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Restzeit

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03.04.2016
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Restzeit

Es war ein sonniger letzter Tag für den Mann. Das Großstadtpanorama war überzogen von Glanz, im Fluss spiegelte sich die Sonne in Form tausender schwirrender Lichtperlchen und auf dem breit angelegten Fußgängerweg herrschte ein heiteres Durcheinander. Touristen aus aller Welt genossen hier die Aussicht auf die Skyline der Stadt und das reichhaltige Angebot an Straßencafés mit Terrasse, untermalt von den wehmütigen Klängen eines Akkordeonspielers, welcher hier seinen Tagesunterhalt zu verdienen hoffte.
Trotz des schönen Wetters war es kalt und windig. Der Mann drückte seinen Hut fester auf den Kopf, den Schal zog er eng zu. Der kleine Koffer lastete unangenehm in seiner rechten Hand, die Linke löste diese bald ab. Er hatte noch viel Zeit bis zur Abreise. Er würde den Zug zum Flughafen erst am späten Nachmittag nehmen. Da die Innenstadt für ihn nichts Neues mehr enthielt, was sich zu sehen noch gelohnt hätte, flanierte er hier, am befestigten Flussufer umher, um sich die Zeit zu vertreiben. Er blickte auf die Wasseroberfläche, erfreute sich am flinken Tanz des Lichtes und sann etwas über die Unendlichkeit nach.
Den Fußgängerweg hier war er schon ein paar Male abgelaufen, am besten blieb er einfach stehen und genoss die Musik des Straßenmusikers, Töne aus einem fernen Lande, vermutlich Osteuropa, vielleicht Russland. Windböen trugen die Töne davon, gaben der Musik einen leicht flimmernden Klang, mal kräftig laut, mal leise und dünn. Der Mann rückte erneut seinen Hut zurecht und warf einen großzügigen Betrag in die Mütze des Spielers, der ihn mit einem schwermütigen Nicken bedachte.
Ohne ein Ziel spazierte der Mann nun doch weiter, sah sich um, erkannte stumme, bekannte Bilder, nichts, was noch seine Neugier weckte, was sich noch lohnen würde anzufangen. Eine Brücke über den Fluss lud ein ins Zentrum, er folgte den zahlreichen Menschen, die sie überquerten, war drüben, blieb stehen, sah die langen Einkaufsstraßen. Kaffees hatte er genug getrunken und auf ein weiteres Museum hatte er auch keine Lust mehr. Die Wege waren ohnehin zu weit und er war hier genug gelaufen. Der Mann drehte wieder um, überquerte die Brücke, spazierte umher, kam wieder zur Stelle von vorhin, aber der Akkordenspieler war nicht mehr da. Er entdeckte eine Bank, auf die er sich setzte.
Für eine unbestimmte Zeit saß er dort, den Koffer auf seinen Schoß gelegt. Die Wintersonne stand tief, er sah auf die Uhr und war recht froh. Langsam würde es Zeit für den Zug sein.

Man fand den Mann tot auf einer Bank im Vorstadtbereich. Ein Hut lag ein paar Meter weiter im Gras, der Wind hatte ihn wohl verweht, und konnte die wenigen weißen Haare auf dem leblosen Haupt des Mannes nicht mehr verbergen. Sein Gesicht war grau und faltig, sein körperlicher Zustand abgezehrt. Ein kleiner Koffer lag auf ihm.

 

Hej Francz,

im Grunde mag ich die Art, wie du die "Restzeit" eines Mannes beschreibst gern. Mir gefällt der Ton und der Rhythmus. Dennoch "nervt" es mich, dass ich nicht weiß, welche Last er im Koffer mit sich trägt.

Das Großstadtpanorama war überzogen von Glanz, im Fluss spiegelte sich die Sonne in Form tausender schwirrenden Lichtperlchen und auf dem breit angelegten Fußgängerweg herrschte ein heiteres Durcheinander.

"schwirrender"

Ich bin kein dankbarer Leser solcher Geschichten. Zum Glück werde ich hier, mit etwas Glück, aufgeklärt. ;)

Freundliche Grüße, Kanji

 
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Hey,
Danke für eure Meinungen!
Ronnie Ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass der Leser bei "letzter Tag" gleich an den Letzten seines Lebens denkt. Danke für den Hinweis! Ich wollte eigentlich zunächst den letzten Tag seiner Reise (Urlaub) beschreiben. Dass er dann stirbt, sollte eigentlich eine Überraschung sein.

