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Parkas und Tolle Tage

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11.07.2021
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Parkas und Tolle Tage

„Die Verrückten sind wieder in der Stadt.“ haben viele Alteingesessene damals bestimmt gesagt, wenn wir gekommen sind.

„Was meinst du? Denkst du, sie sind froh darüber, dass sie uns los sind? Jetzt können sie endlich unter sich sein beim Karneval.“ fragte mich mal jemand, der das Ganze damals auch mitgemacht hatte. „Aber vielleicht fehlen wir manch einem von ihnen doch?

Ich durchstöbere Youtube - Videos aus Vorwendezeiten nach Bildern von uns. Aber ich finde nichts. Ich sehe bloß Blaskapellen, verkleidete Kinder und Funkenmariechen. „Wo sind denn bloß die Parkas geblieben?“ wundere ich mich.

In den Achtzigern war doch diese mittelalterliche thüringische Kleinstadt mit ihren engen Gassen und Fachwerkhäusern* um die Karnevalszeit immer voll von ihnen. Wir waren ja Tausende, die jedes Jahr im Februar dort eingefallen sind. Nach der Wende ist das völlig weggebrochen.

Aber auf den Videos sieht man uns nicht. Wahrscheinlich haben die Einheimischen die Kamera damals nur auf ihre eigenen Leute gerichtet und das langhaarige Volk einfach übersehen.

Aber da ist etwas. Endlich habe ich in einem Video mal einen von den Grünfröschen entdeckt. Ein zerzauster Typ steht, frierend in seinen Parka gewickelt, inmitten der kostümierten Menge. Er wirkt wie ein Fremdkörper.

Diese grünen Ungetüme, die um so genialer aussahen, je zerrissener sie waren, umflatterten immer die langhaarigen Jungs, nach denen ich mir die Augen verrenkte, und die eine Atmosphäre von Freiheit verströmten. Sie waren Schmuggelware aus dem Westen und eigentlich immer zu eng oder zu weit, kosteten aber gern mal zwei Monatslöhne.

Zeitreise in die Achtziger. Ich sitze im Zug. Draußen, vor dem Fenster, ziehen schneebedeckte Berge vorbei. Ich wäre schon vorher mit den Anderen mitgefahren, aber eher habe ich keinen Urlaub bekommen. Mir gegenüber sitzen ein Mann mit Lederjacke und seine Freundin, ein hübsches Mädchen mit langen Haaren und Parka. Sie hatte mir erzählt, dass sie Krankenschwester war. Sie sehen aus wie ein typisches Hippiepärchen.

Wir hatten uns gleich an unserem Look erkannt, und die Beiden sagten: „Setz dich doch zu uns. Du willst doch auch zum Karneval.“

An der letzten Station, kurz vor unserem Ziel, ging die Transportpolizei durch den Zug. Sie wollen verhindern, dass die ganzen langhaarigen Karnevalstouristen durchkommen. „Die Ausweise bitte.“ Ich fühlte, wie meine Felle wegschwammen. „Wo fahren sie hin.“ fragen sie mich und betrachten mißtrauisch meinen Ausweis, auf dem die Zunge der Rolling Stones klebt. „Sie gehört zu uns.“ sagen die Beiden.

Der Transportpolizist läßt mich durch. Normalerweise hätte er mich aus dem Zug geschmissen, aber dann hätte er das andere Mädchen auch rausschmeißen müssen. Und das wollte er nicht, denn sie gefiel ihm, wie mir auffiel.
Dagegen mich, in der er gleich die Querulantin erkannte, konnte er nicht leiden. „Noch mal Glück gehabt.“ denke ich.

Einen Kumpel hatten sie letztes Jahr auch aus dem Zug geworfen. Er kaufte sich eine Karte und schlug sich durch die verschneiten Wälder durch.

Neben einem Anderen, der auch versuchte auf Schusters Rappen zum Karneval zu gelangen, hielt ein Arbeiterbus an. „Steig ein Junge.“ Kurz vor dem Absperrring, der die Stadt umgab, kam die Polizei und durchsuchte den Bus. „Wer ist das?“ fragten sie und deuteten auf ihn, der vom Äußeren schon krass auffiel. „Der ist einer von uns.“ sagten die Arbeiter, die auch keine Freunde der Staatsmacht waren, und er durfte passieren.

