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Scampi buzaro

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19.08.2003
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Scampi buzaro

Scampi buzaro (überarbeitet)


Süddalmatien um 1700

Wie so viele Gerichte verdankt auch Scampi buzaro seine Entstehung einer Verkettung ungewöhnlicher Umstände. Eine Antwort auf die Frage nach Zufall oder Fügung möge der Leser sich selber geben.

Vor rund dreihundert Jahren, Kroatien lag noch unter österreichischer Herrschaft, lebte im Süden Dalmatiens ein Mädchen mit dem Namen Sofia. Sie war gottesfürchtig und fleißig und schon vor ihrer Geburt versprochen worden, wie das zu jener Zeit üblich war. Ihr zukünftiger Ehemann war der jüngste Sohn einer Fischerfamilie und hieß Branko.
Einige Monate vor dem geplanten Hochzeitstermin war sie ihm zum ersten Mal begegnet. In züchtigem Abstand zueinander und in Anwesenheit auch seiner Eltern und vieler weiterer Gäste, hatten sie Verlobung gefeiert. Der Brautpreis war gezahlt und Ihre stattliche Mitgift von den Anwesenden mit Bewunderung begutachtet worden.
Mit gesenktem Kopf hatte sie sich nicht von ihrem Platz bewegt und doch einige verstohlene Blicke gewagt, und was sie sah, gefiel ihr. Es gefiel ihr so sehr, dass sie ihr Kinn noch tiefer senkte, da sie befürchtete, alle könnten das Pochen in Ihrer Brust hören und das Feuer spüren, das bei seinem Anblick in ihr aufloderte. So war ihre Enttäuschung groß, als es am frühen Abend hieß, der junge Fischer müsse die Gesellschaft nun verlassen und mit seinen Brüdern hinaus aufs Meer fahren.
Ihr zukünftiger Mann verabschiedete sich von den Gästen, wobei er bei Ihren Eltern länger verweilte und sich erst nach einem zustimmenden Kopfnicken ihres Vaters umwandte und auf sie zu kam.
„Komm mit mir, ich möchte dir etwas schenken, dein Vater hat die Erlaubnis gegeben“, sagte er und hielt ihr lächelnd seine Hand entgegen.
Ihr Herz begann zu rasen, das Blut färbte ihre Wangen und zögerlich griff sie nach der dargebotenen Hand. Sein Griff war fest, nicht grob, beinahe zärtlich und als er mit seinem Daumen wie zufällig über ihren Handrücken strich, war sie einer Ohnmacht nahe.
Er führte sie von der Terrasse am Haus vorbei den steinigen Pfad hinab zum Strand. Wie hypnotisiert folgte sie ihm zum Hafen, wo er vor einem kleinen Haus stehen blieb. Die Tür stand offen und ein Blick hinein auf Netze, Reusen und Taue, offenbarte den Zweck des Häuschens als Geräteschuppen. Er bedeutete ihr zu warten, während er hineinging und den Deckel einer verwitterten Holztruhe anhob, die in der äußersten Ecke des Raumes stand; er griff tief hinein und holte ein gefaltetes Tüchlein hervor.
Erwartungsvoll sah sie ihm entgegen und als er ins Freie trat, trafen sich ihre Blicke. War sie bis dahin im Innersten aufgewühlt, wie das Meer, wenn der Westwind Schaumkronen auf den Wellen tanzen lässt, so versank sie nun im Blau seiner Augen, wie verloren im Gefühl von Wärme und Zuneigung und doch gefangen und gehalten von der Stärke, die von diesem Blick ausging. Mit Freude entdeckte sie dann ein verschämtes Blinzeln, als er ihr das Geschenk entgegen hielt und ihre offene Natur ließ sie handeln.
„Wir sind verlobt oder?“, kam es über ihre Lippen.
Eine Falte zwischen seinen Brauen zeigte seine Unsicherheit, die ihn noch liebenswerter machte, noch begehrlicher und jeder Zweifel an ihrem Wollen war fortgewischt.
„Ja, ja sicher“, sagte er verwirrt.
Sie überbrückte den Abstand zu ihm mit einem mutigen Schritt, hob den Kopf, schloss ihre Augen und sagte: „Dann musst du mich jetzt küssen!“
Was auch immer sie sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte, wurde tausendfach übertroffen. Sie spürte seine Lippen auf den ihren, ließ sich fallen in einen Strudel von Glückseligkeit, um dann explosionsgleich ihrer Liebe Ausdruck zu geben. Innig umschlungen, zeit- und raumvergessend standen sie da, bis Brankos ältester Bruder die Liebenden in die Wirklichkeit zurückholte.
Komm, Bruder!“, forderte der ihn auf, „Das Schiff ist bereit, die Fische warten.“
Branko drückte ihr das Tüchlein in die Hand und streichelte ihr zum Abschied, kaum, dass er sie berührte, mit dem Handrücken über die Wange.
Die Hoffnung, ihn vor ihrer Abreise noch einmal umarmen zu können, erfüllte sich nicht. Ein tagelang wütender Frühjahrssturm zwang die Brüder im Hafen der Insel Korcula Schutz zu suchen, und so verließ Sofia ihr zukünftiges Zuhause mit einem sehnsüchtigen Blick hinaus aufs Meer.

*

Eine Woche dauerte die beschwerliche Rückreise. Gleich am ersten Abend, sie rasteten in einer Herberge hoch über dem Meer, hielt es Sofia nicht mehr aus. Sie musste ihrer Mutter von dem Kuss erzählen, und so hob sie an, zu sprechen. Erschrocken über den eigenen Mut geriet sie ins Stottern, verschluckte ihre Worte und nestelte stattdessen Brankos Geschenk aus dem Stoffbeutel, den sie am Handgelenk trug.
„Schau Mutter, was er mir geschenkt hat“, sagte sie und holte mit Daumen und Zeigefinger eine schwarzsilberne Perle hervor. Vorsichtig, als könne sie zerbrechen, gab sie die Perle in die ausgestreckte Hand ihrer Mutter, der ein anerkennendes „Sieh an, sieh an!“ entfuhr.
Nachdem die das Schmuckstück eine Weile betrachtet und Bewunderung für die außergewöhnliche Größe und den Glanz der Perle geäußert hatte, wich unerwartet ihre Freundlichkeit und mit strenger Mine fragte sie: „Und? Hast du mir sonst nichts zu berichten?“
Sofia errötete und wollte ihren Blick senken, denn sofort kam ihr der Kuss in den Sinn, als sie in dem ansonsten wie versteinert wirkenden Gesicht ihrer Mutter ein liebevolles Aufleuchten in deren Augen entdeckte.
„Wir haben uns geküsst!“
Trotzig und übermäßig laut, wie bei einem ertappten Kind, kam es über ihre Lippen und hastig ergänzte sie: „Er trägt keine Schuld daran, ich habe ihn dazu aufgefordert!“
Ihr Vater hatte zwischenzeitlich den Gastraum betreten und die Worte seiner Tochter gehört. Auf dem Absatz drehte er sich um.
„Darüber werden wir uns noch unterhalten müssen, mein Fräulein!“, sagte er ernst und verließ den Raum.
Ihre Mutter lachte hinter vorgehaltener Hand, legte ihren Arm um sie und flüsterte: „Wenn ich deinen Vater damals nicht zuerst geküsst hätte, wären wir heute noch nicht verheiratet. Mach dir keine Sorgen, ich werde ihn bei Gelegenheit daran erinnern.“
Und doch brauchte es fast zwei Wochen, in denen ihr Vater nur das Nötigste mit ihr sprach, bevor er sich mit ihr versöhnte.

