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Schach

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15.04.2005
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Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, beginnt im März des Jahres neunzehnhundertundvier in der hessischen Stadt Friedberg. Erich und Karl, die beiden halbwüchsigen Söhne des Eisengießers Alfons Wondratschek, besuchten dort ein Internat.
In den Schulen herrschte zur Kaiserzeit strenge Zucht. Von den Schülern wurden trotz ihrer Jugend Selbstbeherrschung, Disziplin und Härte erwartet. Weichlichkeit galt als weibische Eigenschaft, die mit allen Mitteln auszutreiben war. Wer Schwäche zeigte, wurde drakonisch bestraft. So kam es, dass die weniger Robusten, die sich eines geringen Vergehens schuldig gemacht hatten, oft härtere Strafen zu erdulden hatten als die Selbstbewussten und Nassforschen mit einer wirklichen Untat. Erst die Angst vor Strafe machte aus einer Tat ein Vergehen. Der Unterricht erfolgte mit militärischem Drill, wiewohl es keinen Lehrer gab, der nicht dem Vaterland gedient hatte. Soldatische Tugenden wie Zähigkeit und Genügsamkeit waren hoch angesehen, das Militär prägte das tägliche Leben.
„Erich Wondratschek.“ Bei dem in schnarrendem Ton vorgebrachten Namen hob Oberstudienrat Laubmüller nicht den Blick. Erich trat aus seiner Bank. „Hier.“
Laubmüller setzte einen begonnenen Eintrag ins Klassenbuch fort. Minuten vergingen. Dann schließlich sah der Lehrer auf.
„Sie scheinen den Lehrstoff der vergangenen Stunden nicht ganz bewältigt zu haben, Wondratschek. Ihre Hausarbeit ist mangelhaft.“
Laubmüller erhob sich und begann, auf dem Podest, auf dem der Katheter stand, hin- und herzumarschieren. Dabei hielt er sich kerzengerade. Seine Schritte hallten in dem kahlen Klassenraum wider. Dann blieb er abrupt stehen.
„Was ist der Grund für Ihre schwache Leistung, Wondratschek?“
„Ich habe nicht hart genug gearbeitet, Herr Oberstudienrat.“
Diese Antwort war fester Bestandteil eines Rituals, das in derartigen Situationen durchexerziert wurde.
„Glauben Sie, dass eine zusätzliche Hausarbeit Ihren Rückstand beseitigen könnte?“
„Jawohl, Herr Oberstudienrat, das glaube ich. Ich bitte darum.“ Dem weichen Jungengesicht Erichs, das in seltsamem Kontrast zu der strengen Schuluniform stand, war keine Regung anzumerken.
„Sie bitten darum?“ Laubmüllers mittlerweile schneidender Ton wurde eine Nuance milder. „Glauben Sie denn, dass Sie die Chance verdient haben?“
„Das glaube ich, Herr Oberstudienrat.“
Auch diese letzte Antwort war fester Bestandteil des Rituals. Man wünschte zupackende Schüler. Hätte Erich eine halbherzige Antwort gegeben, wäre die Folge womöglich die Verweisung von der Anstalt gewesen.
Laubmüller nahm das Lehrbuch über Trigonometrie zur Hand, das auf dem Katheter lag, und blätterte darin. „Dann lösen Sie bis morgen die Aufgaben zum Cosinussatz, und zwar alle. – Erheben Sie sich!“
Diese letzte Bemerkung galt der Klassenallgemeinheit, denn die Stunde war zu Ende. Die Schüler nahmen Haltung an, dann verließ Laubmüller den Klassensaal. Bis zur nächsten Stunde gab es fünf Minuten Pause. Erich trat auf den Gang und sah zu einem der hohen, schießschartenähnlichen und vergitterten Fenster hinaus.
„Hast du Schwierigkeiten mit Mathematik?“ Erich drehte den Kopf zur Seite. Walter Kamps, ein Offizierssohn, der sich durch besondere Hochnäsigkeit auszeichnete, war neben ihn getreten. Bei seiner Frage grinste er über das ganze Gesicht.
Erich gab keine Antwort. Während er folgenden Geschichtsstunde war er aufmerksam und in der Lage, die an ihn gestellten Fragen zu beantworten.
Dann gab es eine Dreiviertelstunde Mittagspause. In dieser Zeit wurde in dem großen Speisesaal ein warmes Essen eingenommen. Während der Mahlzeit herrschte Schweigen, private Gespräche waren untersagt. Das Essen war einfach, es gab Kartoffeln mit Kohl oder Möhren, hin und wieder ein kleines Stück Fleisch. Man verwöhnte die Schüler nicht, um der Verweichlichung keinen Vorschub zu leisten. Anschließend gab es wieder Unterricht, der bis weit in den Nachmittag hinein dauerte.
Dann war der Unterricht zu Ende, und damit war es Zeit für die Hausaufgaben. Erich hatte zuvor turnusmäßig den Klassenraum zu reinigen. Auf den Knien liegend schrubbte er den Schmutz vom Boden, wischte Bänke und Tafel feucht ab. Erst am frühen Abend wurde er fertig damit und spürte die Erschöpfung eines langen Tages.
