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Rhapsodie in Rot
Gallileo, Gallileo,
Gallileo Figaro - magnifico
(Bohemian Rhapsody, Freddie Mercury, Queen, 1975)
Der Mann mit den grauen Haaren und dem Jungengesicht zahlte das Zimmer im Voraus und in bar. Er trug einen schmalen Koffer mit sich. Sein Plan war, das Hotel in spätestens einer Stunde zu verlassen. Der Aufzug brachte ihn in den dritten Stock, nach ein paar Schritten betrat er zielstrebig das winzige Zimmer. Er nahm einen Laptop aus dem Koffer, schaltete ihn an und wartete. Durchmaß das Zimmer, fünf Schritte zum Fenster, ins Bad, wieder hinaus, zum Bett. Mehrmals den gleichen Weg, hin und zurück. Die Minuten tropften zäh dahin. Als er am Fenster vorbeikam und hinaussah, erblickte er sie. Die Frau stand gegenüber dem Hotel an einer Bushaltestelle. Eine Windböe wehte ihr langes Haar kurz nach oben und er glaubte, das Gesicht zu erkennen. Aber er konnte der Frau keinen Namen zuordnen. Erinnerungen tauchten vor seinem inneren Auge auf. Kreta … 1992? Da war ein Mädchen gewesen, sechzehn oder siebzehn, er hätte schwören können, dass die Frau auf der Straße ihr Ebenbild war. Nichts an ihr schien sich verändert zu haben, ihr Haar war jetzt rot, statt dunkel. Sie waren im heißen Sand gelegen, die Wellen hatten ihre Zehen umspült, während ihre Körper miteinander verschmolzen. Dass er sich jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren noch erinnerte, an die Empfindungen und Gefühle, an das Prickeln des Sandes auf der sonnenverbrannten Haut, die Hitze der kretischen Sonne und an ihren Duft. Samtige Minze und der salzige Geruch des Meeres. In ihren Armen, am Strand von Agios Nikolaos, erlebte er die intensivsten Tage seines Lebens. Er hatte ihr versprochen zurückzukommen, sobald die Sache mit den Kurden gelaufen sein würde. Schnell verdientes Geld für einen Zwanzigjährigen. Die Amis auf ihren grauen Schlachtschiffen in der Soudabucht waren gute Kunden. Er musste die Ware persönlich aus der Türkei holen, dabei war etwas schiefgelaufen. Erst nach zwei endlosen Jahren hatte ihn jemand aus der dreckigen Zelle in Igdir geholt. Aus dem Jungen war ein alter Mann geworden. Er war zurück nach Kreta gegangen, in der Hoffnung, die Berührungen ihrer Hände würden seine Wunden heilen. Sie war nicht mehr da gewesen.
Das Läuten des Zimmertelefons unterbrach seine Gedanken.
„Ja? … geht klar … ich warte … okay.“
Er verspürte Durst, ging ins Bad, füllte ein Glas mit Wasser. Die lauwarme, gelbliche Flüssigkeit war ungenießbar. Er spülte kurz den Mund aus, spuckte das Zeug gegen den Spiegel und beobachtete, wie sein Gesicht hinter dem Wasserschleier seine Konturen verlor. Ohne für Kühlung zu sorgen, schaufelte der Ventilator die stickige Luft durch den Raum. Er ging zurück ans Fenster. Sie stand immer noch da unten. Schwarze Jeans, den Oberkörper in einer speckigen Lederjacke versteckt. Er suchte weiter nach ihrem Namen. Er hätte jede Pore, jedes Härchen auf ihrer Haut beschreiben können – aber ihr verdammter Name war weg. Oft, nachdem sie sich am Strand geliebt hatten, gingen sie Hand in Hand hinauf, durch die nach Thymian und Wacholder duftende Macchia zurück in ihr Dorf. Sie aßen was das Meer ihnen bot, dazu Oliven, Käse. Tranken Wein, schwarz wie Blut, aus bauchigen, staubigen Flaschen, gingen zurück zu ihrer Bucht und liebten sich wieder. Sieben Tage oder sieben Jahre? Die Zeit hatte ihre Bedeutung verloren, Zukunft und Vergangenheit existierten nicht, alles was sie taten passierte jetzt.
Erneut holte ihn das Läuten des Telefons in die Gegenwart zurück.
„ … ja … es ist alles vorbereitet … nein ... natürlich ist die Nummer sicher … ja … beeilen Sie sich!“
Warum dieses Misstrauen? Er machte diesen Job nicht zum ersten Mal, war der Beste darin. Mit dem Handrücken wischte sich der Mann den Schweiß von der Stirn. Die Sommer hier im Norden waren kurz, heiß und feucht. Er hasste diese Stadt, dieses Hotel, diesen Job. Nach diesem Auftrag hätte er genug Kohle für ein sorgenfreies Leben. Er dachte an das Dorf auf der griechischen Insel, an das Mädchen. Eine andere Zeit, ein anderes Leben. Er zweifelte nicht an der Richtigkeit seiner Entscheidung. Seit Kreta waren ihm keine Fehler mehr unterlaufen – nie mehr. Auch jetzt würde das nicht passieren. Er stand noch eine ganze Weile da, betrachtete, was sich in erstaunlicher Deutlichkeit auf der Fensterscheibe abbildete, und wäre fast in das zeitlose Loch gefallen, in dem er die südlichen Tage mit ihr verbracht hatte, als das Summen des Mobiltelefons seine Fantasie unterbrach. Eine förmliche Stimme gab knapp und leise einen Code durch. Sorgfältig notierte er die Nummer auf einer herumliegenden Zeitung. Es vergingen ein paar Minuten, bevor er sich wieder einloggte, den Code eintippte und auf die Bestätigung wartete. Bis auf die Telefongespräche gab es keine Kontakte zu irgendwelchen Menschen. Wenn alles abgeschlossen war, würde er das Handy und den Computer entsorgen. Seine Spuren im Netz wusste er ebenso geschickt zu verschleiern. Der Upload dauerte wenige Minuten. Unwillkürlich musste er lächeln, als er daran dachte, wie diese Geschäfte noch vor zehn Jahren gelaufen waren. Die jetzige Methode gefiel ihm besser. Der erste Teil der Prozedur war beendet und er loggte sich aus. In ein paar Minuten ist alles gelaufen. Dann zum Hafen, auf die Fähre, noch ein Drink oder zwei.