Weitere Wochen und Monate vergingen, in denen es die Alltäglichkeiten kaum vermochten, sie von ihrer Sehnsucht abzulenken. Wenn es gar zu schlimm kam, führte sie in zärtlicher Erinnerung die Perle, die sie an einer Kette um ihren Hals trug an ihre Lippen und die Vorfreude gewann wieder Oberhand. Und dann stand er kurz bevor, ihr fünfzehnter Geburtstag, der Tag, der auch ihr Hochzeitstag sein würde. Noch größer als zur Verlobung war der Tross, der sich auf den Weg gemacht hatte, und ihr letzter Zwischenhalt war erreicht. Morgen würde sie ihn endlich wiedersehen.
Sie stand am Strand und unverhofft kam ein Gedanke in ihr auf, der wie ein Messerstich ihr Herz traf: „Was, wenn er nicht so empfand wie sie selbst?“
Sie war so erregt, dass ein Schatten, der sich aus dem Dunkel unter den Pinien löste, keinerlei Erschrecken aufkommen lies, nur Verwunderung, denn die Umrisse, die sich abzeichneten, schienen ihr vertraut, und noch bevor die Person auf den Strand gelangte, rannte Sofia los; was hatte sie nur zweifeln lassen, was anderes als Liebe konnte es sein, das ihn hierher geführt hatte, ihn, ihren Branko?

*

Sofia hatte sich verändert. Nichts in ihrem Auftreten erinnerte an das Mädchen vom Vortage. Ihre Mutter wusste den Wandel zu deuten, hatte es gleich beim Aufbruch von ihren Augen abgelesen. Sofia konnte zudem in ihrem Glück der Mutter nicht verschweigen, dass sie die Nacht am Strand in Brankos Armen verbracht hatte.
„Mutter!“, hatte sie gesagt, „Mutter, du hast erzählt, bei jedem deiner Kinder hättest du bereits in den ersten Tagen gewusst, dass du schwanger warst. Mir ergeht es nun ebenso; auch ich verspüre diese Spannung in meinen Brüsten, von der du mir berichtet hast.“
Sie sprach es so ungeniert aus, wie es sonst nur einer besten Freundin gegenüber geäußert würde, was ihre Mutter veranlasste, ihrerseits jede Prüderie außeracht lassend, Ratschläge zu erteilen. Sie war stolz auf ihre Tochter und als nach der Trauungszeremonie vor dem Altar der Pater die Erlaubnis zum Kuss erteilte, applaudierte sie spontan, denn Sofia, der ein Lippenhauch ihres nun Angetrauten als öffentlicher Liebesbeweis nicht nachdrücklich genug war, umschlang Ihren Branko, bis das anfängliche Räuspern des Paters lauter, als das allgemeine Jubeln, wie ein Orkan durch das Kirchengewölbe hallte.
Zwei Wochen dauerte die Feier und die Zahl der Golddukaten, die als Geschenke überreicht wurden, stieg mit jedem Tag und mit jedem der mehr als fünfhundert Gäste, die sich in dieser Zeit einfanden.
Schließlich ging das Fest zu Ende, die Gäste reisten ab und schon bald erkannte Sofia, dass das Leben in einem Dreihundert-Seelen-Ort anderen Regeln unterlag, als in einer Großstadt, in der sie aufgewachsen war. Das Sagen hatten alleine die Männer und selbst in einer wohlhabenden Familie, wie in der Brankos, beschränkte sich der Aufgabenbereich der Frauen auf den Haushalt, die Kinder und den Gemüsegarten.
Obwohl jeder der vier Brüder Brankos ein eigenes Fischerboot besaß, war es ihre Pflicht in der Hauptfangzeit auf dem väterlichen Segler auszulaufen. Fünfzig Prozent des Fangs erhielt der Vater, der andere Teil wurde unter den verheirateten Brüdern aufgeteilt. Auch Branko hatte nun sein eigenes Boot erhalten und ein Haus am oberen Rand des Dorfes, unmittelbar an der Landstraße. Zudem wurde seine Stimme jetzt gehört, wenn es um Entscheidungen innerhalb der Großfamilie ging. Was die Arbeit der Männer anbelangte akzeptierte Sofia deren Entscheidungsgewalt, doch konnte sie nicht akzeptieren, kein Mitspracherecht bei ganz persönlichen, ihren Mann und sie betreffenden Fragen zu haben.
„Was schon immer so ist, muss darum nicht gut sein“, hatte sie Branko bei einem Disput geantwortet, „muss nicht gut sein für uns! Ich wünsche mir ein größeres Haus und möchte die Dukaten nicht in der Truhe verstecken, bis ich alt und grau geworden bin. Auch sollten wir das Land auf der anderen Seite der Straße kaufen, ich würde dort gerne Gemüse anbauen und ein Ziegenstall wäre gut und ...“
Es sprudelte nur so aus ihr heraus, und Branko sah keine andere Möglichkeit ihrem Redeschwall Einhalt zu gebieten, als sie in die Arme zu nehmen und zu küssen. Zunächst blieb es jedoch bei einem Versuch. Sie erkannte die Absicht, entfloh in die äußerste Ecke des Raums, kniff so fest wie möglich ihre Lippen zusammen und hob abwehrend die Fäuste, als er auf sie zuging.
„Du sollst mich nicht küssen, du sollst mir Antwort geben!“, presste sie hervor.
„Du verweigerst deinem geliebten Mann einen Kuss?“, spielte er den Entrüsteten und zog sie an den Schultern auf sich zu. Während sie wie verzweifelt mit ihren Fäusten auf seinen Brustkorb einhämmerte, verstärkte er den Druck seiner Arme. Übermütig funkelte sie ihn an, schnappte mit ihren Zähnen nach seinen Lippen und entwand sich dem Überraschten erneut.
„Gut, gut!“, rief er schließlich und hob beschwichtigend die Hände, „Selbst auf die Gefahr hin vor allen als Schwächling da zu stehen, so möchte ich doch auf keinen deiner Küsse verzichten müssen; wir werden es machen, wie du es gesagt hast!“
„Gut, gut!“, antwortete sie und warf sich an seinen Hals, „wenn es aber um den Preis wäre, deine Wärme nicht mehr zu spüren, so sollte es bleiben, wie es ist!“

