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- 07.01.2018
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Saya
Ich werfe einen Blick über die Schulter. Meinen Verfolger kann ich nicht sehen, aber ich höre das Knirschen von Schritten im Sand. Jemand ruft meinen Namen.
»Kasta.«
Sayas Stimme reißt mich aus dem Schlaf. Ich schrecke auf, das durchgeschwitzte Laken klebt an meinem Rücken. Auf dem Computerbildschirm glüht ein roter Schriftzug.
»Kasta, du hast sieben ungelesene Nachrichten«, sagt Saya, ihre Stimme dringt sanft und volltönend aus den Lautsprechern.
»Von wem?«, frage ich, reibe mir den Schlaf aus den Augen.
»Sechs Nachrichten von Luupi, eine von Oli.«
»Lese mir die Nachricht von Oli vor.«
Ich knie mich neben das Bett, hebe die Matratze an und greife darunter.
»Oli schreibt: ›Wird spät. Warte nicht auf mich.‹«
Meine Finger stoßen auf eine kleine Schatulle. Ich ziehe sie hervor, streiche über den staubigen Samtbezug.
»Wann war das?«, frage ich, klappe das Kästchen auf, betrachte den Ring. Schlicht, silbern, ein wenig angelaufen. Luupis Augen haben geglänzt, als ich während unseres Videotelefonats das Päckchen aufgerissen und den Ring seiner Mutter gefunden habe. Jetzt ist er meiner oder könnte es sein. Ich muss nur nicken.
»Vor vier Stunden.« Saya ergänzt, ohne dass sich ihr Tonfall ändert: »Oli hat das Haus betreten.«
Ich stopfe die Schatulle zurück unter die Matratze. Mit einem Satz bin ich am Computer. »Saya, Sprachsteuerung aus.« Ich klicke das weiße Häuschensymbol auf dem Desktop an. Der Startbildschirm des VR-Programms öffnet sich. Willkommen in unserer Welt. Schaff dir deine eigene.
Im Türschloss dreht sich der Schlüssel, und Oli steckt den Kopf ins Zimmer. »Warum bist du noch wach?«, fragt er.
»Ich habe da noch so eine Sache.« Ich weise auf den Bildschirm.
Er beißt sich auf die Unterlippe, dorthin, wo die Narben der Zahnabdrücke sind.
Als wir klein waren, habe ich ihn auf dem Boden vor der Anrichte gefunden, auf die ich immer geklettert bin, um die Süßigkeiten aus dem Schrank zu nehmen. Er hat geblutet, aber nicht geweint, und ich habe ihn festgehalten, während ich seinen Mund mit einem Lappen abgewischt habe. Ich wollte es vor unseren Eltern verheimlichen, aber die ausgeschlagenen Zähne und die zerbissene Unterlippe ließen sich nicht verbergen. Natürlich habe ich die Prügel bekommen.
»Muss morgen fertig sein«, sage ich.
»Geh ins Bett!«
Ich spiele mit dem Gedanken zu widersprechen, verwerfe ihn jedoch sofort. »Okay.«
Er lächelt. »Gute Nacht.« Leise zieht er die Tür zu und dreht den Schlüssel im Schloss herum.
Ich lege mich aufs Bett, starre zur Decke hinauf, lausche auf die Schritte im Flur, das Geräusch, mit dem seine Zimmertür zufällt.
Der Ring sticht durch die Matratze in meine Wirbelsäule, raubt mir den Schlaf.
»Sofort, Kasta. Bitte habe einen Augenblick Geduld.«
Weiß vor meinen Augen, fast zehn Sekunden lang. Es dauert eben, sich auf einem Server einzuwählen, der gut geschützt ist.
Endlich weicht das Weiß dem warmen Licht der Lobby. Roter Marmor, schwere Vorhänge, eine Sesselgruppe vor einem Kamin. Der Empfangstresen ist verwaist, über dem Springbrunnen im Zentrum des Saals kreiselt ein Holo-Würfel, der Bilder von lächelnden Frauen zeigt. Darunter läuft ein Schriftzug: Schutz, Solidarität, Saya.
»Willkommen, Kasta«, sagt Saya, ihre Stimme erfüllt den ganzen Raum. »Luupi hat dir neun Nachrichten hinterlassen.«
»Lese mir die aktuellste Nachricht vor.« Ich trete hinter den Tresen, fahre mit der Hand über die gläserne Oberfläche, auf der die Unterlagen der Empfangsdame aufleuchten.
»Kasta, ich warte in meinem Zimmer auf dich. Bitte melde dich«, sagt Saya.
