Mitglied
- Beitritt
- 24.08.2020
- Beiträge
- 485
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Orela, die zweite Tochter der Muschelkönigin
Zwischen algenbewachsenen Klippen und Korallenwäldern erhob sich tief im Meer verborgen ein prachtvolles Schloss. In alten Zeiten ward es aus Tausenden von Muscheln erbaut. Zart in Perlmuttfarben eingetaucht schimmerte es in silbernem Glanz durch die Wellen. Kleine Aussichtstürme schmückten den Palast, an deren Balustraden man weit in das Wasser blicken konnte. Kunstvoll emporgewundene Schneckenhäuser bildeten die Dächer der Türme. Hier lebte die Muschelkönigin mit ihren drei Töchtern. Der Muschelkönig war vor vielen Gezeiten zu einer Reise durch sein Reich aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt. Um ihn zu finden, sandte die Königin Heerscharen von Fischen aus. In allen sieben Weltmeeren suchten sie nach ihrem König.
Viele Zeiten vergingen und ein Heer nach dem anderen kehrte erfolglos zurück.
Verzweifelt schwamm die Königin zu Poseidon und bat ihn: „Bitte!, großer Herrscher, helft mir: Nur Ihr seid in der Lage, meinen Mann zurückzubringen.“
Der Meeresgott schüttelte sein mächtiges Haupt, „es liegt nicht in meiner Macht, dir diesen Dienst zu erweisen. Doch ich will etwas anderes für dich tun, wenn die Zeit gekommen ist, werde ich drei Wirbel aussenden. Im kreisenden Wasser der Weisheit, wird jede deiner Töchter eine Gabe erhalten.“
Bekümmert reiste die Königin nach Hause. Das Versprechen Poseidons verschwieg sie ihren Töchtern.
So wuchsen die Meerjungfrauen heran.
Lou, hieß die älteste. Sie besaß Augen blau und tief wie das Meer. Ihre hellen Haare fielen in Wellen über die schmalen Schultern und reichten bis zu dem zierlichen Fischschwanz, dessen grüne Schuppen wie eine Wiese im Morgentau glänzten.
Die mittlere Prinzessin wurde Orela genannt. Haar, so braun wie das Fell eines Rehs, umrahmten ihr blasses Gesicht, aus dem große dunkle Augen strahlten.
Althea, die jüngste und lebhafteste, stand den Schwestern an Schönheit in nichts nach. Lockige Haare, leuchtend rot wie die untergehende Sonne, bedeckten die zierliche Gestalt. Grün wie Seegras blickten ihre Augen stets wachsam und wissbegierig umher. So verschieden die Schwestern an Aussehen und Gemüt waren, sie hingen mit inniger Liebe aneinander und verbrachten jede Stunde des Tages zusammen. Oft langweilten sie sich im Schloss. Die Königin hatte angeordnet, dass die Prinzessinnen sich außerhalb des Palastes nur im königlichen Garten aufhalten durften. Hier wuchsen die schönsten Korallen in allen Farben und Formen. Verschiedenartige Fische schwammen zwischen Seegras und Algenwiese. Für die jüngste gab es nichts Schöneres, als in dem herrlichen Garten zu spielen.
„Lou, Orela, bitte spielt mit mir Verstecken!“ Die Schwestern konnten dem Nesthäkchen keinen Wunsch abschlagen. Lou hielt sich die Hände vor die Augen und begann zu zählen: Eins, zwei, drei, vier …
Althea suchte hinter dem Korallenriff ein Versteck. Hier schimmerten Schalentiere in vielen Größen und Formen. Sie öffnete eine Muschel und schlüpfte hinein.