Der Karneval konnte beginnen. Ich lasse mich einfach treiben und halte nach bekannten Gesichtern Ausschau. Da sind Leute aus Berlin. Ich geselle mich dazu.

„Quasimodo, unser Schmudelkind.“ rufen die Freunde von ihm lachend. Der, der so genannt wird, hatte gerade eine aufgeweichte Semmel aus einer Pfütze gefischt und aufgegessen. Ich kenne ihn eigentlich bloß vom Sehen aus unserer Stammkneipe im Prenzlauer Berg. Er wirkte immer sehr in sich gekehrt. Man erzählte, dass er sich mit Feuer quält. Ich hatte ihn auch noch nie mit einer Freundin gesehen

Letztens habe ich mal Jemanden nach ihm gefragt und erhielt die Anwort: „Der hat sich aufgehängt. Schon vor langem.“ Unsere Szene war wohl für viele, die nicht so richtig reinpaßten, ein Auffangbecken, und das Auseinanderdriften nach der Wende haben sie nicht verkraftet und fielen in ein tiefes Loch.

Jemand aus unserer Truppe zieht vorne blank und läuft johlend durch die Menge hinter einem Mädchen her, natürlich nur im Spaß. Trotz der Kälte ist sein Glied steil aufgerichtet und schwankt wie ein Rohr. Er führt großes Kaliber, wie man sehen kann. Wir lachen uns schief. Endlich knöpft er sich die Hosen wieder zu, ehe sein bestes Teil noch nichtwiedergutzumachende Frostschäden davonträgt.

„Ich habe gerade meine achtundneunzigste Frau gehabt.“ sagt Einer, der aus einem Haus rauskommt. Er hatte eine Einheimische kennengelernt, und sie hatte ihn mit nach Hause genommen. Er scheint aber noch in Saft und Kraft zu stehen und nicht abgeneigt zu sein, aus mir die Neunundneunzigste zu machen.

Es wird Nacht, und wir suchen eine Penne. Wir, das sind ein siebzehnjähriges Mädchen, ihr Kumpel, ein väterlich wirkender, bärtiger Althippietyp, und ich. Wir Drei haben uns spontan am Bahnhof angefreundet.
Wir finden ein ausgeschlachtetes Auto ohne Fenster, das einsam auf einem Feld steht und wollen es uns gerade darin gemütlich machen, als uns eine junge Frau anspricht. „Wenn ihr wollt, könnt ihr mit zu mir kommen.“

Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. In ihrem Wohnzimmer, mit Anbauwand und Couchgarnitur, eine typische DDR Einrichtung, vielleicht vom Ehekredit gekauft, können wir auf der Auslegware schlafen.
Dort schläft schon ein anderer Karnevalstourist. Aber im Gegensatz zu uns stammt er aus der Gegend und kennt die Familie.

Die Gastgeberin übernachtet auch bei uns im Wohnzimmer auf der Couch, da sie sich mit ihrem Mann auf dem Karneval gestritten hat. „Ich lasse mich scheiden.“ sagt sie. Ihr Sohn kommt neugierig aus dem Kinderzimmer gelaufen.
So eine spontane Gastfreundschaft gegenüber Fremden erlebe ich das Erstemal. Aber an Karneval ist das in dieser Gegend so üblich. In meiner mecklenburgischen Heimat wäre sowas undenkbar. Die Leute hier in Thüringen haben eine völlig andere Mentalität.

„Sowas habe ich noch nie gesehen.“ denke ich, als ich am nächsten Tag eine Kneipe eintrete. Hier sind soviel Leute, dass man nur auf den Zehenspitzen stehen kann. Gezwungenermaßen lausche ich dem Gespräch, dass das Pärchen neben mir führt.

