Reflexion einer selbstkritischen Traurigen
Sie saß auf dem Badezimmerfußboden und fragte sich, warum es immer wieder dazu kam und wie das ganze überhaupt angefangen hatte. Sie kam sich lächerlich und albern vor bei dem Versuch, durch das Abschließen der Badezimmertür die Außenwelt von sich fernzuhalten. Stimmen drangen durch das Holz zu ihr. Natürlich. Was auch sonst. Wütenden Stimmen, die wieder einmal ihre Schlechtigkeit miteinander diskutierten so dass jeder in der Familie es hören konnte, so wie sie.
Ein normales Wochenende. Sie kannte das schon, dennoch hatte sie sich immer noch nicht daran gewöhnt. Sie ärgerte sich darüber, das die Schutzschicht, die sie aufgebaut geglaubt hatte, anscheinend nach all der Zeit mit Streit, Diskussionen und Ärger immer noch nicht dick genug war, um die Vorwürfe daran abprallen zu lassen. Was sie brauchte, war eine Teflonschicht um ihr Herz, sodass alles, was einen klebrigen schwarzen Schleim aus unbegründeten Anschuldigungen und ihren angeblichen charakterlichen Mängeln drum herum bilden könnte, nicht haften bleiben konnte.
Sie hörte, wie Er in den Flur ging und die Haustür hinter sich zuknallte. Sie überlegte, ob sie so wie Er sagen sollte, dass das Schließen der Tür durchaus auch leise möglich sei, aber sie unterlies es. Dadurch würde sie sich auf sein Niveau begeben und das war das letzte, was sie wollte. Genauso zu werden wie Er.
Sie erhob sich und entriegelte die Tür. Alles ruhig. Alle waren weg.
Sie ging die Treppe hoch in ihr Zimmer. Ihre Hände zitterten, als sie sich eine Kippe drehte. Als sie sie auf dem Balkon anzündete und rauchte, zitterten ihre Hände immer noch.
Sie war wütend auf sich selbst, weil ihr diese Streitereien jedes Mal so zu Herzen gingen.
Ihre Freundin hatte ihr erklärt, dass das etwas Gutes ist, weil es beweist, dass sie nicht emotional abgestumpft und seelentot sei. Sie wurde trotz dessen das Gefühl nicht los, das ein bisschen emotionale Abgestumpftheit gar nicht so schlecht wäre. Dann könnte sie, wenn Er wieder einmal anfangen sollte, einfach dasitzen, lächeln und auf das Ende der Tiraden warten. Eine rein hypothetische Annahme, denn sie waren nie zu Ende. Es gab dazwischen Pausen, manchmal mehrere Tage oder sogar Wochen, aber ein richtiges Ende würde wohl erst eintreten, wenn sie fort ging. Weit fort.
Das war ihr Strohhalm: das es bald soweit war, schon nächstes Jahr im Juni, wenn sie endlich fertig war mit der Schule, ihr Abi in den Händen hielt, mit dem ihre Eltern nicht zufrieden sein würden, egal wie gut es wäre, und endlich weggehen konnte um ihr eigenes Leben zu führen, ohne ständige Kontrolle und Rechtfertigung. Freiheit, nur begrenzt von ihrer eigenen Vernunft und Verantwortung zu sich selbst.
Sie wurde das Gefühl nicht los, dass das, was sie traurig und aufgebracht machte, im Prinzip nur Kinderkacke war. Vor allem wenn sie mit ihrem besten Freund darüber sprach. Die Probleme, mit denen er sich rumschlagen musste, hatten völlig andere Dimensionen. Ein Vergleich zwischen beiden wäre wie ein Vergleich von Neuseeland mit dem Universum.
Einzeln betrachtet ist Neuseeland groß, verglichen mit dem Universum schrumpft es auf eine unbedeutende Winzigkeit zusammen, die nicht weiter von Bedeutung zu sein scheint. Trotzdem war er für sie da und spendete Trost so gut er konnte, wofür sie im dankbar war. Sie hasste sich dafür, das sie schon wieder am Telefon geheult hatte, als sie mit ihm sprach. Und das Er sie schon wieder dazu gebracht hatte zu weinen. Es machte sie wütend. Er machte sie wütend.
Sie verstand nicht warum sie sich das antun musste. Jedes mal wieder verstand sie es nicht. Einmal war sie nach einem Streit gegangen und eine Woche nicht nach Hause gekommen. Sie hatte ihr Handy abgeschaltet und mittels Emails kommuniziert. Es hatte auch was gebracht; danach war es besser geworden. Aber es hatte nicht allzu lange gehalten bis die vorigen Zustände sich wieder eingenistet hatten, die ewigen Nachfragen, Grundsatzdiskussionen, Autoritätsbehauptungen. Eigentlich sollte sie Mitleid mit ihm haben, denn Schuld daran war Sein eigener Vater und Stress im Beruf. Aber das sie konnte nicht. Nicht mehr. Sie war kein Boxsack, auf welchen Er seine Wut projizieren konnte wenn immer ihm danach war. Ihm war nicht klar, das sie darunter litt. Warum nicht? Warum?