Es blieb nichts, wie es war. Unter bewundernden Blicken ihrer Schwägerinnen veränderte sich das Haus nach ihren Vorgaben. Die Wohnküche, die sich nun von der Nord- bis zur Südseite des Gebäudes erstreckte und mit einer großzügigen Feuer- und Kochstelle ausgestattet war, stieß bei den meisten Dorfbewohnern jedoch auf Unverständnis und wurde Anlass für Spott und Häme. Der Wohnraum eines Hauses hatte zum Süden hin zu liegen, Schlafzimmer und Vorratsraum Richtung Norden. So blieben letztere während der heißen Jahreszeiten angenehm kühl, währen es sich im Januar und Februar tagsüber in der üblicherweise engen Wohnküche am Feuer aushalten ließ.
Sofias Pläne kamen nicht von ungefähr, wohl überlegt war sie an die Sache herangegangen und das Ergebnis entsprach genau ihren Erwartungen. Ihre Freude wurde nur durch das Bedauern für ihren Mann getrübt, der selbst jetzt noch, nach sieben Monaten Bauzeit, dem Gespött vor allem seines ältesten Bruders ausgesetzt war. Sie beschloss, Branko in ihre Vorhaben einzuweihen und hoffte, ihm damit nicht zu viel abzuverlangen. Der übermäßige Stolz der dalmatinischen Männer war bekannt und sie würde die richtigen Worte finden müssen, ihn zu überzeugen.

Sie war ans Fenster getreten, wie so oft in den vergangenen Wochen und suchte mit ihren Blicken das Meer ab. Schon wollte sie sich wieder ihrer Arbeit zuwenden, als sie am Horizont den Mast eines Seglers entdeckte und wie zur Bestätigung erklang das Geläute der Kirchenglocke, welches die Ankunft des Schiffes bestätigte.
Mehr als ein Monat war seit dem Auslaufen vergangen und Sofias Sehnsucht nach seiner Nähe war übermächtig. Sie eilte voller Vorfreude hinunter zum Hafen und noch bevor das Schiff angelegt hatte, sprang sie an Bord; und dort lag er, auf der Abdeckung der Ladeluke. Ein blutdurchtränkter Wickel um seinen Unterschenkel ließ Schlimmes befürchten und beim Blick in seine fiebrigen Augen, krampfte sich ihre Brust zusammen. Einen Bart verdeckte nur zum Teil sein mit Schweißperlen bedecktes Gesicht und als Sofia ihm übers Haar strich, hatte er nicht einmal die Kraft zu einem Lächeln.
Ein Rochen hatte ihm eine Wunde am Unterschenkel zugefügt, die vereitert und entzündet war. Nach fünf Tagen und vier durchwachten Nächten war Sofia im Stuhl vor Erschöpfung eingeschlafen. Und dann, beim Erwachen, waren Müdigkeit und Sorgen vergessen, als sie sich im Bett liegend wiederfand und ihren Geliebten neben sich entdeckte. Er hatte das Fieber überwunden und die Wunde war von einer gesunden Kruste überzogen. Gegen ihren Protest sagte er am gleichen Abend seinen Brüdern zu, wieder mit ihnen hinauszufahren. Immerhin konnte sie durchsetzen, dass er sich in den Tagen, in denen das Schiff vorbereitet wurde, noch zu Hause schonen würde.

Es war früher Morgen und während im Hafen die letzten Vorbereitungen zum Auslaufen getroffen wurden, lag Sofia noch in Brankos Arm. Er hatte eine Hand auf ihren Bauch gelegt.
„Da!“, rief er plötzlich, „hast du es gespürt? Sie bewegt sich, boxt mit ihren Fäusten gegen meine Hand. Sie wird, wie ihre Mutter“, er grinste über das ganze Gesicht, „wollen wir wetten?“
„Es ist ein Junge“, strahlte sie ihn an, „und es sind nicht seine Fäuste sondern Tritte, die du fühlst.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte er.
„Es ist ein Junge“, wiederholte sie, „und er wird stark und liebenswert wie sein Vater werden. Vertraue mir, ich weiß es.“
Sie erwartete eine weitere Neckerei, statt dessen setzte sich Branko auf.
„Hörst du das?“, fragte er.
Sie lauschte. „Nein, ich höre nichts.“
„Das meine ich. Auch ich höre nichts, keinen Vogel, keinen Hund, nichts.“
Mit einem Satz sprang er auf und griff nach seiner Hose.
„Los, beeile dich! Zieh dir etwas über, schnell!“
Noch während sie ihr Kleid überstreifte, begann der Boden zu zittern, zu beben und ein gewaltiges Grollen erfüllte die Luft. Sofia war starr vor Schreck. Branko stürzte auf sie zu und zerrte an ihrem Arm.
„Ein Erdbeben, raus hier!“, schrie er gegen den Lärm an und zerrte sie aus dem Haus. Die ganze Luft war erfüllt von dem Getöse und Sofia fiel mit vor Angst geschlossenen Augen zu Boden. Er wuchtete sie auf seine Schulter und stolperte mit ihr vom Haus weg hin auf die Landstraße, wo er sie absetzte. Schutzsuchend umklammerte sie ihn und barg ihr Gesicht an seiner Brust. Branko stand breitbeinig da und kämpfte um festen Stand.
Das Grollen endete so unverhofft, wie es begonnen hatte, dennoch wollte sich Sofia nicht von ihrem Mann lösen. Ein weiteres Krachen und Bersten brach los. Sofia spürte, wie Branko stocksteif wurde.
„Großer Gott!“, stieß er hervor.
Sofia wagte einen Blick und erstarrte ebenfalls.
Der Hang unterhalb der Straße bis hin zum Strand war in Bewegung. Aufrecht stehend glitten Häuser, Ställe, Schuppen, ja selbst der Kirchberg mit der Kirche auf das Meer zu und begannen zu versinken. Das Meer brodelte auf. Sie blickte die Straße entlang. Nicht weit von ihnen entfernt hatte sich dort eine Bodenspalte aufgetan, an der entlang der Berg auf hunderte Meter aufgebrochen war. Der Bruch wurde größer und größer. Es war gespenstisch. Die ersten Häuser waren schon in den aufschäumenden Fluten untergegangen, als der Kirchberg auseinander brach. Mit einem letzten Schlag der Glocke neigte sich der Kirchtum in die brodelnde Wassermasse. Doch es kam noch schlimmer. Palmen und Kiefern, Boote, Tiere und Menschen, die zunächst noch an der Oberfläche getrieben hatten, wurden, wie die Beute in den Schlund eines Teufelsfisches, von den sich aufbäumenden Wassermassen hinabgesogen. Schreie überlagerte ein letztes Brodeln und Rauschen. Nur wenige Augenblicke hatte das alles gedauert, Augenblicke, die genügt hatten zwei Drittel des Dorfes auszulöschen und mit ihm das Hafenbecken samt der steinernen Mole. Ganze Familien gab es nicht mehr und keinen Überlebenden, der nicht den Verlust zumindest eines Angehörigen zu beklagen hatte.