„Ich Armer. Womit habe ich das verdient. Meine Freundin ist Alkoholikerin.“ sagt er und fällt mit seinem Bierglas in der Hand um. Er rappelt sich wieder auf, fährt mit seiner selbstmitleidigen Tirade fort und beleidigt seine Freundin krass. Sie steht stocknüchtern neben ihm und sieht ihn schockiert an. Dann fällt er, der völlig betrunken ist, von neuem um. Vom Typ her scheinen die Beiden Studenten zu sein. Ich denke, sie, die sehr solide aussah, wird ihm verziehen haben, und sie haben geheiratet.

Männer mit den Narrenkappen, die wohl eine Art einheimische Ordungstruppe sind, haben uns mit Gesichtern, denen man ihre Abneigung ansah, spätnachts aus der großen Halle geworfen, die zu Karnevalszeiten immer das Refugium der angereisten Langhaarigen ist. Dort geht man durch Scherben und Bierkrüge fliegen durch die Luft. Ein Haufen Leute laufen mit blutigen Gesichtern rum.
Viele schlafen übermüdet auf und unter den Tischen. Trotz der widrigen Umstände fühle ich mich hier pudelwohl.

Als ich die Halle das Erstemal betrat, bot sich mir ein merkwürdiger Anblick. Ein Kumpel von mir sitzt mitten im Saal schlafend auf einem Stuhl und hält dabei ein Weinglas in der Hand. An dem Stuhl hält sich jemand fest, der im Stehen schläft. Ich kenne ihn aus Berlin, sein Gesicht ist völlig grau, und er ist um Jahre gealtert.

Die Einheimischen feiern in gesonderten Lokalitäten, zu denen wir keinen Zutritt haben und jedenfalls, ich gehe da von mir aus, auch nicht haben möchten. Für die meisten von ihnen waren wir vaterlandslose Gestalten.

In dieser Kleinstadt kannte jeder jeden, und es wurde schon das ganze Jahr für den Karnevalsumzug geprobt und Kostüme genäht.

Die ganze Stammbesatzung unserer Blueskneipe scheint vollzählig aus Berlin angereist zu sein. Die meisten sind aber schon seit zwei Tagen hier und sehen deshalb etwas derrangiert aus. Ich fange an, mich wie zu Hause zu fühlen.
Da wir nicht im Saal übernachten dürfen, müssen wir eine Penne suchen.

„Dort, in dem Abrisshaus können wir schlafen.“ sagt jemand. Dort liegt schon ein Haufen anderer Leute. „Hier, bei mir ist noch Platz.“ Die Stimme kommt mir bekannt vor. Ich schlage die obere Ecke von seinem Schlafsack ein Stück zurück und erschrecke mich. Es ist der nette Junge, mit dem ich mich heute eine Weile unterhalten habe, aber sein Gesicht ist zerschunden und blutig. Au weia. Was ist passiert? Er scheint ein Bierglas ins Gesicht bekommen zu haben. Ich schlage den Schlafsack wieder über ihn.

Wir hatten es uns gerade bequem gemacht, da wird er plötzlich taghell. Die Polizei leuchtet mit Taschenlampen in unser Quartier. Wir müssen alle raus. „Was machen wir bloß?“ frage ich.

Einer hat die Idee, die ganze Nacht mit dem Zug hin und herzufahren. Wir machen uns in Richtung Bahnhof auf. Auf dem Weg unterhalte ich mich mit Jemandem. Er ist ein freundlicher Hippietyp. Wir haben die Anderen aus den Augen verloren und laufen zu zweit durch die nächtliche Stadt.

Für uns ist der Karneval unser kleines Woodstock.
„Wir sind geboren, um frei zu sein.“ singt er. Gerade in diesem Moment kommen uns drei Einheimische entgegen und bauen sich vor uns auf. Sie wechseln einen Blick miteinander. Ich ahne Böses. Sie scheinen keine Scherbenfans zu sein. Der eine der Drei, ein gutaussehender junger Mann mit einer schwarzen Lederjacke, so um die Zwanzig, so alt wie wir, ein ganz normaler Typ, schlägt meinem Begleiter unvermittelt ins Gesicht. Als er am Boden liegt, treten sie noch auf ihn ein.
Mich lassen sie in Ruhe. Im Weitergehen rufen sie uns noch zu: „Verpisst euch von hier, ihr langhaariges Pack.“

Mich wundert, dass er gar keinen Versuch unternommen hat, sich zu verteidigen. Vielleicht ist das auch besser so, denn er ist klein und schmächtig, und sie waren durchtrainierte Typen. Aber an seiner Stelle, hätte ich zurückgeschlagen.

