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Raus!
Sie stand da und starrte ihn an. Ihr Blick war leer. Traurig und leer. Es schien als wolle sie Martin durchbohren und doch erkannte er, dass sie ihn gar nicht richtig wahrnahm. Irgendwie komisch. So viel hatte seine Mutter durchgemacht und jetzt fiel es ihr so schwer, ihn gehen zu lassen. Die Wangen seine Mutter waren eingefallen und die Augen lagen in tiefen Höhlen. Ein dunkler Schatten, das Spiegeln ihrer Seele, die so zerfressen war. Als Martin drei Jahre alt war, starb sein Vater bei einem Autounfall und sein großer Bruder, der nie mit diesem Verlust klarkam, begann sich selbst zu zerstören. Nur er war halbwegs vernünftig geblieben, ein bisschen träumerisch, und hatte seiner Mutter den Halt gegeben, den sie brauchte. Damals wusste sie, dass er sie brauchte und sie erzog ihn mit all der Stärke, die noch vorhanden war. Doch der Tod ihres Mannes und die Sucht ihres Sohnes zerfrasen ihre Seele und Teile ihres Herzens, sie nahmen ihr die Stärke und die Zuflucht. Er wollte etwas sagen, nur um das Schweigen zu brechen, das in dem kleinen dunklen Raum lag. Doch seine Kehle war zu trocken. Wasser, Wasser hilft, dachte er, aber er ging nicht in die Küche um sich etwas zu holen. Er blieb da, blickte beschämt zu Boden, sah ihre lila geblümte Schürze, sah ihre zitternden Hände, die das Hemd falteten, sah wieder den dunklen Boden. Er liebte sie. Sie war eine so gute Mutter.
Er dachte daran, wie sie ihn früher getröstet hatte, wenn er traurig war. Er war die alte Holztreppe hinaufgelaufen, nur damit sie nicht sehen konnte wie er weinte. Irgendwann kam sie dann und setzte sich auf sein Bett. Sie wartete. Wartete darauf, dass er sich ihr anvertrauen würde, dass er zu ihr kam und seinen Kopf in ihre Arme lag. Sie konnte lange warten. Manchmal nahm sie ihn dann in den Arm und hörte ihm zu, egal ob er etwas sagte oder nicht.
Er merkte wie sie weiter bügelte, spürte wie nah sie den Tränen war. Aber sie sagte nichts. Sie wartete einfach nur. Worauf wartete sie. Darauf, dass er es sich vielleicht doch noch einmal anders überlegen würde. Nein, diesmal nicht. Wie oft hatte er schon mit dem Gedanken gespielt es zu tun und es dann doch immer gelassen. Aus Angst. Nein, diesmal würde er ausziehen. Endgültig.
Sie nahm das Bügeleisen. Ihre schlanken, krummen Finger legten sich langsam um den Griff. Ihre Hand spannte sich und die Senen wurden sichtbar. Wut, nur bei Wut wurde sie so, so unbeschreiblich „ stark“. Er sah ihr straffes Gesicht, ihre unveränderte Miene, so starr wie immer. Kleine Sorgenfältchen tanzten auf ihrer Stirn, klein nur, aber gut zu erkennen.
Vorwürfe. Nein, nein, schrie es in ihm. Er durfte sich keine Vorwürfe machen. Nein, keine Vorwürfe. Nein, nein, nein.
Wieso, wieso? Wieso ging er jetzt auf einmal. Er wollte doch noch nie fort. Was hatte sie getan, dass er unbedingt gehen wollte. Sie hatten so viel zusammen erlebt.
Seine Mutter. Seine starke Mutter. Sie hatte sich etwas vorgemacht, die ganze Zeit. Er wollte schon lange weg, so unbeschreiblich lange. Nicht weil er sie nicht mehr liebte, nur um sein eigenes Leben zu führen.
Sie musste ihn gehen lassen. Lass ihn gehen, lass ihn fort gehen, flüsterte es in ihr.
Geh, komm geh. Immer wieder hatte er sich das schon gesagt. Und er öffnete die knarrende Tür.