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Rote Kirschen an Silber
"Hey."
"Ah, hey. Wie geht's?"
"Gut, gut. Dir?"
"Japp, mir auch!"
Diese knappe Begrüßung ist so langweilig wie immer. Aber es macht mich auch wie immer verlegen. Ständig beschleicht mich das Gefühl, dass die anderen Leute von mir verlangen, als Erste ein neues Gesprächsthema zu beginnen. Wenn ich das nicht tue, dann denken sie bestimmt, was für eine Langweilerin ich bin. Und dann gehen sie weg, suchen sich einen anderen zum Anquatschen. Doch heute ist nicht mein Tag, deswegen sag ich auch nichts.
"Schreiben eine Lateinarbeit. Drück mir die Daumen!"
"Ok... Ich drück dir die Daumen!"
Zwei Daumen schnellen hoch und runter.
Puh, Glück gehabt. Bevor sie noch was sagen kann, eile ich schnell die Treppen hinunter und suche mein Klassenzimmer auf. Juli kommt mir entgegen.
"He, hast du schon die Hausaufgaben für Deutsch gemacht?"
"Was war auf?"
"Das Ende schreiben."
"Ach du große Sch****!"
Die Schulklingel ertönt, als wir von Frau Ketz entlassen werden. Juli läuft mit mir zum Bahnhof, wir wollen zum Burger King, zwei Chickenburger holen. Dann gehen wir in ein Schmuckgeschäft. Juli ist sehr wählerisch und immer möchte sie, dass ich den gleichen Geschmack wie sie habe. Mir drückt die schwere Schultertasche auf meiner linken Schulter, ich trotte hinter Juli her. In der Zwischenzeit hat sie den nächstbesten Schmuckständer erreicht und ruft schon begeistert: "Guck mal!"
Und ich sehe hin und ein schwarzes Portmonee mit einem Totenkopf aus Glitzersteinen blitzt mir entgegen. Typisch Juli. Aber ich lass mir nciht anmerken, dass das Portmonee mir nicht so recht gefällt.
Das kann ich schon ziemlich gut, weil ich was-weiß-ich-wie-viele-Male schon mit Juli in Geschäften war.
Dann fällt mir etwas plötzlich ins Auge: Es sind silberne Armbänder. Besonders zwei gefallen mir, an ihnen baumeln rote Mini-Kirschen und Mini-Schilder. Auf dem einen steht Friends und auf dem anderen Forever.
Ich greife danach und prüfe, wieviel die Armbänder kosten.
Sie sind zu teuer, jedenfalls habe ich nicht genügend Geld dafür.
Plötzlich steht hinter mir Juli. Sie sieht die Armbänder in meiner Hand und hat sie mir im nächsten Moment aus der Hand genommen. Unsicher schaue ich ihr ins Gesicht und bin verblüfft, als ich ihre funkelnden Augen bemerke.
"Wollen wir unser Geld zusammentun? Na, wie wär's?"
Ich lasse mich von ihrer Begeisterung mitreißen und stimme heftig zu. Ihr scheint nicht entgangen zu sein, wie sehnsüchtig ich auf die zwei Armbänder geblickt hatte. Minuten später stehen wir vor ihrer Haustür und befestigen uns unsere neuen Armbänder gegenseitig am Handgelenk.
Zufrieden starre ich die glitzernden Kirschen an.
Ich hab das Friends-Schild. Gedankenverloren streiche ich über das Armband, über die silbernen Ringe, die ineinander verkettet sind und das Band bilden. Noch nie habe ich mich so glücklich gefühlt.
Ein richtiges Freundschaftsarmband!
Ich verspreche mir, es nie nie nie zu verlieren und immer zu tragen, wann es möglich ist!
Seufzend lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und starre das volle Arbeitsblatt vor mir an. Nach ein paar Minuten richte ich mich wieder auf und prüfe, ob ich auch alles richtig habe. Nachdem ich davon überzeugt bin, stehe ich auf und spüre, wie sich die ganzen Köpfe zu mir drehen. Alle Augenpaare beobachten mich und verfolgen all meine Bewegungen. Besonders zwei grüne Augen. Die von Juli. Giftig starrt sie mich an und sieht mir zu, wie ich anfange, meine Sachen in die Tasche zu verstauen um darauf den Saal zu verlassen. Meine Schritte hallen wieder, so still ist es. Nachdem ich die Tür hinter mir zugemacht habe, seufze ich ganz laut auf. Ich habe Juli nicht geholfen, geschweige denn auf sie gewartet, bis sie ihre eigenen Aufgaben gelöst hat. Ich bin stattdessen einfach rausgegangen und habe sie allein zurückgelassen. Dabei weiß ich ganz genau, dass Juli die Arbeit nicht allein schaffen kann.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, rauscht Juli an mir vorbei, dabei blitzt etwas an ihrem Handgelenk auf: Unser Freundschaftsarmband.