Viel Zeit für Trauer blieb ihnen nicht. Die Katastrophe hatte den Überlebenden ihre Existenzgrundlage genommen, die Boote. So verließen Viele den Ort, um im Landesinneren ihr Glück zu versuchen. Von Brankos Familie hatte nur sein Bruder Jure überlebt und sein Boot gehörte zu dreien, die an einem nicht betroffenen Strandteil gelegen hatten.

Während Sofia ungeachtet ihrer Umstände in der Folgezeit auf dem Feld arbeitete, fuhr Branko jeden Morgen mit seinem Bruder hinaus aufs Meer. Jure war ein guter Seemann, vom Fischen in Küstennähe aber verstand er wenig. Dennoch, es war sein Boot und zudem war er der Ältere von beiden und so bestand er darauf, dass alles nach seinem Willen gehandhabt würde. Längst hatte Sofia damit gerechnet und war nicht überrascht, als Branko es schließlich leid war, mit halbvollem Netz oder leeren Reusen nach Hause zu kommen.
„So kann es nicht weitergehen“, sagte er und zeigte auf die Feuerstelle, „Was nützt uns ein solcher Kessel, wenn wir nichts haben, womit wir ihn füllen können. Wir werden verhungern!“
Das war Sofias Stichwort, einen besseren Zeitpunkt Branko in ihr Vorhaben einzuweihen, würde es kaum mehr geben; und so berichtete sie ohne Umschweife, einen Gasthof eröffnen zu wollen. Darum die scheinbar überdimensionierte Feuerstelle, darum der Wohnraum auch zur Straße hin Richtung Norden, in dem die Gäste im Sommer ihr Mahl in angenehmer Kühle einnehmen könnten, darum das Feld und die Ziegen. Eine exzellente Köchin sei sie allemal, denn vom Fleische gefallen sei er in den letzten Monaten wohl nicht.
Er lächelte sie in eine Art und Weise an, die Ausdruck innigster Liebe war, Liebe für eine Frau voller Tatendrang und Durchsetzungskraft, die zudem die Dinge in einer Unbekümmertheit anging, wie sie sonst nur in der Unschuld von Kindern zu finden war. Es schmerzte ihn, ihr seine Einwände vorhalten zu müssen, die Unmöglichkeit eines Erfolges vor Augen zu führen und gestand ihr dennoch ein, einige der verbliebenen Dukaten dem Schreiner für Tische und Bänke zu zahlen. Ja er selbst ging in den folgenden Wochen Reisegruppen entgegen, um sie zum Verweilen in Sofias Konoba zu bewegen, doch vergeblich. Die Reiseroute entlang der Adria war seit jeher in Tagesetappen eingeteilt und ihr Ort lag zehn Meilen vor dem nächsten, erreichbaren Tagesziel. Dort gab es zudem einen für seine Speisen weithin berühmten Koch, bei dem selbst Hochwohlgeborene Einkehr hielten.
Branko hatte längst einen Entschluss gefasst, wollte aber die Geburt seines ersten Kindes abwarten und dann das tun, was getan werden musste. Um seine Frau würde er sich nicht sorgen müssen, das bewies sie eindrücklich an einem Sonntag, etwa vier Wochen nach der Eröffnung der Konoba.
Während Branko beim ersten Sonnenstrahl in die Berge gestiegen war, um Eis aus einer Höhle zu brechen, welches ihren Fischvorrat für einige Tage frisch halten würde, begab sich Sofia aufs Feld, da Regen das Unkraut in die Höhe hatte schießen lassen. Die Arbeit fiel ihr an diesem Tag zum ersten Mal schwer. Mit jedem Grashalm, den sie aus der Erde zupfte, nahmen die Schmerzen zu, die bereits in der Nacht zuvor eingesetzt hatten. Sie musste immer längere Pausen einlegen, bis sie schließlich erschöpft den Schatten eines Olivenbaumes aufsuchte.
Als Branko zurückkehrte, saß sie wieder im Feld und jätete Unkraut. Er war voller Bewunderung für die Kraft, die seine hochschwangere Frau aufbrachte, würde sie aber nun, selbst gegen ihren Willen, mit ins Haus nehmen, denn bis zur Geburt konnte es nicht mehr lange hin sein. Sie hatte ihn entdeckte, stand unbeholfen auf und kam ein paar Schritte auf ihn zu. Während er sie umarmte, stutzte er, griff sie an den Schultern und im Zurücktreten ging sein Blick hinab auf ihren Bauch. Ungläubig sah er wieder auf in zwei überglücklich strahlende Augen.
„Komm!“, flüsterte sie, „ich habe ein Geschenk für dich.“
Unter dem Olivenbaum entnahm sie dem Korb, den sie stets mit sich getragen hatte, behutsam ein Bündel, so groß wie ein Laib Brot und schlug an einem Ende das Tuch zurück.
„Das ist dein Sohn“, strahlte sie ihn an und mit einem Blick auf das von schwarzen Locken umrahmte Gesicht des Kindes, aus dem ein blaues Augenpaar hervorfunkelte, fuhr sie fort: „Ist er nicht wunderschön?“
Sie sah zu ihm auf und da war es wieder, dieses kaum merkliche Aufzucken, dieser Gesichtsausdruck, den sie so liebte, wenn seiner Euphorie Hilflosigkeit gegenüberstand und ihn in eine Art Schutzstarre fallen ließ. Mit zitternden Händen ließ er sich das Menschlein in den Arm legen, um dann, ganz gegen seine Natur, den Kopf in den Nacken zu werfen und herauszubrüllen: „Sofia, Dado ich liebe euch!“

