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Purpurschnecken - Vorwort + Erster Weg
Vorwort
»Du dreckiges Heimkind!«
Drei Worte, die mehr sind als nur ein Schimpfwort. Dem beschimpften Gegenüber wird schlagartig sein ihm zugestandener Rang und Status bewusst. Noch heute! »Dreckig« mag noch aus den Zeiten stammen und stimmen, aus denen uns die Bilder von verdreckten Sprösslingen in den Sinn kommen. Kinder, mit weit offenen Kinderaugen, deren schmutzige Gesichter kaum eine Träne spurlos über die Wangen verschwinden liesen. Der Dreck unter den Nägeln hatte vermutlich an keinem einzigen Tag saubere Hände gesehen. Die zerschlissenen Beinkleider und Hemden runden unsere Erinnerung in schwarz-weißer Farbgebung ab. Ja, so stellen wir uns ein dreckiges Heimkind vor: Schmutzig und dreckig.
Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert verließen abertausende Menschen Deutschland, um in Amerika ihr Glück zu machen. Die industrielle Revolution ließ die einfache Arbeitskraft überflüssig werden und es gab schlicht und einfach zuviel Hände, die sich um die wenige Arbeit stritten. Also beschloss die verarmte Unterschicht auszuwandern. Da ein Neuanfang besser gelingt, wenn man sich um die eigenen Kinder nicht auch noch zu kümmern braucht, wurden die Kinder einfach zurückgelassen. Es braucht keine große Vorstellungskraft, um sich ausmalen zu können, wie diese Kinder sich durchschlugen. Eine saubere Weste blieb nicht lange rein. Kleine, kurze Fingerchen mussten schnellstens lang werden und aus schmutzigen Gesichtern blickten dreckige Kinderaugen. Dreckige Heimkinder eben! Kinder, ohne Halt und ohne Ziel. Und so marodierten Kinderbanden durch die Gassen und stahlen was sie konnten. Seinerzeit bekam das einfache Wort »dreckig« eine weitere Bedeutung die ihm seine Zweideutigkeit verlieh.
»Ich dreckiges Heimkind!« JA! Auch ich zog durch die Gassen und stahl mit meinen zarten, kleinen Fingerchen. Lang wurden sie jedoch nicht. Mangel hatten wir im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert keine, doch die Not um Anerkennung war groß! Und so bewies ich den meinigen, dass auch ich zu ihnen gehörte und den Mut besaß ein Dieb zu sein. War es schon hell und das Ladengeschäft offen, lenkte ein Zweiter oder Dritter den Verkäufer ab und ich stahl als erster aus den hinteren Regalreihen. War es noch dunkel, rissen wir die Warenlieferung schnell und unbeholfen von der Palette noch bevor der Laden öffnete.
Ja, ich war stolz! Und JA, ich hatte die Hosen gestrichen voll. Ich war eines dieser dreckigen Heimkinder und stank auf meine Art ehrlich!
Es gab einige hilfsbereite Menschen die es mit uns Heimkindern schon früh gut meinten. Bis heute! Mir fällt in diesem Zusammenhang Gustav Werner ein, dessen grandioses Lebenswerk irgendwann in einer Stiftung mündete. Gustav Werner erkannte die Not seiner Zeit und gründete während seines Lebens zahlreiche Waisenheime im ganzen Schwabenländle. Auch das Kinderheim in dem ich versuchte groß zu werden.
Ich begann im Herbst zweitausendundsechs mit der Niederschrift einzelner Rückblicke die ich im vorliegenden Büchlein zusammen getragen habe. Es geht um die Bemühungen hinter ein Leben zu blicken. Ein Leben, das durch einen ungeschickten Initialfunken reinen Verlangens, auf den Weg gebracht wurde. Unter dem Schutz von Gleichmut und etwas Unschärfe gelang es mir, einen Blick auf das zu wagen, was »Unterschichten« seit allen Zeiten bewegt: Das Leben! Ob »alt« oder neuerdings »neu«, ist für die »Unterschichten« selbst, einerlei.
Sieben alte Unterschichten – aus meiner eigenen Kindheit –mit Ihnen geteilt.
EINS
ERSTER WEG
Wir befinden uns auf einem asphaltierten Weg der eine schneebedeckte Wiese durchzieht. Wie das Nadelwäldchen hinter uns bei früheren Rohdungen übrig bleiben konnte, mag Fragen aufwerfen, jedoch nur eine Nebenrolle spielen. Der Stand der Sonne ist entsprechend der Jahreszeit niedrig. Zu hören ist nur das Knirschen des frischen Schnees welcher sich unter vier Füßen murrend zu Wort meldet. Der Himmel ist wolken verhangen, hält jedoch zurück was er in der Nacht schon bereitwillig los wurde.
Auf diesem verschneiten Weg laufen ein älterer Mann und ein kleiner Junge den Berg hinauf. Der Atem des Großvaters gerät etwas außer sich, als der vorauseilende Schäferhund die geltende Rangfolge infrage stellt. Der kleine Junge nimmt hiervon nur am Rande Notiz. Er selbst ist nur froh, dass Hermann mit dabei war. Nicht auszudenken was der Hund mit ihm anstellen könnte, wenn ihm schon jetzt danach wäre, wonach ihm Jahre später der Sinn steht. So kann der Junge Schritt für Schritt einen Fuß vor den anderen setzen und beinahe wertfrei die Hosenbeine hinunterblicken. Es bleibt nur Vorahnung. Ihn plagen schon einige hundert Meter lang mindestens zwei Fragen. Wie aber soll der Junge es anstellen, dem Vater seines Vaters, entsprechende Antworten abzuringen? Die Anworten wären elementar für alle Schritte die hierauf folgen würden.