Wir tragen ihn beide schon ganze sieben Jahre. Und diese ganzen sieben Jahre lang durch hoffe ich, dass unser Kontakt nicht zusammenbricht. Ich betrachte mein Armband, das sich um mein Handgelenk windet. Das Silber ist größten Teils abgeblättert, die Kirschen glitzern nicht mehr so schön wie früher, es befinden sich so viele Kratzer auf dem Friends , dass das Wort nicht mehr zu erkennen ist. Nur ich kenn dieses Wort, dass eigentlich bei seiner Erwähnung ein wohltuendes Gefühl mich streifen sollte. Aber stattdessen überkommt mich ein quälendes Gefühl, dass jeder Mensch spüren kann: Die Angst. Angst, dass dieses Wort nicht mehr existieren würde, Angst, dass ich dann daran Schuld wäre.
"Nein, das ist zu langweilig!"
"Nö, überhaupt nicht, woher willst du das wissen??!! Lass es doch einfach!"
"Soll das eine Zusammenarbeit sein, oder nicht?"
"Was hat DAS jetzt damit zu tun?"
Wir streiten schon die ganze Deutschstunde über, ob der Hintergrund unserer Präsentation schwarz sein oder ein Bild von der Berliner Mauer enthalten soll. Ich bin für die Berliner Mauer, weil ansonsten unsere Präsentation zu langweilig wäre. Wir haben schon fünf Seitenlayouts, uns fehlen nur noch drei. Und bis dahin haben wir nur noch wenig Zeit. Was mich aber am meisten reizt, ist, dass Juli bisher bestimmt hat, was auf diesen fünf Seiten draufkommt. Nun bin ich wütend und bin fest dazu entschlossen, zu zeigen, dass nicht nur sie das Sagen hat. Das sage ich ihr dann auch:
"Jede Menge: DU bestimmst doch die ganze Zeit, was auf den Layouts stehen soll!"
"Ach, wer war es dann, der unbedingt tippen wollte?"
"Wer war es denn, der befohlen hat, was reinzutippen war?"
Meine Hand ballt sich zu einer Faust. Manchmal ist Juli echt unausstehlich!!
Juli selbst kann sich nicht mehr beherrschen. Sie springt so schnell von ihren Stuhl auf, dass es polternd umkippt. Die ganze Klasse schaut zu, auch die Lehrerin. Aber darauf achten wir beide nicht. Stattdessen zischt Juli, dass ich es gefälligst alleine machen soll, wenn ich so zickig wäre.
Ohne mit einer winzigen Wimper zu zucken, giftete ich zurück:
"Mit dem größten Vergnügen, wenn Eure Hoheit auch noch kommandiert, dass ich es alleine zu machen habe."
Das ist endgültig zu viel, und bevor ich es selber merke, was ich soeben gesagt habe, ist Juli schon längst aus dem Zimmer gestürzt. Nach meiner Vermutung nach, zum Mädchenklo. Ich ignoriere die entrüsteten Blicke und mir entgegen sprühende Verachtung, obwohl in mir alles zusammenkrampft und zum Heulen zumute ist.
Als ich zu Hause ankomme, schleudere ich meine Tasche wütend in eine leere Ecke, schlage die Tür hinter mir zu. Zum Glück sind meine Eltern nicht da. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und starre die Decke über mir an. Einen Moment lang versuche ich, meinen Kopf zu leeren. Weil es nicht klappt, setze ich mich vor das Klavier und spiele darauf herum, bis mein Ärger wie von selbst verflogen ist. Und da seh ich: Eine von den Kirschen fehlt der rote Glitzerstein. Da halte ich es nicht mehr aus und die Tränen kullern nur so von meinen Wangen. Ich habe ein Glitzerstein verloren, das ist kein großer Verlust. Aber soeben habe ich endgültig meine Freundin verloren. Ausgerechnet heute, wo Juli und ich vor acht Jahren die Armbänder gekauft haben, die schönen silbernen neuen Armbänder mit den roten leuchtenden Kirschen.