Ich helfe ihm vom Boden hoch. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Die Verletzungen sind nicht so schlimm, aber er ist total geschockt. Ihm ist jetzt wohl eher nach „Der Traum ist aus“ oder „Warum geht es mir so dreckig“** zumute. Der Hippietraum ist ausgeträumt, die Realität hat zugeschlagen, im wahrsten Sinne des Wortes. „Ist das hier Schwarzer Karneval?“ denke ich.

Mir fällt der Film „Orfeu Negru“ ein, den ich vor langer Zeit gesehen hatte. Er spielt auf dem Karneval in Rio. Ein schwarzes Mädchen wird von einem weißen Mann, der als Tod kostümiert ist, verfolgt. Ein Mitschüler damals war der Meinung, dass das diese Gestalt den Kolonialismus der Weißen symbolisieren soll. Für manche Einwohner dieser Karnevalshochburg stellen wir langhaarigen Parkaträger wohl sowas Ähnliches dar wie die Schwarzen für die Weißen in Rio.

Wir Beide fahren die ganze Nacht mit dem Zug hin und her. Die Stimmung ist gedrückt. Wir frieren und schmiegen uns auf der Sitzbank eng aneinander. Er will was von mir. Aber er ist nicht mein Typ.
Merkwürdigerweise wäre mir da der mit den achtundneunzig Frauen lieber gewesen. Man kann sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt.

Aber mein Begleiter muss nicht lange einsam bleiben. Im Gegenteil. In der Clique aus seiner Heimatstadt ist mir ein Mädchen aufgefallen. So, wie sie ihn angesehen hat, habe ich gemerkt, dass sie auf ihn steht, was ihm wohl gar nicht richtig bewußt war. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil ich mich irgendwie dazwischengedrängt habe.
Bestimmt ist sie nur wegen ihm mit zum Karneval gefahren und macht das alles nur wegen ihm mit. Am Nachmittag sehe ich die Beiden Hand in Hand am Rosenmontagsumzug stehen. Manchmal dauert es ein bißchen, bis bei jemand der Groschen fällt.

„Wo kommt der denn mit einmal her?“ denke ich verblüfft. Am Ende des Rosenmontagszuges läuft jemand, den ich sehr gut kenne. Es ist mein Kumpel Harry, bürgerlich Heiko. Mit ihm hätte ich nicht mehr gerechnet. Wir fallen uns in die Arme. Er hat eine lange Odyssee hinter sich, um zum Karneval zu gelangen. Dreimal haben sie ihn aus dem Zug geworfen. Ich bin froh, dass er hier ist. Ab jetzt trennen wir uns nicht mehr.

Ihre kleine Kinderhand liegt vertrauensvoll in meiner. Wir gehen durch die mittagliche Stadt. „Kommst du mit Luftballons kaufen?“ hatte sie mich gefragt und mich einfach aus der Kneipe auf die Straße rausgezerrt.
Das Kind war mir bei einem Frühschoppen in einer Kneipe aufgefallen, wo sie inmitten der Erwachsenen saß. Ich hatte schon von hochbegabten Kindern gehört, aber noch nie eines kennengelernt.

Sie ist Fünf und redet von nichts Anderem als von Nietzsche und fernen Galaxien. Die Anderen kennen sie schon und sagen nichts dazu. Aber den Leuten, die sie nicht kennen, fällt die Kinnlade runter. Jetzt gerade ist von Jesus die Rede. „So eine Hochbegabung ist ja fast wie eine Behinderung.“ sage ich zu Harry.
Sie fühlt sich unter den Erwachsenen pudelwohl und spricht mich gleich an. Ihr Stiefvater, ihre Mutter und auch ihr leiblicher Vater sind übrigens auch anwesend. Die Drei sind dicke Freunde, sodass die Kleine zwei Väter und eine Mutter hat.

