? Oder bist du nur eine gehirngewaschene Marionette von denen? Bist du noch die Alte? Oder nur ein Gespenst?“
„Nein, ich bin nicht mehr die Alte. Ich bin aber noch ich.“, sagte sie und versuchte dabei liebevoll zu lächeln. „Aber erst zu dir. Ich hoffe dein Quartier war nicht all zu ungemütlich.“
„Quartier? Es war eine Zelle. Ich hatte ein Bett, einen Fernseher, eine Toilette, es gab Essen, ich hatte sogar eine Videospielkonsole. Aber ich war ein Gefangener.“
„Geht’s dir gesundheitlich gut?“
„Gesundheitlich? Scheiße, ich weiß nicht was die ins Essen tun, aber ich bin nicht einmal krank geworden. Nichtmal eine Erkältung oder so was in sechs Jahren. Lisa, was haben die mit uns vor?“
„Mit euch? Gar nichts.“ Lisa versuchte, erneut zu lächeln. „Wir haben uns dafür eingesetzt, dass ihr eine kleine Wohnsiedlung bekommt. Mit eigenen kleinen Häusern, Gärten, einem Park. Eine richtige kleine Stadt!“
„Dürfen wir diese Stadt dann auch verlassen? Bekommen wir Autos? Dürfen wir reisen und uns frei im Land bewegen?“, fragte sie ihr Vater fast schon aggressiv.
„Nein, das leider nicht. Ihr könntet zu viel wieder kaputt machen.“, sagte sie freundlich.
„Kaputt machen? Du sprichst zu mir wie zu einem Kind. Lisa, was haben sie mit dir gemacht?“
„Sie haben mir - sie haben uns die Augen geöffnet.“ Lisa holte Luft. „Vater, wir waren dabei den Planeten zu zerstören, uns selbst zu zerstören. Sie sind gekommen um uns zu retten.“
„Mir ging es gut, bevor die gekommen sind. Mir ging es bestens. Sie haben unsere Familie auseinander gerissen, mehr haben sie nicht gemacht.“, ihr Vater war nun richtig wütend.
„Glaub es mir oder glaube es nicht. Aber dem Planeten geht es besser. Wir haben in den letzten fünf Jahren den CO² Ausstoß fast auf Null reduziert. Das Klima fängt an sich zu beruhigen. Wir haben die Meere von Plastikmüll gereinigt. Wir produzieren so gut wie keinen Müll mehr. Unsere Energie bekommen wir von der Sonne. Wir versuchen Natur und Technologie in Einklang zu bringen.“
Harris konnte es nicht fassen. „Sie haben dich zu einem Öko gemacht. Was ist denn das für eine Gehirnwäsche?“, fragte er ungläubig.
„Wir haben auch die ganzen Waffen, Bomben und Militärfahrzeuge verschrottet.“ ,sagte sie kühn, „Sie haben mich auch noch zu einem Pazifisten gemacht.“
Harris glotze sie nur noch an. „Hätte ich meine AR-15 noch, hätte ich ja jetzt leichtes Spiel. Ich würde sie alle über den Haufen schießen und sie könnten sich nicht mal wehren.“
„Vater. Sie haben uns gelehrt nach innen zu schauen, uns selbst zu reflektieren, unser Ego zu überwinden. Neid, Gier, Hass, Egoismus. Wir haben uns davon frei gemacht. Der menschliche Geist muss sich weiterentwickeln. Niemand braucht mehr Waffen.“
„Hört sich an als würden deine neuen Freunde von den sieben Todsünden predigen“, sagte Harris ätzend, er konnte das Ganze nicht glauben, wo war sein kleines Mädchen geblieben, was war das hier für eine seltsame Komödie?
„Ich hatte gewusst es würde schwierig werden, gerade bei dir, Vater. Du warst ja schon vor dem Besuch der Meinung, dass früher alles besser war.“
„Und, schau dir an, wo wir gelandet sind! Ich hatte ja wohl recht.“
„Wo du gelandet bist...“, korrigierte sie ihn. Sie holte kurz Luft. „Sie werden bald wieder gehen. Und dann müssen wir wieder alleine klarkommen. Aber wir Jungen haben nun das Wissen und die Mittel das zu schaffen. Außerdem werden sie uns die Roboter hier lassen, die helfen uns beim Aufräumen, der Landwirtschaft und den ganzen Bautätigkeiten.“
„Die Roboter...“, Harris spuckte angewidert aus, „Was bauen die denn Schönes?“
„Zum Beispiel dein neues Zuhause, Vater. Alles nachhaltig, ein schönes Holzhaus. Hätte früher richtig Geld gekostet. Ach ja, das Geld haben wir nebenbei auch abgeschafft.“ Sie stand auf und machte sich bereit zu gehen. „Ich komme dich nächstes Jahr in der neuen Siedlung besuchen, vielleicht können wir dann besser reden. Vater.“
Harris wollte sie noch nicht gehen lassen, nicht nach all den Jahren. War das wirklich Lisa? Er musste noch eine Frage loswerden. „Warum sind sie wirklich gekommen? Warum wollen sie uns denn retten?“, das letzte Wort sprach er verächtlich aus, „So wie du mit mir redest hätten wir es doch verdient unterzugehen.“
„Ja, vielleicht schon.“, sagte sie ruhig, „Vielleicht hätten wir es verdient. Aber hätte es der Rest des Planeten auch verdient zusammen mit den Menschen unterzugehen?“ Sie blickte ihn an. „Sie waren allein im All. Sie haben uns gesehen und beobachtet. Seit längerem schon. Wir waren die einzige intelligente Spezies, die sie neben sich da draußen gefunden hatten. Sie haben lange diskutiert ob sie es zulassen sollen das wir uns selbst zerstören. All die Kultur, die Kunst, die Musik, die wir geschaffen hatten. All das Leben auf diesem Planeten, die unzähligen Pflanzen und Tierarten. Es war eine knappe Entscheidung, aber sie hatten sich dazu entschlossen uns zu helfen, einzugreifen.“
„Wir hätten das auch ohne sie hinbekommen.“, sagte Harris nur, „Ich habe es immer irgendwie hinbekommen.“ Traurigkeit übermannte ihn und er kämpfte gegen die Tränen.
„Sie hatten mehr Vertrauen in die Jugend, dass wir es verstehen würden, dass wir offen für Veränderung sein würden.“ Sie blickte ihn mitleidig an. Sah in seine verzweifelten, feuchten Augen. Er verstand nicht, was er falsch gemacht hatte. „Bei den Alten...“, sie stockte, „Papa, vielleicht gibt es ja noch Hoffnung für euch.“ Sie stand in der Tür und lächelte ihn an. „Einem alten Hund kann man vielleicht doch noch neue Tricks beibringen.“ Als sie die Tür schloss, brach er in Tränen aus.