Nur wenige Tage nach der Geburt seines Sohnes setzte Branko sein Vorhaben in die Tat um. Zusammen mit einigen anderen Männern aus der Umgebung machte er sich auf den Weg nach Ragusa, in die Handelsmetropole ganz im Süden Dalmatiens, wo sie auf einem Indienfahrer anheuern wollten. Ein Jahr sollte die Fahrt auf dem Dreimaster dauern und Branko soviel einbringen, dass er sich ein eigenes Boot würde leisten können. Sofia hatte versucht ihn davon abzubringen, musste sich aber schließlich eingestehen, dass es keinen anderen Weg gab unabhängig von Jure zuwerden. Der Abschied war unendlich schwer gefallen und dennoch hatten sie sich in den letzten Minuten unbekümmert gegeben, um dem jeweils anderen nicht eine noch größere Last aufzubürden, als eh schon zu tragen war.
„Spare mir einen Teller Scampi auf!“, war das Letzte, das er ihr winkend zugerufen hatte, bevor er außer Sichtweite gekommen war.

Nach achtzehn Monaten war der Vater eines der Matrosen nach Ragusa gereist. Bei seiner Rückkehr hatte er nichts Gutes zu berichten. Die Fregatte ‚Kapetan Maona’, auf der auch Branko unterwegs war, war zuletzt im indischen Ocean rund 200 Seemeilen vor Kap Horn gesichtet worden. Weitere Berichte gab es nicht und so galt die Kapetan Maona als überfällig.
„Überfällig bedeutet nicht verschollen“, hatte sie den alten Mann beruhigt, „Bis dahin geht noch einige Zeit ins Land und dann, sollen sie mich auf dem Papier doch zur Witwe machen, es wird mich nicht berühren, denn ich weiß, er wird zurückkehren.“
Es waren keine leeren Worte, die sie da gesprochen hatte. Monate später wurde die Maona als verschollen erklärt und die Familien der Vermissten trugen Trauer, nur Sofia nicht. Den Dorfbewohnern war ein solches Verhalten ketzerisch und offen zeigten sie ihre Abneigung. Ja sie schreckten nicht einmal davor zurück, ihr einen Bund mit dem Teufel nachzusagen, denn wie sonst erntete sie die saftigsten Früchte, das beste Gemüse und besaß die fettesten Ziegen?
Sofia schwieg zu alledem und je mehr sie vom Dorfleben ausgeschlossen wurde, um so mehr war Dado ihr Halt. Ihr Sohn entwickelte sich prächtig, war das absolute Ebenbild seines Vaters und doch so manches Mal, wenn sie keinen Schlaf finden konnte und ihn betrachtete, standen ihr Tränen in den Augen. Ihre Kraft aber blieb ungebrochen.
Mit den wenigen Gästen, die sie bewirtete und dem Verkauf von Gemüse und Früchten hatte sie ein bescheidenes Auskommen. Im Winter würde sie die ersten Jungziegen verkaufen und dann auch nicht mehr die Hilfe von Brankos Bruder Jure benötigen. Der hatte sie zunächst unterstützt, war zum Fischen ausgelaufen, hatte Feuerholz geschlagen und Eis aus der Höhle in den Bergen geholt. Da er jedoch den Tod seiner Familie nicht hatte verwinden können, war er immer stärker dem Wein verfallen. Kaum noch ging er ihr zur Hand. Was sie jedoch am meisten bedrückte, waren seine ständigen Nachstellungen. Er bedrängte sie sogar in Gegenwart anderer.
„Könntest ruhig ein wenig netter zu mir sein“, hatte er geantwortet, als sie ihn wieder einmal zurechtgewiesen hatte. „Eine Belohnung verdient meine Arbeit doch, und mein geliebter Bruder wäre sicher damit einverstanden, wenn ich dich zur Frau nähme. Bist selber schuld, wenn ich mich im Fass ertränke!“
Sofia hatte Mitleid mit ihm und alles mit Geduld ertragen, hatte ihn weiterhin beköstigt und für seine Kleidung gesorgt, bis zu dem Tag, als aus Ragusa die Nachricht kam, es sei ein Zeuge aufgetaucht, der vom Untergang der Kapetan Maona vor Kap Horn erzählt hätte.
Dies berichteten Vorreiter einer Reisegruppe, die in Richtung Norden unterwegs war. Sie hatten zudem, für den am folgenden Tag anreisenden Bezirksverwalter sowie für dessen Gefolgschaft, ein Essen bei Sofia bestellt, da man von ihrer wohlfeinen Küche unterrichtet worden sei und der Herr Herzog den Wunsch nach Abwechslung geäußert habe.
Sofia war nicht anzumerken, dass die Gewissheit über das Schicksal der Kapetan Maona sie zu tiefst getroffen hatte. Mit aller gebührenden Höflichkeit verabschiedete sie die Reiter, die, nach einer erfrischenden Limonade, weitergezogen waren. Sie richtete ihre Betroffenheit auf die Familien der mit Branko gereisten Männer, um nicht ihren aufkeimenden Zweifel an Brankos Rückkehr weitere Nahrung zu geben. Nur der unerschütterliche Glaube an seine Rückkehr hatte sie alle die Unbilden der vergangenen Jahre überstehen lassen. Was hätte ihr Leben für einen Sinn, ohne diese Hoffnung? Diese aufzugeben hieße, ihn aufgegeben zu haben.
So beauftragte sie Jure bei den Fischern im Dorf Scampi zu kaufen und machte sich dennoch in den Nachbarort auf, dort für die letzten Heller selber welche zu besorgen, da sie sich nicht auf ihren Schwager verlassen wollte. Nach einer schlaflosen Nacht, begann sie in aller Frühe mit den Essensvorbereitungen und als das Öl im Kessel erste Blasen warf, betrat Jure mit zwei vollen Körben Scampi den Raum.
„Hier Schwägerin“, lallte er und zeigte ein schiefes Grinsen, „für deine Heller habe ich Wein gekauft und getrunken, zur Feier des Tages.“ Er deutete auf die Körbe, „Dies hier ist ein Geschenk der Nachbarn, zur Trauerfeier für deinen Mann, meinen geliebten Bruder Branko, der endlich in Frieden ruhen darf; und nun steht auch unserem Glück nichts mehr im Wege.“
Vor Sofia, die schon nette Worte für ihren Schwager auf den Lippen gehabt hatte, schien sich ein Abgrund aufzutun und für einen Moment wollte sie sich fallen lassen, sich hineinstürzen, der Erkenntnis Raum geben, über die Jahre einer Selbsttäuschung, einem Traum erlegen zu sein. Statt dessen entriss sie Jure die Körbe. Ihr Sohn, ihr Haus, der Gasthof, die Früchte an den Bäumen, die erste große Gesellschaft die zur Beköstigung anreiste, das war Realität, das war ihr Leben, kein Traum. Die Zuversicht Branko wieder zu sehen, gehörte ebenso dazu und doch machte sich Verzweiflung in ihr breit, die ihr Innerstes aufwühlten.
„Wo bleibt das Eis?“, schrie sie Jure an und kippte den Inhalt beider Körbe in den Kessel. „Bevor alles verdirbt, werde ich ein letztes Mahl bereiten, an dem du solange kauen magst, bis dir Schimmel Konkurrenz macht!“
Jure war einen Schritt zurückgetaumelt und starrte Sofia an. Wie in Rage nahm sie einen Zopf mit Zwiebeln, den Korb mit Knoblauch, zwei Laibe Brot, ein Bund Petersilie, zerhackte alles wie besessen und schmiss es in den Kessel.
Jure lachte. „Gib mir Wein!“, rief er, „Eine solche Feier hätte meinem Bruder gefallen.“
„Ich sagte es schon“, giftete sie ihn an, „was sich in diesem Topf befindet, ist das Letzte, das du von mir erwarten kannst.“
Ihre Stimme bebte und sie griff nach dem Humpen mit Wein, nahm in vom Sims über dem Kamin und goss den Inhalt ebenfalls in den Kessel. Es zischte und weißer Dampf stieg auf.
„Und nun verlasse mein Haus“, fauchte sie.