Es stellt sich heraus, dass ihr Vater der Typ ist, mit dem wir heute Nacht zusammen in dem Wohnzimmer geschlafen haben. Seine Vaterschaft kann er nicht leugnen. Er hat dieselben großen braunen Augen wie seine Tochter. „Aber woher kommt ihre Hochbegabung?“ frage ich mich.

Weder an ihrem Vater, der sehr introvertiert wirkt, noch an ihrer Mutter fällt mir irgendwas Besonderes auf, außer das sie für eine Weile mit meinem Kumpel verschwunden ist.

Alle Geschäfte waren geschlossen, und wir gingen wieder zu den Anderen zurück, ohne Luftballons. Ich frage mich, was macht sie heute? Entweder, sie ist für den Physiknobelpreis nominiert, oder sie macht die ganze Gegend glücklich.

Irgendwie wollen sie ja jeden der von der Norm abweicht, auch im Positiven, entweder geigt er wie Paganini, berechnet interstellare Umlaufbahnen wie Kopernikus oder tanzt wir Nijinski, wieder auf Normalmaß stutzen, was zu Komplikationen führen kann und einen Psychoknacks auslösen kann.

Aus der Toilette in der Kneipe kommt ein kalter Luftzug. An Nieren und Blase sollte man möglichst keine Schäden haben. Meine Hinterlassenschaften plumpsen steil abwärts geradewegs in ein nettes kleines Bächlein, das sich durch die Stadt schlängelt.

„Was ist eigentlich Karneval? Was macht man da, spielt dort eine Band?“ fragte mich mal eine Freundin. Wie soll ich das erklären. Dazu muss man vor Ort sein. Ich gebe ihr den Rat: „Trinke drei doppelte Rhöntropfen auf Ex, und du führst die Polonaise an.“
Sie stammt aus Weißenfels bei Leipzig, und ich kenne sie von einem Konzert.

Das ist ein legendärer Ort, aus dem oder aus dessen Nähe, schon Nietzsche, Wagner, die Romantiker und viele andere Dichter und Denker entsprungen sind. „Da müsste eigentlich bei dir mehr kommen, bei der Geniedichte in deinem Heimatort. Davon wird ja wohl auch noch ein Fitzelchen DNA Material für dich abgefallen sein.“ sage ich zu ihr. Sie lacht.

„Sowas ist entweder genial oder Scheiße.“ hat mal jemand über den Karneval gesagt. Das hier ist genial.

Ich will zu einer Burg. Sie liegt auf einem vereisten Hügel. Ich, die sich mittlerweile auf den Knien befindet, rutsche immer wieder ein Stück zurück, gebe aber nicht auf. Meine langen Mantelschöße schleifen hinter mir her durch den Schnee. „Du schaffst das. Halte durch.“ rufen mir die Entgegenkommenden zu. Langsam stellt sich bei mir, hervorgerufen durch Kälte, Schlafentzug und Alkohol, ein Gefühl wunschlosen Glücks ein. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Solche Augenblicke hat man nur wenig im Leben, aber das war einer davon.
Als ich oben angekommen bin, entpuppt sich die Burg auch wieder als eine Kneipe mehr.

Ein anderer Kumpel dagegen, der ein paar Jahre älter war als wir und schon seit vielen Jahren zum Karneval fährt, ist total enttäuscht. „Du hättest mal sehen sollen, wie das früher hier war.
Da haben die Einheimischen zusammen mit den Langhaarigen auf der Straße getanzt.“ lamentiert er in einer Tour. „Die Leute hier dulden das doch nur, weil sie mit uns Geld verdienen.“ „Da kann er recht haben.“ denke ich. Und er jammert weiter: „Ich fahre nie wieder zum Karneval. Dieses Jahr ist das Letztemal.“ Ich weiß nicht, was er hat, ich jedenfalls bin happy.

Mir ist auch egal, ob die Einheimischen uns dulden oder nicht. Er dagegen möchte sich immer mit den Normalbürgern, die einen meist nicht leiden können, arrangieren. Ich glaube, er hängt so dazwischen, zwischen Rebellion und der Sehnsucht dazuzugehören. Aber vielleicht geht es uns allen so, einschließlich mir.

