Pfirsich
Ich fühle mich wie auf einem Abstellgleis. Drüben bei ihr, im Zimmer auf der anderen Seite des Gangs, kann man durch die offenen Türen Blumensträuße und Luftballons ausmachen. Sogar ein paar Besucher. Die älteren kenne ich nicht, ich habe sie noch nie gesehen. Wahrscheinlich Verwandte. Die jüngeren bestimmt auch. Sie kenne ich genauso wenig, obwohl ich ihnen in der High School jeden Tag über den Weg gelaufen bin, oder besser gefahren.
Auf dem Tisch neben meinem Bett liegen meine Haarspangen, Nachthemden und frische Unterwäsche. Und besucht hat mich den ganzen Tag noch niemand. Außer den Ärzten heute morgen. Nicht mal meine Eltern lassen sich blicken. Hätte mich aber auch gewundert. Sie waren ziemlich lange gegen diesen Deal. Und dann auf einmal - vielleicht haben sie auch was abgekriegt.
Wie auf einem Abstellgleis. Dabei befinde ich mich eigentlich auf einem Sprungbrett. Ich komme aus Armpit, Nebraska. Aber ich gehe nicht dorthin zurück. Ich werde Medizin studieren. An der Johns Hopkins Universität, gleich hier um die Ecke. Ich werde Dinge tun, wie sie sie vor drei Tagen mit mir gemacht haben. Und ihr. Das nötige Kleingeld habe ich jetzt ja zusammen.
Armpit, Nebraska. Ich war gut in der Schule. Mein Abschluss letzte Woche war besser als die meisten im Jahrgang. Aber ein Stipendium war für mich nie drin. Zu keinem Zeitpunkt. Und auf meinen Vater möchte ich nicht mehr angewiesen sein. Er ist Gebrauchtwagenhändler. Abhängig von Tranquilizern und Aufputschmitteln. Je nachdem. Ein Verlierer. Früh war mir klar, dass ich das benötigte Geld für meine weitere Ausbildung selbst beschaffen musste. Eine nicht zu unterschätzende Menge. Aber wie soll man das anstellen wenn man im Rollstuhl sitzt?
Querschnittsgelähmt. Von Geburt an. Keine leichte Aufgabe. Immerhin eine Eigenschaft, die ich mit den meisten Leuten in Armpit gemeinsam habe. Kein Geld. Im Gegensatz zu ihnen habe ich das Problem aber gelöst.
Was tut sich jetzt da drüben? Die Besucher stehen auf. Sie verabschieden sich und verlassen ihr Zimmer. Bestimmt gehören die zu der Handvoll Personen in Armpit mit genügend Geld. Zu der einen Sippe. Ihrer.
Ein undementiertes Gerücht sagt, dass ihnen die halbe Ackerfläche von Nebraska gehört. Außerdem zwei Drittel aller Mastschweine und drei Viertel aller Schlachthäuser. Das mit den Schlachthäusern stimmt.
Allerdings zeigt der jüngste Spross der Sippe nicht die gewohnten Zuchtmerkmale. Sie ist fett - wirklich fett. Sie ist dumm - wirklich strohdumm. Sie ist verunstaltet von Aknenarben und -kratern auf jedem Stückchen Haut, das ich von ihr gesehen habe, und wahrscheinlich auch überall sonst - wirklich entstellt. Da gibt es keine Ausreden.
So ganz anders als meine Haut. Die habe ich auch von Geburt an. Eine seltsame Art der Gerechtigkeit. Meine Hand, mein Unterarm sind hell. Aber nicht bleich, wie ein Höhlenmolch. Sie sind makellos, glatt. Bis auf die kurzen, rötlichblonden Härchen. Pfirsichhaut.
In der High School hatte ich eigentlich nichts mit ihr zu tun. Wir saßen gemeinsam in ein paar Kursen. Bei den wirklich wichtigen Veranstaltungen war ich nicht dabei. Sie dafür um so mehr. Parties. Bevorzugt in abgedunkelten Räumen. Mit Sprechgesang von verfetteten gehirntoten Farbigen, lustigen bunten Pillen und dicken kegelförmigen Zigaretten. Ich frage mich echt, wie sie den Schulabschluss geschafft hat. Vielleicht war auch dabei Geld im Spiel. Ihr letzter Versuch war es sowieso. Aber geschafft hat sie ihn. Sonst wäre ich jetzt sicher nicht hier. Und wegen meinem Referat. Ohne es hätte sie nie erfahren, dass so etwas überhaupt möglich ist.
Da kommt jemand den Gang entlang! Die Ärzte. Wollen sie nochmal zu mir? Sie gehen zu ihr hinein. Ist etwas nicht in Ordnung? Haben sich bei ihr Komplikationen eingestellt?
Es war in dem Kurs über effektive Kommunikation. Vortragen. Präsentieren. Debattieren. Jeder sollte in einem Referat seinen Traumberuf vorstellen. Sie war als Erste dran. Zog eine Schau ab von wegen Kosmetikdesignerin. Mit ein paar Anzeigenseiten aus Modemagazinen. Ihr Gefolge hat sich köstlich amüsiert. Eine einzige Zeitverschwendung. Ich hielt den nächsten Vortrag. Über Chirurgie. Insbesondere Transplantationen. Nieren, Herzen und die anderen alten Sachen. Hände, als Beispiel für weitere Erfolge. Und natürlich die Durchbrüche der letzten Jahre. Als Mr Miller mich dann gefragt hat, wie viel so ein Medizinstudium kostet, muss ihr die Idee gekommen sein.