»Danke.« Ich blättere mich kurz durch die heutigen To-Dos. Ein Aufnahmegespräch am Nachmittag. Eine Bewohnerin hat gemeldet, beim letzten Update wären Gegenstände aus ihrem Zimmer verschwunden. Ich setze die Beschwerde auf die Prio-Liste für die Programmierer. Für Luupi und mich.
»Saya?« Ich atme tief durch. »Wie sehe ich aus?«
»Einen Moment, bitte«, sagt Saya. Ihre Stimme klingt amüsiert, so wie immer, wenn sie die Avatare der Serverbewohnerinnen bearbeitet. »Ich habe deine Frisur korrigiert, Kasta.«
»Danke, Saya. Bring mich in Luupis Zimmer.«
»Einen Augenblick Geduld. Ich erbitte die Zugangsberechtigung.«
Saya versetzt mich direkt in Luupis Arbeitszimmer. Es ist durch keine Tür zu erreichen. Manche Bewohnerinnen beunruhigt die Anwesenheit von Männern, also ist es das Beste, wenn sie nicht wissen, dass Luupi sich mehr als nötig auf dem Server aufhält.
Schwarzer Teppich auf dem Boden, Fenster an allen vier Wänden – und durch jedes ein anderer Ausblick: ein Nadelwald, Regendunst in den Baumkronen; ein schwarzer Strand mit sturmgepeitschter See; Rapsfelder, schneebedeckte Berge am Horizont; eine Heidelandschaft, Schafe zwischen lilablühenden Sträuchern.
Diese und andere Welten habe ich designt, sie Luupi gezeigt, als er das erste Mal den Server betreten hat, lange bevor Sayas Haus zu einem Zufluchtsort geworden ist. Nicht nur für mich, auch für andere Frauen. Damals war es noch mein Zufluchtsort, eine Heimat nur für mich, und all mein Herzblut habe ich in die Landschaften gesteckt. Luupi hat sich umgeschaut, geschnuppert und gesagt: Es riecht nach nichts.
Seitdem hat sich alles verändert.
Im Zentrum des Raumes steht Luupis Holo-Arbeitstisch, auf dem die Nachrichten laufen. Als ich im Zimmer erscheine, erhebt Luupi sich aus seinem Sessel.
»Kasta«, sagt er, macht einen Schritt auf mich zu, hält jedoch inne. »Ich dachte, du ignorierst mich.«
Ich weiche seinem Blick aus. »Ich habe dich ignoriert. Muss nachdenken.«
»Oh.«
»Ja.«
»Und?«, fragt er.
»Was?«
»Hast du nachgedacht?«
Ich gehe zum Tisch, tippe auf das weiße Häuschensymbol und rufe die Prio-Liste auf. »Aus Zimmer 147 verschwinden Dinge«, sage ich. »Kümmerst du dich darum?«
Seine Miene verfinstert sich, aber die Stimme klingt fest. »Klar. Aber …«
»Kasta«, sagt Saya. »Oli hat das Haus betreten.«
»Ich muss los.« Ich nicke Luupi zu. »Melde dich, wenn es Schwierigkeiten gibt.«
»Kasta …« Er streckt eine Hand nach mir aus. Die Welt um mich versinkt im Weiß.
Ich ziehe den Stecker der Neurobuchse aus meinem Nacken. »Danke, Saya. Sprachsteuerung deaktivieren.«
Ich öffne das Saya-Programm, klicke mich durch zu Zimmer 147. Der Code ist extrem unübersichtlich. Luupis Code. Es ist eine Farce, mich als Designerin von Sayas Haus zu bezeichnen. Ich kümmere mich fast nur noch um unsere Gastgeberin, darum, dass Saya immer höflicher, schneller, humorvoller, ihre Stimme modulierter wird. Die Seele des Hauses ist Luupi. Luupi mit den schwarzen Augen, den warmen Händen. Luupi, der achthundert Kilometer entfernt wohnt.
Oli schließt meine Zimmertür auf.
»Bin da.«
Ich trete durch die angelehnte Tür auf den Flur und folge Oli in die Küche. Er lässt sich auf einen Stuhl fallen.
»Arbeitest du schon wieder?«, fragt er. Er kramt eine Zigarettenpackung aus der Innentasche seines Mantels, steckt sich eine Kippe an.
»Ja.«
»Du weißt, dass ich wieder einen Job habe?«
»Ja«, sage ich seufzend.
»Die bezahlen sogar ganz okay«, sagt er.