Er ist übrigens der Typ Langhaariger, der mal ganz bürgerlich, mit Anbauwand und Couchgarnitur, verheiratet war und nach seiner Scheidung völlig ausgeflippt ist. Er lebt auf einem Dorf in der Nähe von Berlin, und sein altes Haus, das er von seiner Oma geerbt hat, ohne Wasseranschluß, mit Plumpsklo und Kochmaschine auf dem Hof ist ein Treffpunkt für alle unangepaßten Seelen in der Umgebung, und er veranstaltet jedes Jahr legendäre Feten auf seinem großen Gehöft.

In seinem Garten wächst nur Rhabarber und seine zwei Schafe sausen immer kopflos über den Hof, wenn mal wieder Party ist. „Einmal, als ich mal nichts zu essen hatte, bin ich einfach in den Dorfkonsum gegangen, habe mir ein Brot aus dem Regal genommen und bin damit rausgelaufen.“ hatte er mir mal erzählt. Natürlich hat er am Zahltag, er arbeitete im Wald, den Schaden wieder beglichen.

„Da kannst du doch froh sein, dass du aus Köln bist. Dort ist ja jedes Jahr der große Karneval.“ sagte ich mal in den Neunzigern zu einem Hausbesetzer, den ich kenne. „Mit so einem Spießerkram will ich nichts zu tun haben.“ erwiedert er mir. Aber dass er eine rheinische Frohnatur ist, kann er nicht verleugnen. In den paar Jahren, die er in Berlin verbrachte, zeugte er drei Kinder mit drei Frauen, auch ohne Karneval. Damit hat er dem gefürchteten demographischen Wandel und der Vergreisung von Berlin erfolgreich entgegengesteuert.

Am Aschermittwoch nimmt uns ein junges Paar mit in sein Haus.
Auf dem Weg hakt sich die junge Frau bei meinem Kumpel Harry ein. Ihr Mann beobachtet das eifersüchtig. Sie wohnen eigentlich bloß in zwei Zimmern, die restlichen Räume des großen Hauses sind mit Gerümpel vollgestopft. Morgens laden sie uns noch zum Frühstück ein. Mein Kumpel will bleiben, aber ich winke ab. „Laß uns draußen etwas zu Essen suchen.“

Die Beiden haben zwei kleine Kinder, und sie müssen zur Arbeit und die Kinder zur Krippe bringen. Milch kocht über, und Spannung zwischen den Eheleuten liegt in der Luft. „Hoffentlich geht das gut mit den Beiden. Es gibt schon genug alleinerziehende Mütter.“ sage ich zu Harry.
Mir ist aufgefallen, dass sie total unterschiedlich sind. Sie ist offen und flippig, und er wirkt sehr konservativ. Es war auch ihre Idee, uns mitzunehmen und er musste gute Miene machen.

Besonders mich sieht er streng an. So, als wenn er sagen wollte: „Was machst du eigentlich noch hier?“ Bei uns wurde sehr früh geheiratet, und meine Altersgefährtinnen hatten oft schon mit achtzehn ein Kind.

Wir steigen in den Zug. An der nächsten Station heißt es: „Alles aussteigen, der Zug endet hier.“ Vor dem Bahnhof hat ein Wurstbude geöffnet. Harry und ich setzen uns auf eine Holzbank vor dem Bahnhof und trinken erstmal wieder Rhöntropfen.

Zu uns gesellt sich ein langhaariger Mann mit Parka, so Mitte Dreißig. „Kommt ihr vom Karneval?“ fragt er uns. Es stellt sich heraus, dass er hier wohnt. „Früher war ich auch jedes Jahr dabei und bin auch Bands hinterhergereist. Aber seit ich Familie habe, kann ich das nicht mehr.“
Er kauft an der Bude noch zwei Rhöntropfen für uns Beide und einen Kaffee für sich. „Machts gut ihr Beiden. Ich muss zur Arbeit.“ verabschiedet er sich. Wir blicken hinter ihm her.