*

„Mama, Mama! Pferde!“ Dado zupfte an ihrem Rock.
Sofia hatte, den Kopf in die Hände gestützt, neben dem Kamin gesessen. Erschrocken fuhr sie auf, streichelte ihrem Sohn übers Haar und folgte ihm, der sie an ihrer Schürze ins Freie zog. Kutschen waren vorgefahren und ein grauhaariger Herr in edler Robe war ausgestiegen und kam auf sie zu.
„Verzeiht, Herr“, sagte Sofia mit tiefstem Bedauern in ihrer Stimme, „das Mahl ist verdorben und ich habe nichts anderes, das ich euch vorsetzen könnte.“
Der Mann hob seine Augenbrauen und zog die Luft durch die Nase ein.
„Gute Frau“, antwortete er, „ihr scherzt. Was einen solchen Duft verbreitet, kann mitnichten verdorben sein.“
Er ließ sie stehen und während er das Gasthaus betrat, hoffte Sofia inständig, dass er zumindest den Holzhumpen nicht im Kessel vorfinden würde, da sie kaum Erinnerung daran hatte, was sie alles in ihrer Raserei da hineinbefördert hatte.
Der Mann ergriff einen Schöpflöffel, wedelte sich vorgebeugt mit flacher Hand den aufsteigenden Schwaden unter die Nase, um schließlich den Löffel in den Sud zu tauchen und an seine Lippen zu führen. Sofia stockte der Atem und je länger der Mann schwieg, umso mehr stieg ihr das Blut in den Kopf.
„Köstlich! Formidabel!“, kam es über die Lippen des Fremden, „warum wollt ihr uns solcherlei Genuss vorenthalten?“
„Es ist für den Bezirksverwalter bestimmt“, stotterte Sofia, „für den Herrn Herzog.“
„Na, das möchte ich glauben. Tischt auf gute Frau, ich bin der Herzog.“

*

Auf der Straße waren nahezu täglich Handwerksgesellen und Wanderer unterwegs, auf der Suche nach Arbeit oder einem Platz, an dem sie sich niederlassen könnten. Häufig waren es die Ärmsten der Armen, mit zerlumpten Kleidern und keinem Heller in der Tasche. Das, was Sofia entbehren konnte, hatte sie mit Freuden gegeben. Nicht viele der Scampi waren vom Herzog und seiner Gefolgschaft im Topf belassen worden, doch für zwei Portionen würde es reichen, dachte Sofia, als sie Wanderer um die Wegbiegung kommen sah. Sie füllte die Teller und stellte sie zusammen mit Brot draußen auf einen Tisch, an dem die beiden mit Dank Platz nahmen. Als sie erkannte, dass ein Weiterer auf ihren Gasthof zukam, ging sie erneut ins Haus und entnahm den Rest aus dem Kessel. Sofia war verwundert, den dritten Mann bereits an einem Tisch sitzen zu sehen, da diese Art von Reisenden üblicherweise unterwürfig darauf wartete, zum Essen aufgefordert oder davongejagt zu werden. Er saß mit dem Rücken zur Eingangstür. Sein schwarzes, gewelltes Haar fiel über die Schultern hinab bis in seinen Rücken, war gepflegt, nicht verfilzt, wie bei den anderen. Als sie sich vorbeugte und ihm den Teller vorsetzte, wandte er ihr sein Gesicht zu und sagte: „Ich habe es gewusst, du hast mir ein paar Scampi aufgespart.“

Sofias Konoba wurde über alle Grenzen hinaus bekannt, vor allem das Gericht ‚Scampi buzaro’. Sie gebar ihrem Mann weitere zehn Kinder und wurde 92 Jahre alt. Branko, einziger Überlebender und Zeuge beim Untergang der Kapetan Maona, erbte das Boot seines Bruders Jure, der wenige Wochen nach seiner Rückkehr im Alkoholkoma verstarb. Einige Stunden nach seiner Frau starb auch er im Alter von 96 Jahren. Seine Abenteuerfahrt auf der Maona hat Sofia, die des Schreibens und Lesens mächtig war, in späten Jahren niedergeschrieben – doch das ist eine andere Geschichte.

 

Hallo Jadro,

ich habe deine Geschichte gestern schon gelesen, wusste aber noch nicht genau, was ich dazu schreiben soll.
Ich mag Geschichten über die Entstehung irgendwelcher Gerichte. Ich kenne ein Restaurant, in dem neben jedem aufgeführten Gericht eine kleine Entstehungsgeschichte steht.