Orela schwamm zum Anemonenhain und kroch zwischen die langen Tentakeln der Blumentiere. Geduckt lauschte sie. Ob Lou schon nach ihr suchte? Aus der Ferne hörte die Prinzessin ein leises Grollen. Neugierig hob sie den Kopf. Das Grollen schwoll zu einem unheilvollen, lauten Getöse an. Ein wilder Anemonentanz begann, hart peitschten ihr die Tentakel ins Gesicht. Orela wollte zurück ins Schloss schwimmen, als ein heller Wasserwirbel vor ihr auftauchte. Vor Angst zitternd drückte sich die kleine Meerjungfrau tiefer zwischen die Anemonen. Das kreisende Wasser blieb stehen. Furchtsam drehte sie sich um. Tausende kleiner Lichter schwammen aus dem Wirbel auf sie zu und hefteten sich an ihren Körper. Mit offenem Mund staunte sie, wie die Lichter mit ihr in den Wasserwirbel stiegen und der Kreisel ins tobende Meer schwamm.
Vom höchsten Turm des Schlosses aus beobachtete die Muschelkönigin das Geschehen. Sie sah, wie das Meer so dunkel wie ein Tintenfass wurde. Wie es sich mit lautem Getöse wild aufbäumte. Sie sah, wie die drei Wasserwirbel schnell näherkamen und im Garten stehen blieben. Ein tiefer Seufzer entfloh den Lippen der Königin. Jetzt war es also so weit, der Meeresgott ließ ihre Kinder holen. Schweren Herzens beobachtete sie, wie der Wirbel aus dem Norden, in dessen Mitte das Polarlicht in grellgrünen, veilchenblauen und rosaroten Farben tanzte, ihre älteste Tochter Lou umfasste und mitnahm. Der Wasserwirbel aus dem Osten, der im warmen Leuchten des Morgensterns strahlte, hob Orela aus den Anemonen. In einem Licht, wie von Tausenden Glühwürmchen begleitet, verschwand die Prinzessin in der Mitte des Wirbels, der sie davontrug. Tränen rannen der Königin über das Gesicht, als sie sah, wie der Südwirbel ihre Jüngste erfasste, die Muschel anhob und sie in eine kreisend grüne Wassersäule zog und mit ihr davon wirbelte. Die Königin wandte sich ab, sie würde den schnellsten Fischen befehlen, ihre Töchter zu suchen.
Stunden später hielt das kreisende Wasser an. Die Lichter sanken mit Orela auf den Meeresboden. Sie lösten sich und stiegen zurück in den Wirbel, der mit ihnen verschwand. Verwirrt drehte Orela sich um, Algenbäume, wohin sie blickte.
„Wo kommst du den her?” Ein feines Stimmchen drang an ihr Ohr. Suchend schaute die Meerjungfrau sich um. Doch so sehr sie sich auch drehte, oben und unten suchte, sie sah nicht, wer zu der Stimme gehörte. „Wo bist du?“
„Na hier, vor deiner Nase. Um genau zu sein, auf einem Blatt über deinem Kopf.“ Orela blickte nach oben.
„Hallo, hier.“
Sie erkannte auf der Alge eine winzige, grüne Schnecke.
„Ja, unsereiner wird gern übersehen.“
„Du bist auch fast unsichtbar, so grün wie das Blatt!“
„Ich heiße Elysia und wer bist du?“ Neugierig streckte die Schnecke ihre Fühler aus. „Bist du ein Fisch?“
Orela hielt sich die Hand vor den Mund und gluckste, mit einem Fisch war sie noch nie verwechselt worden. „Ich bin eine Meerjungfrau und Prinzessin Orela.“
Beeindruckt neigte Elysia die Fühler. „Oh, eine Prinzessin. Was macht Eure Hoheit hier im Algenwald?“
„Ein Wirbel hat mich hergetragen und jetzt will ich wieder nach Hause.“
„Wo bist du denn zu Hause?