Während die vergehende Zeit mit dem Nebel der Atemluft kleine bizarre Wolken vor sich her schiebt, fasst sich Thomas allen Mut und täuscht vor, etwas Luft holen zu müssen. Schließlich sind seine Beine wesentlich kürzer als etwa dreißig Jahre später und so würde diese List kaum auffallen. Die kleinen Schritte werden etwas langsamer. Ist der Abstand zum Hund ohnehin schon groß, entfernt sich nun auch Großvater Schritt für Schritt. Offensichtlich hat der Großvater noch immer andere Sorgen und kann seine Aufmerksamkeit nur schwer vom vor-auseilenden Hund hin zum Jungen richten. Als der Abstand jedoch groß genug ist um doch etwas Unbehagen im Nacken zu spüren, veranlasst ein kurzer Blick zurück, den Großvater einen Schrei loszulassen wie ihn das kleine, übrig gebliebene Wäldchen nur selten zu hören bekommt. Der Hund fährt blitzartig zusammen und wendet seinen im Schnee recht schwerfälligen Körper. Mit kraftvollen Bewegungen schießt der Hund den Hang hinab zum kleinen Thomas. Der bleibt kreidebleich stehen. Rex vergewissert sich mit lautem Schnauben vom Zustand des Jungen. Womöglich wäre in der Erblinie des Hundes etwas Hütequalität zu entdecken, wenn man nur ernsthaft suchte. Mit Erblinien hat Hermann seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht, wie sein Enkel nur oberflächlich erfahren sollte.
Es dauert nicht lange bis der Junge den Abstand aufgeholt hat. Schritte, die vorher alle Zeit der Welt hatten, ja sogar brauchten, lassen jetzt eher Eile vermuten.
Im kleinen Wäldchen kehrt Ruhe ein und die zurück gebliebenen Vögel gehen wieder ihrer Arbeit nach. Eine Arbeit, die im Winter eher stumpfsinnig erscheinen mag, lässt man den Überlebenskampf dieser kleinen Dinger außer acht. Mit meinem Mitleid zurückhaltend, bin ich mir darüber bewusst, dass diejenigen unter ihnen, die auch Würmer nachstellten, dies allzugerne täten sobald sie nur wieder konnten. Sollte diese These unwahr sein, weil alles fleischverzehrende Federvieh in den Süden flog, so prägt diese Vorstellung Thomas dennoch nachhaltig.
Dieser läuft schon einige Zeit wieder schnellen Schrittes neben dem Großvater. Da stellt er in kindlicher Einfachheit fest, dass er sich schon des längeren fragte, warum ein evangelisches Kreuz viel breiter sein müsse als ein katholisches. Es ist vielmehr ein Gefühl das diesen Umstand formuliert als dass er dem alten Mann wirklich begreiflich machen kann was ihn diesbezüglich bewegt. Dieser schaut nur mit großen Augen den kleinen Jungen an. Jeder Erwachsene kennt diesen Zustand, wenn das unverdauliche Ergebnis üppiger Speisen von innen an den Enddarm drückt. Alle Bereiche des Unterleibs sind mit nichts anderem beschäftigt als zu kontrollieren. Ein verklärter Blick verrät deutlich diese Anstrengung. Der Junge dagegen stellt unbeeindruckt fest, dass der Morgen irgendwie ungleich länger zu sein scheint, als der Nachmittag. Hermann richtet seinen Blick wieder auf den Weg.
Mit gähnend langen Schulstunden hat Thomas noch nicht zu kämpfen, da er noch in den Kindergarten geht. Vielleicht ist es ein gutes Stück Magie dessen sich der Junge hier bedient, geht er doch sehr gerne in den Kindergarten. Am Nachmittag zuhause liegt ihm nicht wirklich viel. So gilt es den Morgen solange auszudehnen wie es nur irgendmöglich ist. Wenn nötig mit Magie! Alles muss ganz langsam vergehen. Dieses kleine Zauberstück beherrscht er längst. Wie gerne wäre er ein Zauberer. Einer dieser mächtigen Männer, die mit einem Wink alles verändern können. In alten Zeiten wie auch heute noch. Es gibt sie, diese Magier. Dessen ist sich Thomas sicher. So einer will er auch mal werden! Vielleicht kann er dann irgendwann dem Großvater erklären, warum alles ist, wie er glaubt das die Dinge seien. Schließlich hat er immens viele Fragen angehäuft, deren Antworten irgendwo auf ihn warten.
Während Thomas wieder in Gedanken versinkt, knüpft Rex abermals am vorherigen Versuch an, die Geduld des Großvaters auf die Probe zu stellen.
Inzwischen ist es Mittag. Der Himmel wird dunkel und das Mitleid der Feen vor dem kleinen Wäldchen fällt wie Zuckerwatte zu Boden und macht den Weg des kleinen Jungen süß und weich. Unter Tränen trauert er wieder einem Morgen mehr nach. Erneut stellen sich ihm Fragen in den Weg. Antworten sind ebenso wenig zu erkennen wie die Fußstapfen vor ihm, die der Schnee langsam unter sich begräbt.
Sein Blick reicht nicht allzu weit. Der Weg verschwindet.