Was machen sie nun? Sie nehmen ihr die letzten Verbände ab. So wie bei mir heute morgen. Die freigelegte Haut fühlt sich unrein an. Rau und roh. Als würden meine Finger über die Gummioberfläche einer Wärmflasche streichen. Die Berührung dringt nur von einer Seite zu meinem Gehirn durch.
Jedenfalls hat sie zwei Tage später auf mich herabgegrinst, mir einen Umschlag in die Hand gedrückt und gesagt „Schau dir das genau an. So eine Chance kriegst du nie wieder.“ Der Umschlag enthielt nur eine bedruckte Seite. Ein Angebot mit einer Telefonnummer. Keine Unterschrift. Ich war geschockt. Aber das ließ bald nach. Nüchtern betrachtet war es ein fairer Deal. Sie bekam was sie wollte. Ich bekam was ich wollte. Für etwas, mit dem ich sowieso nichts anfangen konnte. Ich habe die Nummer angerufen. Lakaien. Sie nannten mir einen Termin, zu dem ich mich bereithalten sollte. Ein Geländewagen fuhr vor und brachte mich zum Verwaltungsgebäude eines riesigen Schlachthofs. Dort zeigte man mir einen Vertrag mit einer mehr als ausreichenden Summe und einer Ausstiegsklausel ihrerseits. Ich sollte zuerst unterzeichnen. Natürlich unterschrieb ich. Was hatte ich zu verlieren? Danach holten sie ihren Vater. Da sah ich ihn zum ersten Mal aus der Nähe. Ein Stier. Er fragte mich, ob ich alles verstanden hätte, und unterzeichnete dann selbst. Wir besiegelten das Abkommen mit einem Handschlag.
Was geschieht jetzt dort bei ihr? Die Ärzte veranstalten ein großes Palaver. Es hört sich zufrieden an. Sie kommen aus ihrem Zimmer. Machen einen fröhlichen Eindruck. Anscheinend hat sie nun, was sie wollte.
Für den Rest des Schuljahres wurde ich von ihr und ihrer Sippe nicht mehr behelligt. Sie ging mir aus dem Weg wo sie nur konnte. Starrte mich von weitem an. Ich weiß nicht, warum sie sich die Ausstiegsklausel in den Vertrag geschrieben haben, aber ich glaube, es gab da eine Abmachung zwischen ihr und ihrem Vater, dass er das Geld nur dann lockermacht wenn sie den Schulabschluss hinkriegt. Und sie hat sich zwar keinen gesunden Lebensstil angewöhnt, aber doch so weit zusammengerissen, dass sie diesmal nicht durchgefallen ist.
Nun setzt sie sich auf! Klettert aus ihrem Bett. Haben die Ärzte das erlaubt? Von hinten schaut sie noch genauso aus wie vorher. Wie kann man nur so aufgeschwemmt sein. Sie geht zum Fenster und blickt hinaus. Ob sie sich darin sehen kann? Oder sind die Scheiben entspiegelt, zur Vermeidung von Schockeffekten?
Am Tag vor der Abschlusszeremonie erhielt ich einen Anruf. Von den Lakaien. Ich solle meine Sachen zusammenpacken und nach dem Festakt zur Verfügung stehen. Mit der Cessna der Sippe flogen sie mich bis Lincoln, und von dort mit einer Düsenmaschine weiter nach Baltimore. Sie natürlich auch. Mitten in der Nacht kamen wir hier im Johns Hopkins Hospital an. Die Chirurgen ließen uns kaum Zeit zum Schlafen, geschweige denn zum Frühstücken. Meine letzte Erinnerung vor der Operation ist sie und ich in diesem teils grünverschleierten, teils chromglitzernden Reinraum. Mit den Schädeldecken gegeneinander. Auf Kollisionskurs. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah zu ihr hinüber. Geradewegs in ihre Augen. In die Mondlandschaft ihres Gesichts. Keine von uns beiden zuckte auch nur mit der Wimper. Dann stülpten sie uns die Narkosemasken über.
Sie dreht sich um! Geht vom Fenster weg und kommt auf ihre Zimmertür zu. Aus der Entfernung ist nichts auffälliges zu erkennen. Keine unnatürlichen Deformationen. Sie marschiert durch die Tür und auf den Gang hinaus. Das haben die Ärzte bestimmt nicht erlaubt. Richtet sie da irreparable Schäden an? Wahrscheinlich denkt sie nicht mal darüber nach. Was hat sie nun vor? Nein! Das wird sie nicht wirklich tun. Oder - naja, für irgendwie sensibel habe ich sie noch nie gehalten. Sie stolziert doch tatsächlich hier rein. In voller Schönheit. Die nässenden Aknenarben auf ihren Unterarmen werden durch die langen Ärmel ihres Nachthemds verborgen. Überhaupt verdeckt sein lockerer Schnitt gut ihre monströse Figur, teigig und aufgedunsen wie eine Wasserleiche. Den Mund hält sie geschlossen, grinst nicht mal. Aus Gewohnheit, um ihre schlechten Zähne zu verbergen? Oder weil es weh tut, die Lippen zu bewegen? Die Haut auf dem Nasenrücken ist straff, wirkt überspannt. Aber die leicht nach oben gezogenen Augenwinkel und die Brauen sitzen perfekt. Nein, wirklich gut schaut sie aus, mit meinem Fünfhunderttausend-Dollar-Pfirsichgesicht.