„Im Muschelmeer!“
„Ist es da grün?“
„Nein, da gibt es keinen Algenwald.“
„Dann kenne ich es nicht.“ Sanft bewegten kleine Wellen die Blätter der Algen. Elysia zog ihre Fühler ein und kroch eilig auf die Unterseite des Blattes. „Schnell, du musst dich verstecken, der Calypso kommt.“ Immer heftiger schaukelten die Algenbäume. Aufgeregt wippten die Fühler der kleinen Schnecke unter dem Blatt hervor. „Schnell verschwinde, sonst wirst du gefressen!“
„Wo soll ich denn hin?“ Der ganze Wald schwankte hin und her. Orela blickte sich um, aus welcher Richtung mochte das Wesen wohl kommen. Etwas Blaues, rund wie eine Perle, doch tausendmal größer, tauchte zwischen den Blättern auf. Es öffnete sein riesiges Maul und ein lautes „Au, Aua, Auh“ war zu hören. Obwohl das große Geschöpf ihr Angst machte, schaute sie es genauer an. Seltsam, es besaß keine Zähne. Große, dunkle, hervorstehende Augen blickten in ihre Richtung. Der Riesenperlenkörper war von Wunden übersät. Sein halbmondförmiger Fischschwanz schlug aufgeregt hin und her. Blitzschnell schoss eine lange, blaue Zunge aus dem Maul und umwickelte einige Algenblätter.
„Halt, sofort aufhören!“ Erschrocken schwamm die kleine Meerjungfrau zu der Zunge und zog mit beiden Händen daran. „Du tust Elysia weh. Hey, du Clypso, lass das los!“ Mit einem Ruck verschwand die Zunge wieder. Dafür bewegten sich große Glupschaugen, die an langen Fühlern hingen, auf Orela zu.
„Ich heiße C a l y p s o. Elysia, wer ist Elysia?“
„Eine Schnecke!“
„Ihhhhhh“ das Ungetüm kullerte im Kreis, wobei seine Augen auf und nieder tanzten. „Wie eklig, ich esse keine Tiere!“ Calypsos Fühleraugen suchten die Blätter ab. Die Perle wurde hellblau. „Mir wird übel, ich mag nur Algen. Von Tieren bekomme ich schreckliches Bauchweh.“
„Da ist unsereins doch noch zu etwas nütze!“ Elysia, kam nach oben gekrochen und strahlte.
„Warum machst du uns dann Angst und brüllst so laut und rast durch den Algenwald?“
„Weil es wehtut und ich schnell wieder wegwill.“
Orela sah, wie die Blätter seine Wunden streiften. „Du Armer, um Algen zu essen kommst du hierher und du schreist, weil deine offenen Stellen schmerzen. Wenn ich dir nur helfen könnte.“ Die Prinzessin erschrak, sie wollte den Arm heben, um die große Perle zu streicheln, doch er ließ sich nicht mehr bewegen. Ihr ganzer Körper erstarrte und ohne, dass sie es wollte, schlossen sich ihre Augen. Es war, als ob sie träumte. Sie sah Calypso, auf eine Felswand zuschwimmen und sich durch einen schmalen Höhleneingang zwängen. Die Höhle war so klein, dass er bei jeder Bewegung an die Felswände stieß und sich verletzte. Orelas Blick glitt weiter, durchdrang die Felswand und sie sah eine zweite Höhle. Doppelt so hoch wie die erste und einhundertmal größer. Ein kleinerer Calypso schlief hier auf einem Berg von Algenblättern.
„Prinzessin, Prinzessin.“ Die kleine Schnecke rief, so laut sie konnte.
„Prinzessssssssin!“, hörte sie auch Calypso rufen. Orela öffnete die Augen, sie konnte sich wieder bewegen.
„Was war denn das, du bist eingeschlafen und hast gelächelt.“ Sie blickte in Calypsos große Glupschaugen, die sich vor ihrer Nase neugierig hin und her bewegten. „Keine Ahnung, was das war, aber ich habe deine Höhle gesehen. Die ist viel zu winzig für dich.“
„Meine Mama hat mich dort zurückgelassen, als ich noch klein war. Ich bin in der Höhle geblieben und habe darauf gewartet, dass sie zurückkommt. Die anderen Tiere fürchten sich vor mir, ich komme nur zum Fressen aus meiner Höhle.“
„Ich habe einen anderen Calypso gesehen, darum musste ich auch lächeln, es sah so lustig aus, wie er auf einem Berg Algenblättern schlief und drohte herunter zu rollen.“
Calypso wurde ganz aufgeregt, wie ein Hüpfball schwamm er auf und ab. „Wo ist er? Wo hast du ihn gesehen?“
„In einer Höhle auf der anderen Seite des Felsens.“
„Ich muss ihn finden, danke, vielen Dank, Prinzessin.“ Wie eine Kanonenkugel schoss er davon. Elysia begann in wilder Gier, das Algenblatt anzuknabbern auf dem sie saß. „Das gibt es doch nicht, mampf, eine Meerjungfrau, die eine Prinzessin ist, mampf, mampf, kann durch Felswände schauen, mampf, schluck, und sagt einem Ungeheuer, das keins ist, weil es keine Tiere frisst, wo ein anderes Nichtungeheuer schläft, mampf, ich glaube, ich muss jetzt eine ganze Woche lang essen, bis ich das verdaut habe.“
Orela, die selbst nicht wusste, was sie von all dem halten sollte, musste laut lachen.