In den Grundzügen hat deine Geschichte mir gefallen, manches halte ich noch für verbesserungswürdig.

Am Anfang schleppt sich deine Geschichte etwas dahin, ich bin der Meinung, dass du hier manches kürzen könntest. Das würde dem Tempo der Geschichte und auch der Spannung guttun. Besonders den Absatz nach dem ersten Stern fand ich zu lange. Ich finde, es ist für die Geschichte nicht unbedingt wichtig, die Beziehung zwischen Sofia und ihren Eltern so genau zu beschreiben. Auch neigst du in diesem Absatz ein wenig zu langen Beschreibungen, die sich etwas langweilig lesen.

Das Gespräch um das größere Haus könntest du meiner Meinung nach auch etwas abkürzen. Das finde ich momentan einfach noch zu ausführlich.

Was das Verschwinden des Dorfes angeht: Ich kenne mich mit derartigen Naturphänomenen nicht besonders gut aus, allerdings erscheint mir deine Beschreibung etwas unrealistisch. Zumindest muss so etwas doch eine Menge Lärm machen, es muss doch Erschütterungen des Bodens geben - so kann ich kaum glauben, dass die Beiden ausgerechnet wegen der Stille darauf aufmerksam werden.

Den Absatz ab hier

Während Sofia ungeachtet ihrer Umstände in der Folgezeit auf dem Feld arbeitete, fuhr Branko jeden Morgen mit seinem Bruder hinaus aufs Meer. Jure war ein guter Seemann, vom Fischen in Küstennähe aber verstand er wenig.
fand ich auch wieder etwas zu lange.

Das Verschwinden Brankos sowie der Aufbau des Konfliktes mit Sofia und seinem Bruder fand ich hingegen etwas zu kurz. Ich war richtiggehend überrascht, dass sie da so ausflippt und sich beinahe die Chance verdirbt, endlich einmal Gäste bewirten zu dürfen. Du erwähnst zwar, dass er sich immer mehr dem Alkohol hingibt, schilderst das jedoch zu wenig aus Sofias Sicht, so dass es eher wirkt, als wäre sie davon unberührt. Deswegen hat mich ihr Ausrasten auch so überrascht.

Das Ende gefällt mir, schön, dass aus Sofias Wut ein derart leckeres Essen entstanden ist. Auch, dass ihr Ehemann letztendlich wieder auftaucht, hat mir sehr gefallen. Ich mag Happy Ends.

Was den Stil angeht - ich konnte mich nicht richtig an den ein wenig altertümlichen Stil gewöhnen, zumal du dadurch manchmal dazu neigst, sehr viel zu beschreiben. Ist sicherlich zum Großteil Geschmackssache, aber vielleicht kannst du dir ja dahingehend deine Geschichte nochmal durchlesen und sehen, ob du vielleicht das Eine oder Andere noch ändern kannst.

LG
Bella

 

Hallo Jadro,

auch eine gute Idee, eine Geschichte darum zu schreiben, wie ein Gericht zu seinem Namen kam.
Schön fand ich, dass die Frau die Hoffnung, dass ihr Mann noch lebt, nie aufgegeben hat. Aber dies war irgendwie schon zu erwarten.
Der Text ist ziemlich lang geraten und wirkt dadurch etwas langweilig, obwohl er sich gut gelesen hat. Du hast hier einen sehr ruhigen Stil gewählt, der sich auch in den Szenen des Erdbebens und des Verschwindens von Branko fortsetzt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb bei mir keine so rechte Spannung aufkommen konnte. Auch die Verwundung ihres Ehemannes nimmt Sofia mE etwas zu gelassen hin.
Ich meine, du musst nicht gleich einen Action-Thriller draus machen, aber vielleicht gelingt es dir innerhalb der Geschichte hin und wieder einen Spannungsbogen aufzubauen. Möglichkeiten dazu gibt es einige (siehe meine obigen Beispiele).
Zusammenfassend habe ich die Geschichte aber gerne gelesen.

@Bella
Du schreibst, dass du ein Erdbeben nicht mit Stille verbindest. Aber es ist wirklich so, dass es bevor das Beben einsetzt zu einer unheimlichen Stille kommt. Die Tiere im Stall werden ruhig, die Vögel hören auf zu singen, denn sie ahnen die Gefahr. Ich selbst habe es zwar noch nicht erlebt, aber schon öfters gelesen. Daher kommt wahrscheinlich auch das Sprichwort: Die Ruhe vor dem Sturm. Denn auch wenn ein Unwetter droht, hast du bestimmt schon selbst erlebt, dass es da sehr Windstill ist und alles irgendwie lautlos wirkt.

Viele Grüße
bambu

 

Hallo Bella, hallo bambu,
zunächst danke für eure Kommentare und Anregungen, die ich sicher bei der Geschichte umsetzen werde. Diese Geschichte war ursprünglich noch wesentlich länger und weit abgerückt vom eigentlichen Sinn, dem Beschreiben der Entstehung eines Gerichtes. Unter diesem Aspekt ist eine weitere Straffung sicher angebracht. Der Konflikt zwischen Sofia und Ihrem Schwager war ausführlicher, insbesondere werde ich wieder den Part einfügen, in dem der Schwager mit allen Mitteln versucht, sich Sofia in jeder Hinsicht gefügig zu machen.
Die Ruhe des Stils sollte den unerschütterlichen Glauben an ein ‚Happy End’ Sofias widerspiegeln, die eben dadurch in der Lage war allen Widrigkeiten mit Erfolg entgegenzutreten.
Wie bambu schon erklärt hat, vor einem Erdbeben ist es bedrückend still – habe es mehrfach selbst erlebt und zwar in dem Ort, in dem diese Geschichte spielt. Im 17ten Jahrhundert hat es diese Katastrophe dort wirklich gegeben – heute noch sind die Reste der Ruinen unter Wasser auszumachen.

Lieben Gruß
Jadro

 

Friedvolle Grüße

Die Idee, über die Entstehung einer Mahlzeit zu schreiben, ist eine sehr gute und meines Wissen hier noch nicht zur Verwendung gekommene. Die aus dieser Idee resultierende Geschichte hat mir recht gut gefallen, auch wenn ich natürlich einge Kritikpunkte habe.

