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Regenschirm
Die kleinen Kieselsteine knirschten unter den Sohlen seiner Schuhe, als er den langen Weg entlang schritt. Gesäumt von alten Bäumen, Eichen die ihre Arme mächtig über ihm erstreckten, führte er an einer langen Reihe einheitlicher weißer Kreuze vorbei, manche mit Namen, die meisten ohne. Der alte Mann war in Frankreich, doch er hätte auch an jedem anderen Ort sein können, an dem der Krieg getobt hatte. Früher.
Er war allein, und kein Spaziergänger begegnete ihm.
Mit einer stilvollen Gelassenheit, sich seines Weges ganz sicher, schritt er die einzelnen Reihen ab, bis er auf einmal stehen blieb. Er spürte, dass er angekommen war.
Hier lag seine Kompanie, Männer die für ihn gestorben waren, während er als Sanitäter die Verwundeten versorgt hatte. Er trug einen Anzug, Tweed, und eine rote Krawatte. Sein Gesicht war edel, doch Sorgenfalten hatten es zerfurcht. Das Gehen schmerzte ihn ein wenig, doch größer war ein anderer Schmerz.
Und dann kehrten die Bilder zurück.
Männer in Booten, die auf den Strand zufuhren, wo man sie schon erwartete, und sie wussten, es würde kein freundlicher Empfang werden. Der Geruch von Urin, Erbrochenem, Angstschweiß. Die Kugeln, das Feuer, man wurde taub, und wie in Trance lief man. Man kam an oder merkte nicht wenn man fiel, und der Tod war wenigstens ein Ende der Angst.
Es begann zu regnen, und wie die Gischt des Meeres liefen Tropfen von der Krempe seines dunklen Hutes durch seine weißen Augenbrauen über seine Lippen. Er spannte seinen grauen Regenschirm auf, den Holzgriff hielt er fest umspannt. Auch die junge Frau in dem französischen Dörfchen hatte damals einen grauen Regenschirm gehabt, und er erinnerte sich, wie ironisch ihm ihre Schönheit in all diesem Krieg vorgekommen war. Er hätte gern mit ihr gesprochen, doch er konnte kein Französisch. Er hätte ihr gerne gesagt, sie solle nicht die Straßenseite wechseln, hätte ihr gerne gesagt dass der Feind dort Stellungen errichtet hatte. Und das Scharfschützen im Kirchturm saßen, er hatte gesehen, wie sich die Sonne in ihren Visieren spiegelte. Er konnte leider kein Französisch.
Ihr Regenschirm war ganz langsam zu Boden geglitten. Genau wie ihr Körper.
Und so stand er dort, ein Mann von achtzig Jahren, eine Silhouette hinter einem silbernen Vorhang aus tausenden kleiner Glasperlen, unter einem grauen Schirm, der ihn vor dem Regen schützte. Nass wurden nur noch seine Augen.
Geweint hatten die jungen Männer auch damals, erst alleine, wenn sie dachten keiner könnte sie sehen, und dann zusammen, als Scham nichts mehr bedeutete. In einer Kirche hatten sie übernachtet, bei Verdun, und das Mondlicht hatte durch die bunten Fenster geschienen. Der Mann hatte die Bilder nicht ansehen können, und er vermochte es auch heute nicht. Für ihn gab es keinen Gott mehr, niemand der etwas erschaffe, sagte er, könne soviel zerstören.
Der alte Mann hatte keine Angst vor dem Tod. Er war schon gestorben, so oft. Er hatte sich so viele Male aufgeben müssen. Als man ihn und seine Freunde im Untergrund entdeckt hatte. Als man sie an die Wand gestellt hatte, und nur weil das Funkgerät ausgefallen war und man keine Rücksprache mit dem General halten konnte, am Leben ließ. Als sie auf der Flucht fast von Amerikanern erschossen worden wären, weil man ihnen ihre englischen Uniformem weggenommen hatte.
Er hatte nie mit jemandem über den Krieg gesprochen. Seine Frau hatte nicht gefragt, nur die Kinder. Da hatte er sie angeschrieen. Einmal hatte sein kleiner Sohn mit einer Spielzeugpistole auf ihn gezielt, und er hatte ihn so heftig geohrfeigt dass das Kind sich im Garten versteckte und bis zur Heimkehr der Mutter den Platz hinter dem Apfelbaum nicht verließ. All diese Erinnerung machte seine Schultern schwerer.
Leichter Wind wehte seinen Mantel zurück. Er kam sich auf einmal um Jahre älter vor, so leer. Der Regen fiel heftiger.
Es wurde kalt. Der Mann zog sich seinen Hut tiefer ins Gesicht und nickte dem weißen Kreuz zu, ganz so als säße jemand dort. Dann blickte er um sich, versuchte sich die Gesichter seiner Freunde vorzustellen, alle in einem Kreis, die Hände ineinander. Er war, das wurde ihm bewusst, der letzte, der das Ende des Weges noch nicht erreicht hatte. Die Jahre hatten seinen Rücken krummer gemacht, und seine Mimik sorgenvoller. Vielleicht, so dachte er, war es Zeit, etwas zu schlafen. Er wollte traumlos schlafen, endlich einmal, und nicht wieder die Opfer sehen müssen.
„Ian“ sagte er mit einer tiefen, brüchigen Stimme zu dem Kreuz „ ich fahre nach Hause. Auf Wiedersehen, mein Lieber.“
Er drehte sich um und verließ den Friedhof. Ihm stand der Sinn nach Tee. Am Tor wendete er noch einmal den Kopf.
„ Freunde“ murmelte der alte Mann „ das ist kein Abschied für lange.“