„Ei dr bibsch, das klingt aber hibsch.“ Hörte sie es hinter sich.
Ein Seedrache schwamm auf Elysia zu. Er war nur halb so groß wie Orela, hauchdünn und wedelte mit Flossen, die aussahen wie kleine Federn.
„Ich habe sie zum Lachen gebracht!“ Elysia hörte auf zu Essen.
„Phyll, das ist Prinzessin Orela. Und, die kann durch Felsen sehn.“
„Ahh, si isch ah Orakel!“
„Nein, eine Meerjungfrau!“, erklärte Elysia ihrem Freund.
„Sie sieht durch Felsen, no isch si ach a Orakel und halt a no a Meerjungfrau!“
„Ein Orakel?“, verblüfft schaute Orela Phyll an. „Ich habe noch nie etwas von einem Orakel gehört!“
„Njohin, des isch a Orakel und ach a Drache.“
„Vielleicht kann Njohin der Prinzessin sagen, wie sie wieder nach Hause kommt, zurück in ihr Muschelmeer.“ Fragend blickte die kleine Schnecke den Drachen an.
„Oh, lieber Phyll, könnt ihr mir sagen, wo das Orakel lebt?“ Bittend streckte Orela ihm die Hände entgegen.
„Ei, net weit von do, nur oin Flosseschlag hinterm Wald.“
„Ja, dann los, Phyll, zeig es der Prinzessin. Und kommt mich bald wieder besuchen.“ Zum Abschied winkte Orela der Schnecke zu. Elysia sah es nicht, sie knabberte eifrig weiter. Die kleine Meerjungfrau folgte dem Drachen. Es dauerte nicht lange und die beiden erreichten eine hohe Felswand, die dicht mit roten Korallen bewachsen war.
„Ei, jetzt immer an dr Wand lang, bis dr Eingang kommt. Ih muss jetzt hoim, esse.“
Bevor die kleine Meerjungfrau sich verabschieden konnte, war Phyll zwischen den Algen verschwunden. Die Prinzessin schwamm an der Wand entlang und überlegte, wie groß der Eingang wohl war. Hoffentlich war der Orakeldrache nicht so winzig wie Phyll und hatte nur eine kleine Höhle. Über ihr erstreckte sich ein großer Felsspalt zwischen den Korallen, ohne zu zögern schwamm sie hinein. Geblendet schloss Orela die Augen. Hunderte von Quallen hingen von der Decke und beleuchteten die Höhle wie Kronleuchter einen Ballsaal. Das Licht brachte die Kristalle an den Wänden zum Strahlen, es funkelte und glitzerte in den herrlichsten Farben. Langsam öffnete sie die Augen, es war das schönste, was die Meerjungfrau jemals gesehen hatte. Schöner als alle Perlen im Muschelmeer.
„Guten Tag, Prinzessin Orela.“ Bei all dem Glanz hatte sie den Drachen in der Mitte der Höhle nicht bemerkt. Er war genauso klein wie Phyll.
„Woher kennt Ihr meinen Namen?“
Statt einer Antwort schwamm Njohin tiefer in die Höhle. Die kleine Meerjungfrau folgte ihm. Am Ende der Höhle befand sich ein riesiges Auge. In unterschiedlichen Blautönen spiegelte es die Farben der Meere und es schien unendlich tief zu sein.