Ich öffne die Tiefkühltruhe, ziehe zwei Schalen heraus.
Oli zieht an der Kippe und reckt das Kinn, um den Rauch zur Decke zu pusten. »Du musst nicht mehr arbeiten.«
»Ich mache das gerne.«
»Und überhaupt«, sagt er.
Mit einem Ruck ziehe ich den Ofen auf, reiße die Folien von den Pappschalen und knülle sie mit möglichst viel Getöse zusammen.
Ich blicke auf das Hochzeitsfoto unserer Eltern über dem Herd, sie berühren sich nicht auf dem Bild. Mutter in dem rosafarbenen Kleid vor einem Sommerflieder. Sie lächelt nicht, ihr Blick durchbohrt mich.
»Und überhaupt«, sagt er und hebt die Stimme, als befürchtete er, ich würde ihn sonst überhören, »diese ganze VR ... Weiß nicht. Seit diese Saya-Fems Frauen einäschern.«
»Das machen nicht nur die Saya-Fems!« Meine Stimme klingt lauter, als sie sollte.
Ich atme tief durch, werfe ihm einen Blick zu. Er versucht einen Rauchring. Gut. Sieht so aus, als irritierte ihn mein Tonfall nicht.
»Wie auch immer. Das ist doch scheiße«, sagt er.
»Das ist ja kein bloßes Einäschern.« Ich schiebe die Fertiglasagne in den Ofen. Mit einem Rattern erwacht die Umluft zum Leben – der Ofen klingt erschöpft wie ein alter Mann bei der letzten Schicht –, und ich drehe mich zu Oli um. »Durch die Krema-Technik kann man Leute retten, die an unheilbaren Krankheiten leiden …«
»Quatsch!« Er wedelt mit der Zigarette. »Mit der Krema-Technik werden keine Krankheiten geheilt. Man äschert die Körper ein und packt das Bewusstsein der Leute in die VR. Aber sind sie dann noch echte Menschen?« Er sieht mich durchdringend an.
Ich lache. »Oli, du bist kein Philosoph.«
»Und die Saya-Fems sind noch viel schlimmer. Die zerstören die Körper von Leuten, die völlig gesund sind. Lassen sie verschwinden.«
Er holt tief Luft, seine Unterlippe bebt. Ich weiß, wir denken beide an Mutter. Und wie sie für immer in der VR verschwunden ist. Illegal, die Krema-Technik auf gesunde Menschen anzuwenden. Aber das Gesetz hat sie nicht aufgehalten. Sie nicht. Mich nicht.
»Ich möchte nicht, dass du in deren Fänge gerätst«, sagt Oli.
»Okay. Ich passe auf.«
Ich strecke die Faust in seine Richtung, den kleinen Finger abgespreizt. Aber er geht nicht darauf ein, spielt mit dem Feuerzeug herum, lässt die Flamme aufleuchten und wieder verlöschen. Aufleuchten, verlöschen.
»Ich passe auf«, sagt er.
Ich lasse die Hand sinken.
»Was meinst du, was dein Computer und das ganze Zeug wert sind?«, fragt er.
Mein Körper krampft sich zusammen, als hätte er mir einen Schlag in die Magengrube verpasst. Für einen Augenblick bekomme ich keine Luft, ringe nach Atem, presse mühsam hervor: »Was?«
»Den brauchst du ja dann nicht mehr.«
Ich stoße mich vom Herd ab. »Nein!«
»Was?«
»Nein! Das ist meiner!«
»Wir könnten das Geld gebrauchen.«
»Der Herr verdient doch jetzt genug!«
Er wirft die glimmende Kippe in die Spüle. Stützt die geballten Fäuste auf der Tischplatte ab. »Schrei mich nicht an.«
»Ich schreie nicht!«
Sofort ist er bei mir, baut sich vor mir auf, atmet mir seinen heißen Atem ins Gesicht. »Widersprich mir nicht!«
Ich fletsche die Zähne. »Das ist mein Computer!«
Er presst die flache Hand auf meinen Kopf, drückt mich auf den Fußboden, presst mein Gesicht auf die kalten Fliesen. »Miststück«, sagt er.
Ich bleibe auf dem Boden liegen, seine Zimmertür fällt ins Schloss. Bewegen kann ich mich nicht, nicht einmal den Kopf heben. Ich drücke das Ohr gegen die Fliesen, lausche auf das Atmen des alten Hauses unter mir.
»Oli will meinen Computer verkaufen.«
Luupi sieht mich an. Öffnet den Mund, schließt ihn wieder.