Sein Blick fiel nochmal durchs Fenster. Da, wo vor wenigen Minuten noch das Mädchen gestanden hatte, beugte sich eine Gruppe Menschen über etwas am Boden Liegendes. Ein Polizeiwagen bog heulend um die Ecke, bremste scharf vor den Leuten. Eine andere Sirene kündigte eine Ambulanz an. Er hasste dieses Geräusch, wollte sich gerade abwenden, als er erkannte was da lag. Ihr Kopf war zur Seite gebeugt, die Arme seltsam verkrampft um ihren Oberkörper gepresst, als würde sie sich vor etwas schützen wollen. Die Beine zuckten unkontrolliert. Er hatte dieses Zittern zu oft gesehen, er wusste, es würde bald vorbei sein. Das rote Haar schien sich wie Krakenarme auf dem Gehsteig auszubreiten – dann bemerkte er, es war Blut. Ungläubig starrte er auf die Szenerie. Etwas zerrte an ihm, drängte nach unten auf die Straße - zu ihr. Doch ein anderer, stärkerer Impuls hielt ihn zurück. Sein Blick hetzte zwischen Computer, Telefon und der blutenden Frau hin und her. Die gelben Kapseln von heute Morgen wirkten noch - gut, er musste einen klaren Kopf behalten. Dann erschlaffte ihr Körper. Die Menschengruppe vergrößerte den Kreis um sie, Polizisten beugten sich über den leblosen Leib. Aus der Ambulanz sprangen zwei Typen mit gelb-roten Overalls, große rote Koffer mit sich schleppend. Sie taten sehr beschäftigt, aber er sah von hier, dass sie nichts mehr tun konnten.
Wieder klingelte das verdammte Telefon – jetzt Teil zwei der Transaktion – dann würde es endlich vorbei sein. Er zwang sich vom Fenster weg zum Laptop, startete ein anderes Programm und die Verbindung ins Netz baute sich auf. Ein Schweißtropfen zerplatzte auf der Tastatur. Als er fertig war, hatte er zwei Millionen US-Dollar verdient, sein größter Deal bisher, netter Lohn für ein paar Telefongespräche. Damit war dieses Kapitel und fast ein ganzes verdammtes Leben abgeschlossen. Die Sirene riss den Grauhaarigen erneut aus seinen Gedanken. Das Jaulen entfernte sich langsam und endlich war Ruhe. Er schaltete Computer und Handy aus, ging ein letztes Mal zum Fenster. An der Stelle, an der das rothaarige Mädchen gelegen hatte, war nur noch ein dunkler Fleck. Die Menschenmenge hatte sich verlaufen, nur die Polizisten standen noch herum, redeten, gestikulierten. Einer deutete auf das Hotel, in Richtung seines Zimmers. Donner grollte, ein Sommergewitter. Der Regen würde kurz und warm und heftig sein. Und anschließend würde keine Spur mehr von dem Vorfall zu sehen sein. Die letzten Menschen verließen angesichts des drohenden Unwetters die Straße, flüchteten in umliegende Hauseingänge. Die zwei Uniformierten liefen über den Asphalt, direkt auf das Hotel zu. Dann war der Platz leer und es begann zu schütten. Die Sturzfluten spülten das restliche Blut den Gehsteig hinunter, in den Abflussgraben und zum nächsten Gully, wo es für immer in den Eingeweiden der Stadt verschwand.
Seine Erschütterung wich Ernüchterung, er dachte an den erfolgreichen Abschluss. Müde schloss er die Augen, sog die abgestandene Luft ein. Wieder sah er dieses Gesicht. Da er keinen Namen damit verbinden konnte, maß er ihm keine Bedeutung mehr zu und löschte es aus seinem Gedächtnis. Das Gesicht zerfloss, wie die Blutlache auf dem Gehweg. Er griff seinen Koffer und verließ ruhig und mit festen Schritten das Zimmer. Zwei durchnässte Polizisten standen unten an der Rezeption und redeten auf den Manager ein. Ohne sich umzudrehen ging er durch die Drehtür. Das Taxi stand vor dem Haus, exakt nach Plan. Zwei, drei Schritte bis zum Wagen, er war nicht mal richtig nass geworden, als er sich auf die Rückbank fallen ließ.
„Zum Hafen.“
Die Fähre nach Kiel würde in vierzig Minuten auslaufen. Das weitere Vorgehen war minutiös in seinem Kopf abgespeichert. Während der Fahrt überkam ihn Müdigkeit. Keine Bilder, nur das dunkle Rot, das durch seine Augenlider pulsierte. Der Regen trommelte gegen das Blech, die Scheibenwischer kämpften sich quietschend durch die Wassermassen. Im Autoradio lief ein uralter Song.
Is this the real life?
Is this just fantasy?
Caught in a landslide,
no escape from reality.
Ein bitteres Lächeln zog seine Mundwinkel nach unten.
... nothing really matters to me
Anyway the wind blows ...