„Das ist das Auge des Ozeans. Es kann in alle Weltmeere blicken, denn alles ist mit allem verbunden. Darin habe ich dich und deine Schwestern gesehen.“
„Wie geht es meiner Familie?“
„Ich will dir erzählen, was ich weiß: Deine Schwestern wurden ebenfalls in ein fernes Meer getragen. Poseidon hat jede von euch mit einer besonderen Gabe beschenkt. Sie zu erkennen und zu lernen, mit ihr umzugehen, das ist eure Bestimmung.“
„Ich kann durch Felswände sehn!“
Der Seedrache kicherte. „Nicht nur das, kleine Prinzessin, du kannst noch viel mehr, du bist das Orakel.“
„Kann ich im Auge des Ozeans auch meine Familie sehen?“
„Hab noch etwas Geduld, bald, sehr bald.“
„Njohin, was ist das?“ Die kleine Meerjungfrau rieb sich die Augen. „Ihr werdet durchsichtig, ich kann euch nicht mehr richtig sehn!“
„Lange schon habe ich auf dich gewartet. Alt bin ich und müde, nun kehre ich ins Urmeer zurück.“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, als er sagte: „Lebt wohl, Prinzessin Orela, Orakel der Weltmeere, Gebieterin über das Auge.“
„Halt, ich habe noch so viele Fragen!“
Es war niemand mehr da, der ihr antworten konnte. Traurig blickte sie in das Auge. „Bitte, hilf mir, zeige mir meine Mutter und meine Schwestern.“ Das Wasser in dem Auge bewegte sich, murmelnd schlug es Wellen. Zum Greifen nah, erschien der Muschelpalast, auf dessen höchsten Turm sie ihre Mutter sah. Der Prinzessin wurde es schwer in der Brust. „Ach, wenn ich dir nur sagen könnte, dass es mir gut geht. Und meine Schwestern, wo sind sie?“ Das Auge wurde trübe, nur die Umrisse eines Wals konnte sie erkennen. „Warum zeigst du mir einen Wal, ich will meine Schwestern sehen.“ Orela spürte, wie sie erneut steif wurde und ihre Augen sich schlossen. Wie im Algenwald, erschien es ihr, als ob sie träumte. Sie sah durch den Wal hindurch und in seinem Bauch saß ihre jüngere Schwester. Althea bewegte den Mund und schien sich zu unterhalten. Die grünen Augen strahlten und ihr Lächeln zeigte, dass es ihr gut ging. Die Starre löste sich und die Prinzessin blickte erneut in das ozeanblaue Auge. „Ich danke dir, meiner kleinen Schwester geht es gut, sie ist vergnügt. Jetzt zeige mir, wo sich meine ältere Schwester aufhält.“ Es blubberte und große Schwertfische erschienen, die durch brausende Wogen, schwammen. Die Prinzessin erkannte, dass es sich dabei um die königliche Garde ihrer Mutter handelte. Zwei der Fische besaßen ein Halfter das ihre Schwester lenkte. „Ach liebe Lou, wenn ich dir doch sagen könnte, dass es mir gut geht.“
„Hallo Orakel, bist du da?“ hörte sie es rufen.
„Ich komme.”
In dem prächtigen Höhlensaal schwamm ein kleiner Fisch. „Bist du das Orakel?“
„Ja“, antwortete die kleine Meerjungfrau mit fester Stimme, „das bin ich, wie kann ich dir helfen?“
„Ich bin Remora. Ein großer Fisch hat mich von meinem Rochen weggedrückt und vertrieben. Mit ihm bin ich gereist und habe ihn sauber gehalten. Dafür bekam ich von dem Rochen zu essen. Jetzt muss ich verhungern.“
„Aber nein, ich werde versuchen dir zu helfen und einen neuen Dienstherren für dich finden“, tröstete ihn Orela.
Sie wünschte sich einen Rochen zu sehen, der einen Putzerfisch brauchte. Ihre Augen schlossen sich. Im gleichen Moment erstarrte sie und erblickte einen kleinen Rochen, der an der Korallenwand nach Nahrung suchte. Die Meerjungfrau öffnete die Augen. „Schnell, kleiner Fisch, nicht weit von hier schwimmt ein Rochen, der keine Remora hat.“
Von dieser Stunde an kamen viele Fische zu dem Orakel und baten es um Rat und Hilfe. Allen konnte die Prinzessin helfen, doch sie selbst wurde immer trauriger. Im Auge des Ozeans sah sie, wie ihre Mutter vor lauter Sorge nichts mehr essen konnte.