Kanji Der Koffer ist -wie du vielleicht ahnst;)- ein Symbol. In der Geschichte geht es nämlich formal um einen Reisenden, der am Abreisetag nichts mehr mit sich anzufangen weiß und eigentlich nur noch auf "den Zug zum Flughafen" wartet. Er hat das Gefühl, schon alles von der Stadt gesehen zu haben, und dass es sich nicht mehr lohnen würde, in der "Restzeit" noch etwas Neues zu suchen. Gerade diesen Zustand am Ende eines Urlaubes finde ich vergleichbar mit dem Zustand am Ende des Lebens. Die Übertragung sollte also erst am Schluss, wo der Mann sich als toter Greis entpuppt, beim Leser stattfinden.
Schließlich zum Koffer: Du hast seine besondere Bedeutung bemerkt. Der Koffer, in den er nun, am Abreisetag, all seine Habseligkeiten gepackt hat, lastet schwer in seiner Hand und versagt ihm zusätzlich den Genuss am letzten Tag. Im übertragenen Sinn, könnte man den Koffer also als die oben beschriebene innere Einstellung verstehen, sich auf das Ende vorzubereiten, mit dem Leben abzuschließen und die restliche Zeit somit nur noch mit Warten verbringen zu können. Er bildet letztlich sein Grab. ("Ein kleiner Koffer lag auf ihm")

Viele Grüße, Francz

 

Hallo Francz

der Tonfall erinnert mich an einige Schriftsteller des letzten Jahrhunderts. So was Vages, Bedrohliches, das irgendwo wogt. Klingt bedeutungsschwanger, aber ist es das auch? Eine Menge Symbole, aber will ich die entschlüsseln, nachdem sie so aufgeladen daherkommen? Was auch immer der Koffer und der Mann und der Wind und all das bedeuten könnten oder sollten, interessiert mich das? Ich schwanke, weil ich zu viel solcher Literatur gelesen habe und all die Deutschlehrer dieser Welt sich allzusehr an so was erfreuen. So was tiefeninterpretierbares, wo das rosane Licht des Sonnenuntergangs mein eigenes Ich darstellen soll oder dergleichen. :D

Ich werf mal einen Blick in den Text:

Es war ein sonniger letzter Tag für den Mann. Das Großstadtpanorama war überzogen von Glanz,
geht schon los: wie startet man am besten eine Geschichte? mit einem sonnigen oder windigen oder trüben Tag, klar: er glänzt dann auch noch:sleep:

Der Mann drückte seinen Hut fester auf den Kopf,
Hut? 19.Jahrhundert?

Der Mann rückte erneut seinen Hut zurecht und warf einen großzügigen Betrag in die Mütze des Spielers, der ihn mit einem schwermütigen Nicken bedachte.
Klar: alle Russen sind schwermütig. lachen geht nicht...:D

Kaffees hatte er genug getrunken und auf ein weiteres Museum hatte er auch keine Lust mehr.
vielleicht sollte er sich einen neuen Hut kaufen oder in nen Apple-Store gehen :lol:

Sein Gesicht war grau und faltig, sein körperlicher Zustand abgezehrt.
nrächte es nicht, du beschreibst es schon mit grau und faltig...

Insgesamt finde ich, dass du kreativ bist, dass du recht souverän schreibst und du viel mehr oder was ganz anders draus machen könntest...

viele Grüße und willkommen hier
Isegrims

Auch das Setting legst du in eine unbestimmte Zeit.
Wir wissen aber:

 

Lieber Francz,

ein Mann will sich an seinem letzten Tag wegbegeben, irrt mit seinem schweren Koffer noch ein wenig in der Stadt umher und ist, auf einer Bank sitzend, froh, denn

Langsam würde es Zeit für den Zug sein.
Später findet man diesen Mann tot auf einer Vorstadt-Bank.

Aus deinen Äußerungen zum ‚Angler’ und auch zu dieser Geschichte weiß ich, dass deine Geschichten symbolträchtig und metaphorisch sein sollen.
Ich tue mich bei dieser Geschichte schwer, zu erkennen, dass es sich um eine Parabel bzw. etwas Metaphorisches handelt. Ich weiß nicht, woran es liegt. Vermutlich daran, dass die dargestellte Situation zu real ist. Wie du schreibst, kennst du ja Kafka. Nimm seine Geschichten. Kafka entwickelt in seinen Romanen und Parabeln irreale Situationen, um auf etwas in der Realität zu verweisen (z.B. die Entfremdung des Menschen in einer bürokratisierten Welt). Ich bin mir nicht sicher, ob es so auch geht, wie du es machst: Du beschreibst etwas sehr Reales (Ende des Urlaubs), sagst dann als Autor: Das ist jetzt aber nur ein Bild für etwas anderes Reales (hier der Tod, das Sterben).
Und an Kanji schreibst du:

In der Geschichte geht es nämlich formal um einen Reisenden, der am Abreisetag nichts mehr mit sich anzufangen weiß und eigentlich nur noch auf "den Zug zum Flughafen" wartet. Er hat das Gefühl, schon alles von der Stadt gesehen zu haben, und dass es sich nicht mehr lohnen würde, in der "Restzeit" noch etwas Neues zu suchen. Gerade diesen Zustand am Ende eines Urlaubes finde ich vergleichbar mit dem Zustand am Ende des Lebens. Die Übertragung sollte also erst am Schluss, wo der Mann sich als toter Greis entpuppt, beim Leser stattfinden.
Schließlich zum Koffer: Du hast seine besondere Bedeutung bemerkt. Der Koffer, in den er nun, am Abreisetag, all seine Habseligkeiten gepackt hat, lastet schwer in seiner Hand und versagt ihm zusätzlich den Genuss am letzten Tag. Im übertragenen Sinn, könnte man den Koffer also als die oben beschriebene innere Einstellung verstehen, sich auf das Ende vorzubereiten, mit dem Leben abzuschließen und die restliche Zeit somit nur noch mit Warten verbringen zu können. Er bildet letztlich sein Grab.
Aber so funktioniert das mMn nicht: Der Autor schreibt eine Geschichte, die für sich genommen, eine alltägliche Situation erzählt, und erklärt mir anschließend, wie er sich das gedacht hat.
Mir fällt Adornos Ausspruch zu Kafka ein: „Jeder Satz spricht: deute mich, … “ Bei dir ist es leider so, dass mich in deinem Text kein einziger Satz so anspricht. Ich erkenne einfach nicht, dass der Autor das alles nicht wirklich Wort für Wort so meint, wie er es schreibt, sondern auf etwas anderes (eigentlich Gemeintes) verweisen möchte. Und so erkenne ich natürlich auch nicht, was der Autor mir eigentlich sagen möchte. Ich glaube, dass ist die Schwäche dieses Textes: Ich erkenne nicht, dass es sich um etwas handelt, das ich deuten soll. Wenn ich deine Texte als Parabeln verstehen soll, so muss sich dies dem Leser auf die eine oder andere Weise mitteilen und nicht erst nach der ‚Gebrauchsanweisung’:D des Autors.
Ich finde, du schreibst wirklich gut. Auch deine ‚Angler’-Geschichte hat mir gefallen. Doch auch sie kommt nicht aus ohne Erklärung des Autors.
Auch das Angeln an sich war für mich ein Symbol; die Neugier treibt uns, aus einer fremden Sphäre (trübes Wasser) etwas an Land zu ziehen, wovon wir nicht wissen was es sein wird, dass es auch etwas gefährliches sein könnte, vergisst man schnell. Überträgt man nun diese Vorstellung der Unterwasserwelt auf alle anderen unerforschten "Parallelwelten" des Menschen (zB. Metaphysik, die Tiefe der Seele), so versteht man besser was dem Angler widerfährt.
Und wenn ich die Kommentare zu deinen beiden Geschichte lese, so scheint mir das von dir mit deinen Symbolen und Metaphern Gemeinte nicht wirklich bei den Lesern angekommen zu sein, sonst hätte es mMn der Erklärungen des Autors nicht bedurft.
Lieber Francz, das sind meine Gedanken zu deiner Geschichte. Ich heiße dich willkommen bei den Wortkriegern und habe das Gefühl, dass du hier genau richtig bist.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Liebe Barnhelm,

Danke für deine konstruktive Kritik. Ich denke du hast das Kern-Problem, das sich beim Leser einstellen kann sehr gut beschrieben. Der Deutungsbedarf muss tatsächlich in solchen Texten signalisiert werden. Allerdings dachte ich, dass diese Signale zu genüge da sind. Den Sachverhalt, dass ein Mann an seinem Abreistag auf einer Stadtbank verstirbt und ein Koffer auf ihm liegt, hatte ich für skurril genug gehalten, um ein Nachdenken beim Leser zu bewirken. Beim Angler hatte ich hierfür die Sache mit der Schlange und dem weißen Hai und dem Meer :D . Vielleicht war es bei der Geschichte aber eher unklar WIE man sie deuten soll oder? Und bei Restzeit denkt man vielleicht, es wird einfach nur der letzte Tag eines alten Mannes beschrieben?
Vielleicht sollte ich im Anfangsteil noch mehr den Eindruck vermitteln, als handle es sich um einen gesunden Geschäftsmann mittleren Alters, um am Schluss dann mit dem toten Greis das Rätsel zu eröffnen... ;)

Viele Grüße, Francz

 

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