»Sag doch was«, sage ich.
»Scheiße, Kasta.«
»Er hat Angst, dass ich in die Fänge der Saya-Fems gerate.« Ich lache. »Wenn der wüsste.«
»Ich finde das nicht komisch.«
»Tja, ich schon.«
Mit verschränkten Armen lehne ich mich im Schaukelstuhl zurück, lasse den Blick über die atemberaubende Gebirgslandschaft schweifen. Vom Balkon haben wir eine hervorragende Aussicht aufs Tal. Die Luft duftet nach Regen.
Naturspektakel, nachgebildet in einer Perfektion, die nur Luupi erreichen kann.
»Hat er …?« Luupi reibt sich das Kinn, die roten Bartstoppeln geben unter seiner Hand ein kratziges Geräusch von sich. »Du weißt schon.«
»Nein. Nein. Wir haben uns gestritten. Aber das wird schon wieder.«
»Kasta.« Er beugt sich vor, ergreift meine Hand. »Das ist nicht wahr.«
Tief einatmend streiche ich mit dem Daumen über seinen Handrücken, wie eine echte Berührung. Ich blicke in sein Gesicht, die dunklen Augen, will seine Haut auch in der Wirklichkeit berühren können. Wünsche mir, ich wäre bei ihm.
Mit einem Ruck ziehe ich die Hand weg.
»Wenn du nicht willst, das mit uns …« Seine Stimme zittert, er unterbricht sich. »Ich verstehe nicht, wieso du nicht längst hier eingezogen bist. So richtig.« Er macht eine Handbewegung, die alles einschließt. Die Gebirgslandschaft, unsere Berghütte mit dem breiten Bett, dem rotkarierten Bettzeug, das nach Luupi riecht, nach mir, nach dem Schweiß auf unserer Haut. »Er könnte dir nie wieder etwas tun.«
»Ich bin mit dem Konzept von Sayas Haus vertraut, danke.«
»Ich weiß. Und was ist …« Er behält die Augen auf den Horizont gerichtet, doch ich ahne, dass er mich aus dem Augenwinkel ansieht »… mit uns?«
Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. »Eins weiß ich. Oli wäre nicht glücklich ohne mich.«
»Das ist doch scheißegal!«
Wir sehen einander an, ich schiebe die Unterlippe vor.
»Dir vielleicht«, sage ich. »Und weißt du was? Es ist jedem egal. Aber mir nicht.«
Er streckt wieder die Hand nach mir aus, doch ich ziehe den Arm weg. Sein Gesichtsausdruck verzerrt sich, ich muss die Augen schließen.
»Hast du nachgedacht?«, fragt er.
Am liebsten hätte ich mir auch noch die Ohren zugehalten. »Ja.«
»Also?«
»Oli würde es nicht erlauben.«
»Liebst du mich?«
Ich öffne die Augen, schaue in sein weiches Gesicht, das Schimmern in seinen dunklen Augen. »Ist doch egal.«
»Mir nicht.«
Früher, wenn ich die Prügel eingesteckt habe, wenn ich ihn in der Ecke sitzen gesehen habe, er – immer an allem unschuldig –, dann jagte die Wut purpurn durch meine Adern, dann bekam ich kaum noch Luft. Danach habe ich Olis Kopf auf meine Matratze gedrückt, die Bettdecke drübergezogen und mich auf ihn gelegt, bis er sich nicht mehr bewegt hat. Ich konnte erst wieder ruhig atmen, wenn ich gespürt habe, wie sein Jungenkörper unter mir erschlafft ist.
Doch heute bin ich so müde, ich schließe ohne ein Wort die Zimmertür zwischen uns und versuche zu schlafen. Aber jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich das Hochzeitskleid meiner Mutter vor mir, das Babyrosa.
Wenn du nicht in der VR leben willst, dann lebe bei mir. Weit weg von ihm. Luupis Worte. Luupis Pläne.
Vom Bett kann ich aus dem Fenster sehen, auf die gegenüberliegende Häuserreihe, grauer Putz. Ich wünsche mir die Aussicht auf Luupis Tal, die Berge, den Regengeruch. Die Luft in der Wohnung schmeckt nach Zigarettenasche und Staub.
Ich stehe auf, schlurfe in die Küche.
»Oli?«
Er sitzt am Küchentisch und blättert durch die Zeitung. »Was?«
»Ich muss einkaufen gehen.«
Er greift in die Manteltasche, legt mein Portmonee vor sich auf den Tisch. »Bring Brot mit.«
Die Faust geballt, streckt er die Hand aus, spreizt den kleinen Finger ab. Für einen Moment ist es still zwischen uns, während ich seinen Finger ansehe. Hinter meinem Rücken balle ich die Hand zur Faust.