Eines Tages geschah es, dass eine riesige silberne Muschel am Eingang der Höhle erschien. Die Schale öffnete sich und ein garstiges Fischweib stieg aus der Muschel. Auf ihrem Kopf wuchsen lange Strähnen dunklen Seetangs, dazwischen hingen kleine Muscheln, die bei jeder Bewegung aneinanderschlugen. Aus dunklen Augen sprühten winzige rote Funken. Der lange Unterkörper sah wie der Schwanz einer Muräne aus und bewegte sich peitschend auf Orela zu.
„Du bist also das neue Orakel.“ Ihre Stimme klang so tief und kalt, dass die kleine Meerjungfrau zu frieren begann. „Ich bin die Meerhexe Andoxa.“
„Wie kann ich Euch helfen?“ Mutig blickte Orela in die leuchtenden Augen. Die Hexe grinste boshaft, in ihrem schwarzen Mund glänzten, schmale spitze Zähne. „Einer meiner Ohrringe hat mir geflüstert, dass du eine Prinzessin bist.“ Sie streifte sich den Seetang hinter die Ohren. Orela sah einen klitzekleinen Calypso, der wie eine Perle, am linken Ohr der Hexe baumelte. Noch winziger, schien der am rechten Ohr zu sein. Sie musste ganz genau hinsehen um zu erkennen, dass es der gleiche war, den sie schlafend in der Höhle gesehen hatte. „Was hast du mit den Beiden gemacht?“
„Sind sie nicht allerliebst meine Ohrringe?“ Mit ihren langen Fingern tippte Andoxa die Calypsos an. Orela hörte ein leises ängstliches Piepsen. „Ich wollte eine größere Höhle, jetzt habe ich eine und noch neue Ohrringe dazu. Die Beiden brauchten nicht einmal umzuziehen.“ Die Hexe lachte, ihr Kopf und die Calypsos wackelten dabei hin und her. Entsetzt sah das Orakel, wie winzige Tränen von den Perlen tropften.
„Was willst du von mir?“ Orela hatte die Hände zu Fäusten geballt, sie wusste, gegen die Zauberkraft der Hexe konnte sie nichts ausrichten.
„Ich brauche deine Hilfe.“ Jetzt lachte die Hexe nicht mehr. Ernst und traurig sprach sie: „Meine Tochter hat die Meerhexenkrankheit, sie wird sterben, wenn es mir nicht gelingt, vor dem großen Korallenglühen einen Zaubertrank zu bereiten. Ich brauche dafür drei Tropfen Blut von einer Prinzessin. Der Trank wirkt nur, wenn ich die Tropfen freiwillig bekomme . Dafür werde ich dir einen Wunsch erfüllen.“
Die kleine Meerjungfrau überlegte, natürlich würde sie der Hexe drei Tropfen Blut geben. Doch zuerst sollte diese ihr einen Wunsch erfüllen. „Ich möchte, dass du die Calypsos wieder groß zauberst und dass sie ihre Höhle zurückbekommen. Dann gebe ich dir mein Blut.“
„Wenn das dein Wunsch ist, so will ich ihn erfüllen.“ Sie nahm die Ohrringe ab und legte sie auf den Boden. Die beiden winzigen Calypsos rollten ängstlich aufeinander zu. Orela konnte deutlich sehen, wie sie zitterten. Schrill und laut erklang die Stimme der Meerhexe: „Hexenzauber,Meeresgrund,
Calypsos wieder groß und rund.“
Funken sprühten aus ihren Augen wurden mehr und mehr. Ein roter Funkentanz umwirbelte die Ohrringe, die größer und größer wurden. „Prinzessin“, der größere Calypso schwamm auf sie zu: „Wir waren so glücklich, die große Höhle ist unser gemeinsames Zuhause geworden. Bis die Meerhexe kam und in die Höhle zog. Weil wir nicht weg wollten, hat sie uns klein gezaubert und an ihre Ohren gehängt. Der kleinere Calypso flüsterte: „Jetzt habt ihr uns gerettet, aber auch euren Wunsch verbraucht.“