„Er hat sich total geändert.“ sage ich. Darauf, wie aus der Pistole geschossen, Harry: „Ja, aber er hat nichts vergessen.“

*Zur Erklärung: Leute, die nicht aus dem Osten sind, oder die jünger sind, werden das nicht wissen. Es war in den Achtzigern, nachdem die Mauer gefallen war, ließ das nach, für die langhaarigen Hippies aus der ganzen DDR Usus, jedes Jahr zum Karneval nach Wasungen zu fahren, was nicht allen Alteingesessenen dieser Stadt und besonders nicht der Staatsmacht gefiel. Die Polizei sperrte die Stadt ab, und die Züge wurden kontrolliert, um uns daran zu hindern zum Karneval zu gelangen.

**Scherbensongs

 

Hallo @Frieda Kreuz,

ich muss zugeben, die Sache mit den langhaarigen verstehe ich nicht. Also kann es sein, dass mir deshalb auch etwas in der Geschichte entgangen ist. Dennoch, mir wechseln die Szenen in der Geschichte zu schnell, ich komm kaum hinterher beim Lesen, die Umgebung, die beteiligten Figuren - selbst die Hauptfigur - all das ist sehr schwer für mich zu fassen. Ich hab dann auch ein Beispiel in den Anmerkungen rausmakiert, in dem ich versuche, genauer darauf einzugehen; ich hab jetzt nur das rausgeholt, was mir beim schnellen Drüberlesen aufgefallen ist und nicht alle Stellen, in denen mir die Sachen aufgefallen sind, aber ich hoffe, was ich anmerke, hilft dir:

Aber vielleicht fehlen wir Mancheinem doch?
"manch einem"

ch suche in youtube Videos
Youtube-Videos (laut Duden gekoppelt und groß)

Wahrscheinlich haben die Einheimischen, die damals gefilmt haben, die Kamera nur auf ihre eigenen Leute gerichtet
den Beisatz kannst du eigentlich streichen, weil das mit der Kamera eh klar ist, dass die filmen.

Diese grünen Ungetüme, die um so genialer aussahen, je zerrissener sie waren, umflatterten immer die langhaarigen Jungs, nach denen ich mir die Augen verrenkte, und die eine Atmosphäre von Freiheit verströmten. Sie waren Schmuggelware aus dem Westen und eigentlich immer zu eng oder zu weit, kosteten aber gern mal zwei Monatslöhne.
Die Froschkostüme oder die langhaarigen Jungs?

Mir gegenüber sitzen ein Mann mit Lederjacke und seine Freundin, ein hübsches Mädchen mit langen Haaren und Parka. Sie hatte mir erzählt, dass sie Krankenschwester war. Sie sehen aus wie ein typisches Hippiepärchen.
Wir hatten uns gleich an unserem Outfit erkannt, und die Beiden sagten: „Setz dich doch zu uns. Du willst doch auch zum Karneval.“
Ich markiere mal Gegenwart fett und Vergangenheit kursiv, das ist nämlich noch was, was es mir sehr schwer gemacht hat, dabei zu bleiben. Der Wechsel zwischen den Zeiten - auch chronologisch, das hin und her springen zwischen dem was vorher war und dem das jetzt ist; da würde ich stattdessen einfach wirklich eine Szene empfehlen, in der du das einfach zeigst, als umständlich hin und her zu erzählen.

An der letzten Station, kurz vor unserem Ziel, ging die Transportpolizei durch den Zug. Sie wollen verhindern, dass die ganzen langhaarigen Karnevalstouristen durchkommen.
Ich fühlte, wie meine Felle wegschwammen. „Wo fahren sie hin.“ fragen sie mich und betrachten mißtrauisch meinen Ausweis, auf dem die Zunge der Rolling Stones klebt.
Der Transportpolizist läßt mich durch. Normalerweise hätte er mich aus dem Zug geschmissen, aber dann hätte er das andere Mädchen auch rausschmeißen müssen. Und das wollte er nicht, denn sie gefiel ihm, wie ich bemerkte.
Beim letzten bin ich mir nicht mal sicher, ob chronologisch passt bzw. in welcher Zeit ich mich befinde. Was passiert momentan, was ist Erinnerung? Das macht es zusätzlich zu den Orts- und Personenwechseln noch mal schwieriger, sich zu orientieren.