Schließlich wende ich mich ab. »Okay«, sage ich.
Im Flur ziehe ich die Regenjacke an, fahre mit den Fingern durch das zerzauste Haar, ehe ich aus dem Haus gehe. Es regnet in Strömen, trotzdem gehe ich langsam. Meine Kopfhaut schmerzt, und die Unterlippe ist geschwollen.
Ich gehe am Supermarkt vorbei, einfach immer geradeaus, die Straße hinunter. Aus der Stadt, auf die Landstraße, zwischen graue Stoppelfelder. Dort bleibe ich stehen, blicke auf die vorbeiheizenden Autos. Ich krame mein Handy hervor und wähle Luupis Nummer.
»Kasta?«
»Es tut mir leid«, sage ich, »aber ich kann meinen Bruder nicht allein lassen. Es ist für uns alle das Beste, wenn alles so bleibt, wie es ist.«
Er schweigt einen Moment. »Wie kannst du das sagen?«, fragt er schließlich.
»Was denn?«
»Er ist gefährlich. Bitte! Bitte! Ich will dir doch nur helfen.«
»Das wollen alle.« Ich lache, recke die Nase zum Himmel, halte das Gesicht in den Regen. An den meisten Orten der VR regnet es nie. Nur in Luupis Welt.
»Kasta …«
»Nein. Ich will nichts mehr hören. Ich schicke dir den Ring zurück.«
Einen Moment ist es still am anderen Ende der Leitung. So lange, dass ich beinahe nachgefragt hätte, ob er noch dran wäre.
»Chef?«, fragt er schließlich. Seine Stimme klingt anders, härter, eisiger. Wie ich sie noch nie gehört habe. »Ich muss mir ein paar Tage freinehmen.«
»Okay«, sage ich. »Aber eins noch.« Ich drehe mich um, schaue hinauf zum Schimmer am Horizont, wo die Regenwolken sich lichten. »Ich liebe dich.«
»Das ist keine Liebe«, sagt er. Und legt auf.
Ich lausche auf das gleichförmige Piepen in der Leitung, auf das Rauschen des Regens, der meine Jacke durchweicht.
»Kasta!« Er macht einen Schritt über die Türschwelle, schlingt die Arme um mich und drückt mich so fest an sich, dass ich nach Luft schnappe. »Ich dachte, du kommst nicht wieder«, sagt er mit dem Mund an meinem Ohr.
Ich hebe die freie Hand, streiche über sein Haar. »Immer, kleiner Bruder.«
Er schiebt mich über die Schwelle, tritt die Tür mit dem Fuß ins Schloss. »Wo warst du die ganze Zeit?«
Ich betrachte die Falte über seiner Nasenwurzel, das Zucken in den Mundwinkeln. Mein Blick wandert den Flur entlang zu meiner offenstehenden Zimmertür. Der Bildschirm steht wieder auf dem Schreibtisch, ich höre das Schnurren des Computers, er begrüßt mich wie ein fetter Kater.
»Ich dachte, du brauchst ihn gleich«, sagt Oli, flüstert fast. »Habe ihn schon einmal angemacht, aber ich wusste das Passwort nicht.«
Als Oli sich das erste Mal losgerissen hat, vor vielen Jahren, nach mir getreten, mir ins Gesicht gespuckt hat, ich ihn nicht einfangen konnte, habe ich gewartet, bis es Nacht wurde. Ich wollte in sein Zimmer schleichen und diesmal eine Viertelstunde auf ihm liegen bleiben – oder länger. Ich hatte gelesen, dass eine derart lange Zeit ohne Sauerstoff … Weiter habe ich damals nicht gedacht. Aber ich bin nicht aus meinem Zimmer gekommen. Die Tür war verschlossen.
Verzeihen habe ich erst gelernt, als ich die VR betreten habe. Dort ist es leicht. Jedes Problem kann ich einfach wegwischen.
Ich strecke die Hand aus, schiebe Olis Mundwinkel nach oben. Erst verkrampfen sich seine Gesichtsmuskeln, doch schließlich gibt er nach und lächelt.
»Ich bin ja da«, sage ich. »Und du bist da.«
Er hält mir die geballte Hand hin, den kleinen Finger ausgestreckt, und ich hake meinen kleinen Finger ein.
»Zusammen«, sagt er.