„Ja“, bestätigte der größere und fügte leise hinzu: „Dabei hättet ihr euch so eine Zaubermuschel wünschen können“ und seine Augen blickten zum Eingang, dahin, wo die silberne Muschel der Hexe stand. „Sie kann euch überall hinbringen. Ihr braucht nur den Zauberspruch zu sprechen und an den Ort zu denken, wohin ihr reisen wollt und schon seit ihr dort.“
„Was gibt es da zu flüstern, deinen Wunsch habe ich erfüllt, gib mir jetzt die drei Tropfen Blut.“
Zornig drängte sich die Meerhexe zwischen sie. Ihr Körper war kalt und glitschig. Orela sah wie die beiden Calypsos zu zittern begannen. „Ihr könnt ruhig nach Hause schwimmen, ich mach das schon.“ Orela schob die beiden zum Ausgang. Sie zögerten, „los, ihr habt euere Höhle wieder und ich werde euch besuchen kommen. Da schwammen die Beiden hinaus. Die Meerhexe zog eine kleine Muschel aus ihren Haaren. „Gib mir jetzt die drei Tropfen Blut, sie klappte die Schale auf und streckte sie der Prinzessin entgegen.
„Fügt mir mit euren Zähnen eine kleine Wunde zu.“ Mutig streckte die Prinzessin ihren zierlichen Zeigefinger vor die spitzen Zähne der Hexe.
Diese biss mit einer Vorsicht, die das Orakel der Meerhexe nicht zugetraut hatte, eine winzige Wunde in den Finger.
Orela hielt den Finger über die aufgeklappte Muschel, ein roter Tropfen fiel und sogleich ein zweiter. Doch bevor der dritte Tropfen Blut in der Schale landete, zog Orela den Finger weg.
„Was soll das?“, schrie Andoxa zornentbrannt und schnaubte vor Wut.
„Nun, ich denke, ein Wunsch ist für drei Tropfen Prinzessinenblut zu wenig. Den dritten erhaltet ihr nur dann, wenn ihr mir noch einen Wunsch erfüllt.“ Die Hexe riss die Augen auf und rote Funken umsprühten die kleine Meerjungfrau. „Wie lautet der Wunsch?“
„Ich möchte deine Zaubermuschel haben.“ Zornig peitschte die Hexe mit dem Schwanz. Am liebsten würde sie das Orakel in tausend Stücke zerreißen. Sie sollte die Muschel haben, die Prinzessin wusste ja nicht, dass sie nichts damit anfangen konnte ohne den Zauberspruch.
„Du sollst sie bekommen“,doch nun gib mir den dritten Tropfen.“
Orela schwamm zu der Muschel. „Wie öffnet sie sich?„
„ Du brauchst nur dreimal auf die Schale zu klopfen.“ Die Prinzessin klopfte. Wütend sah die Meerhexe zu, wie Orela in die Muschel stieg.
„Jetzt sage mir noch den Zauberspruch, damit ich meine Familie besuchen kann.“ Andoxa streckte ihr die kleine Muschel entgegen, „dein dritter Tropfen.“ Die Meerjungfrau traute der Hexe nicht. „Zuerst der Zauberspruch, dann bekommst du den Tropfen.“
Diese wusste wohl, dass sie auch den dritten Tropfen freiwillig erhalten musste, und so knirschte sie zornig mit den Zähnen, bevor sie den Zauberspruch kreischte. „Urus, lupus, Hexenzauber,
will verlassen diesen Ort.
Urus lupus Hexenzauber,
trage mich geschwind hinfort.“
Die Prinzessin ließ den dritten Tropfen Blut in die Schale gleiten.
Sie dachte an das Schloss ihrer Eltern. Da der Zauberspruch schon gesprochen war, schloss sich die Muschel. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick und das Orakel war im Muschelpalast. Von nun an konnte sie wann immer sie wollte, zu ihrer Familie reisen.
Die Meerhexe sah sie nie wieder.