Einige Stellen handelst Du zu schnell ab. Vor allem jene, in welcher das halbe Dorf im Meer versinkt. In der Szene verzichtest Du auf jedewede emotionale Reaktion Deiner Protagonisten, und lässt zudem einige Fragen offen. Was ist mit seiner Familie? Sind die alle hin, oder taucht alleine Jure später wieder auf, weil nur er noch für die Handlung wichtig ist?

Wenn Du noch Material hast, das die Beziehung zwischen Sofia und Jure beschreibt, solltest Du das einfügen, selbst wenn es die Geschichte länger macht, denn letztlich sind es gut ausgearbeitete Charaktere, die eine Geschichte von einer Anekdote unterscheiden.

Zudem schreibst Du so distanziert, daß das ganze schon fast wie ein Bericht wirkt, was auch der Hauptgrund für den Mangel an Spannung darstellt, den vor allem bambu beklagt hat. Hier solltest Du näher an Deine Protagonisten herangehen, vor allem in der Szene, in der Sofia aus lauter Frust und Verzweifelung alles mögliche in den Topf wirft, und so, ohne es zu wollen, eine Köstlichkeit kreiert. Das ist ein weiterer emotionaler Höhepunkt, den Du nur andeutest, ohne ihn auszuarbeiten.

Kane

 

Hallo Kane,
auch Dir zunächst ein Danke für den Kommentar. Ich sehe schon, die Überarbeitung wird etwa umfangreicher und damit auch zeitaufwendiger. Da bei mir Urlaub ansteht, dürfte das aber in Kürze möglich sein.
? Eine Frage? Überschreibe ich den ursprünglichen Text oder kopiere ich den Neuen zusätzlich? ?

Lieben Gruß

Jadro

 

Hallo,
die überarbeitet Version steht - ich glaube, eure Anregungen umgesetzt zu haben.

Gruß
Jado

 

Dies ist eine Geschichte vom Meer, Essen und der ewigen Liebe, Jadro, die es vielleicht nur in Zeiten gab, die du hier beschreibst. Inmitten unberechenbarer Natur kann der Mensch sich offenbar nur behaupten, wenn er sich wenigstens in zwischenmenschlichen Beziehungen festen Regeln unterwirft.

Da werden Kinder von klein auf aneinander versprochen und nur nach rein ökonomischen Gesichtspunkten verheiratet, für Liebe ist da kein Platz, und wenn sie, wie in deiner Geschichte, doch stattfindet, dann wahrscheinlich nur deswegen, weil keiner der beiden Partner aufgrund ihrer Jugend vorher eine Gelegenheit dazu hatte, sich in jemand anderen zu verlieben.

Da tragen Frauen lebenslang schwarz – auch heute noch! -, wenn der über nahe oder ferne Meere segelnde bzw. fahrende Mann nicht mehr nach Hause kommt, gleichgültig ob mit Schiff untergegangen oder irgendwo in der Fremde einen neuen Ehehafen gefunden.

Mit fünfzehn Jahren heiraten, mit sechzehn das erste Kind kriegen, auf dem Feld, allein, und gleich weiter arbeiten, nur auf sich gestellet, d.h. ohne Mann, Gastwirtschaft führen und sowohl den Annäherungsversuchen geiler Männer als auch dem Neid der anderen Frauen standhalten, das ist nicht jedermanns Sache. Ich schätze, heutigen Frauen klingt das alles sicher sehr unwahrscheinlich: über 90 Jahre werden, 10 Kinder gebären und wenn man Glück hatte, 5 auch großzuziehen, alles ohne Waschmaschine und anderen Hilfsmitteln, die eine Frau von heute für unentbehrlich hält – und sie verweigern heute das Gebären, weil angeblich die Zeiten so schlecht sind, verstehe das, wer will.

Aber so was gab es, überall auf der Welt und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein, dieser Teil deiner Geschichte ist also absolut glaubwürdig. Aber du hast ein bißchen viel reingepackt in sie, um das Entstehen einer einfachen Soße zu erklären, besser wäre es vielleicht, sich auf die Beschreibung des Sittenbildes des Dorfes, der Katastrophe oder eben der unerschütterlichen Liebe der Buzarasoßeerfinderin zu beschränken. Nebenbei bemerkt: soo lange war der Mann auch nicht weg, weil der Junge noch nicht richtig spricht und sich am Mamas Rock festhält, als die Fremden kommen, diese Unerschütterlichkeit könnte also bald Risse bekommen, wer könnte es ihr verdenken, jetzt andere Weiber im Dorf mal ausgenommen.

Auch mir fiel auf, daß du eine behäbige Sprache gewählt hast – sie klingt so, als ob du diese Geschichte irgendwo gehört und dann nur aufgeschrieben hättest. Mir scheint sowieso, daß du vielleicht aus Dalmatien kommst, dein Nickname, Jadro, deutet jedenfalls in diese Richtung, oder irre ich mich?

Dion

PS: Eines hätte ich noch gerne gewußt: Warum heißt Buzarasoße Buzarasoße?

 

Hallo Dion,
schön, dass Du meine Geschichte gelesen hast; es ist meine erste im Bereich Historik.
Ja, ich bin mit Kroatien verbunden. Meine Frau ist Kroatin und ich habe dort acht Jahre lang gelebt, in dem Ort, in dem diese Geschichte spielt. Vieles in der Geschichte ist historisch belegt, der Kern, das Erschaffen eines neuen Gerichtes meine Fantasie. Mit dem, was die Gegebenheiten heute auf dem Balkan anbelangt (oder auch in vielen anderen Ländern der Welt), hast du völlig recht. Meine Frau ist 1965, so wie Sofias Sohn, während der Feldarbeit gebohren worden und auch heute noch hat der Kampf ums tägliche Brot (die Arbeit) in abgelegeneren Dörfern des Balkans einen höheren Stellenwert, als die Geburt eines Kindes.
Ich habe diese Geschichte bewusst in diesem ruhigen Tonfall geschrieben – es sollte Sofias Ausgeglichenheit demonstrieren, ihre innere Sicherheit, ihre Ruhe, die sie letztendlich all das hat ertragen lassen, was ihr widerfahren ist.
Wie ich nun den Kommentaren entnommen habe, ist dies negativ aufgenommen worden; werde ich also in Zukunft anders machen.

Noch einmal danke fürs Lesen.

Gruß
Jadro

P.S. Für buzaro oder buzara gibt es keine Übersetzung. Es ist der Name für Gerichte oder Soßen, die auf Weißwein, Zwiebel, Knoblauch, Kräutern (Petersilie) und Dickungsmitteln (Paniermehl) basieren.

 

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