Jemand zieht vorne blank und läuft johlend, mit trotz Kälte, steil aufgerichtetem Glied, das schwankt wie ein Rohr, durch die Menge hinter einem Mädchen her, natürlich nur aus Spaß.
Der Satz liest sich umständlich, vielleicht aufteilen, statt die ganze Beschreibung in einen Satz zu quetschen. :)

das Erstemal
"das erste Mal"

Aber an Karneval ist das in dieser Gegend so üblich.
Könntest du eventuell streichen.

„Sowas habe ich noch nie gesehen.“ denke ich.
Gedanken würd ich nicht mit Anführungszeichen markieren, weil das verwirrend sein kann, eher kursiv, wobei ich nicht weiß ob es in der Ich-Perspektive überhaupt nötig ist, das extra zu kennzeichnen, da ich nicht sehr oft in der Ich-Perspektive schreibe.

Ihre kleine Kinderhand klammert sich an meiner fest. Wir beide gehen durch die mittagliche Stadt. „Kommst du mit Luftballons kaufen?“ hatte sie mich gefragt und mich einfach aus der Kneipe auf die Straße rausgezerrt.
Das Kind war mir bei einem Frühschoppen in einer Kneipe aufgefallen, wo sie inmitten der Erwachsenen saß. Ich hatte schon von hochbegabten Kindern gehört, aber noch nie eines kennengelernt.
Sie ist Fünf und redet von nichts Anderem als von Nietzsche und fernen Galaxien. Die Anderen kennen sie schon und sagen nichts dazu. Aber den Leuten, die sie nicht kennen, fällt die Kinnlade runter. Jetzt gerade ist von Jesus die Rede. „So eine Hochbegabung ist ja fast wie eine Behinderung.“ denke ich.
Sie fühlt sich unter den Erwachsenen pudelwohl und spricht mich gleich an.
Das ist wieder so ne Stelle, in der mir alles viel zu schnell geht, es ist eine Erzählung, keine Szene, die du wirklich zeigst und aus dem Grund (denke ich) passiert auch diees durch die Zeit springen. Besser wäre wirklich die Szene auszuschreiben, zu zeigen, was da passiert, anstatt es zu erklären. Auch die Verwunderung des Protagonisten/der Protagonistin, als das Kind auf einmal philosohieren anfangt oder so, wenn das wichtig ist.

Ihr Stiefvater, ihre Mutter und auch ihr leiblicher Vater sind übrigens auch anwesend.
Wortwiederholung

Merkwürdigerweise wäre mir da der mit den Achtundneunzig Frauen lieber gewesen.
"achtundneunzig"

Insgesamt passiert mir zu viel, ich kann die eigentliche Botschaft aus der Geschichte nicht rauslesen bzw. verstehe nicht, wieso bestimmte Szenen drin sind (wie z.B. das mit der Hochbegabten), das ist ein weiterer Grund, weshalb ich mich zwingen musste, dabei zu bleiben. Vielleicht sinnvoll (also der Botschaft/dem Sinn entsprechend) kürzen und aus dem was über ist, richtige Szenen machen, die auch länger dauern, sich mehr mit den Figuren beschäftigen und/oder mit dem Protagonisten / der Protagonistin selbst. So zumindest ist mein Eindruck. Ich hoffe, das hilft dir ein wenig weiter.

LG Luzifermortus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Luzifermortus,
Wasungen war in den Achzigern zur Karnevalszeit ein Refugium der Bluesszene der DDR, den sogenannten Langhaarigen. Aber vielleicht bist Du nicht aus dem Osten und kennst das deshalb nicht. Von den Einheimischen wurden wir nicht immer gerne gesehen.
Nach dem Fall der Mauer ist das abgeebt, und kaum noch einer von uns fährt dort hin.
Mit Grünfröschen meine ich die langhaarigen Parkaträger, denn Shellparkas waren unser Erkennungszeichen. Die halbe Stadt war damals in Grün getaucht.
Ich habe in
Youtub - Videos aus dieser Zeit, auf denen die Karnevalsumzüge abgefilmt waren, nach Spuren von uns gesucht und wenig gefunden. Vielen Dank für Deine Hinweise.
Ein fröhliches Berlin Alaaf
Frieda

 

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