Es gab mehr als ein Dutzend Aufgaben zum Cosinussatz. Nach dem Abendessen setzte sich Erich an den Tisch des Zimmers, das er mit drei anderen teilte, und versuchte, die Aufgaben zu lösen. Als Karl, sein jüngerer Bruder, an die Tür klopfte, um nach ihm zu sehen, schickte er ihn fort. Nach und nach trafen seine Zimmergenossen ein, die ihre abendliche Freizeit lesend oder bei Gesprächen im Gemeinschaftsraum verbracht hatten, und legten sich zu Bett. Erich arbeitete beim trüben Schein einer Petroleumlampe weiter.
„He, Wondratschek!“ Das war wieder Kamps. „Mach endlich das Licht aus, du schaffst es sowieso nicht.“
Bis weit nach Mitternacht saß Erich über den Aufgaben, löste einen Teil davon mehr schlecht als recht und schlief am Tisch ein, den Kopf auf den Armen.
Am nächsten Morgen gab er sein Heft ab. Laubmüller nahm es achtlos entgegen. Die Stunde verging für Erich in quälender Langsamkeit. Schließlich war sie zu Ende, die Schüler erhoben sich und Laubmüller verschwand.
Etwa zwanzig Minuten nach Beginn der Folgestunde erschien der Pedell im Klassenraum.
„Der Schüler Erich Wondratschek soll zum Herrn Direktor kommen.“
Erich folgte dem vierschrötigen Mann, der nach Tabak und Alkohol roch, durch lange Korridore und ausgetretene Stufen aus Sandstein hinauf. Beim Direktor befand sich Laubmüller. Er würdigte Erich keines Blickes.
Der Direktor ließ sich Zeit, suchte sichtlich nach Worten. „Wissen Sie die Chance, die Sie hier erhalten, nicht zu schätzen, Wondratschek?“ fragte er dann.
Erich wählte sein Worte mit Bedacht.
„Das weiß ich sehr wohl“ antwortete er, „und ich bitte sehr um Entschuldigung, falls ein anderer Eindruck entstanden sein sollte.“
Laubmüller und der Direktor tauschten einen Blick.
„Wie kommt es dann“ fragte der Direktor, „dass Sie die Aufgaben, die Ihnen Oberstudienrat Laubmüller stellt und die der Besserung Ihrer Leistungen dienen, nicht lösen? Sie haben den größten Teil der Aufgaben noch nicht einmal angegangen.“
Prüfend sah er Erich an. Der schwieg.
„Antworten Sie, Wondratschek.“
„Ich war überfordert, Herr Direktor“ sagte Erich.
Der Direktor erwog die Antwort. Sie beinhaltete weder Weichlichkeit noch Unbotmäßigkeit. Er räusperte sich.
„Nun gut, Wondratschek, Sie werden Ihre Gründe gehabt haben. Ich kann jedoch nicht umhin, Ihrem Erziehungsberechtigten Meldung zu erstatten. Von Ihnen erwarte ich, dass Sie die bevorstehenden Osterferien nutzen, um Ihren Rückstand aufzuholen. Gehen Sie zurück in Ihren Klassenraum.“

Alfons Wondratschek war ein Mann in mittleren Jahren, der in einer Friedberger Eisengießerei schwere körperliche Arbeit verrichtete. Mit seiner Ehefrau Ruth bewohnte er zwei schäbige Zimmer in Bessel, einem kleinen Ort eine Wegstunde von Friedberg entfernt.
Die Internate waren in der Regel den Kindern von Industriellen, von Adligen und von Militärangehörigen vorbehalten. Dies resultierte zum einen aus Standesdünkel, zum andern war kaum ein Arbeiter imstande, die immens hohen Kosten aufzubringen.
Wondratschek löste dies Problem, indem er eine bis zwei Extraschichten in der Woche absolvierte. Zu der Zeit, von der hier die Rede ist, gab es kaum Arbeitsschutzbestimmungen; wer sechzehn Stunden Plackerei bei Hitze und Staub aushielt, durfte sie ableisten und wurde entsprechend bezahlt. Wondratschek war klein und gedrungen und verfügte über eine enorme Körperkraft. Zu arbeiten hatte er auf dem Bauernhof seiner Eltern gelernt, wo er bereits als Jugendlicher von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang bis zur völligen Erschöpfung geschuftet hatte.
Die Naturwissenschaften erlebten zu Zeiten des letzten deutschen Kaisers einen ungewöhnlichen Aufschwung. Wilhelm Conrad Röntgen entdeckte die später nach ihm benannten Strahlen und erhielt dafür im Jahre neunzehnhundertundeins den ersten Nobelpreis für Physik. Zwei Jahre später teilten sich Antoine Henri Becquerel und das Ehepaar Pierre und Marie Curie den Preis für ihre Arbeiten auf dem Gebiet der Radioaktivität. Emil Adolf von Behring entwickelte einen Impfstoff gegen Diphtherie, bereits einige Jahre zuvor hatte Robert Koch durch Arbeiten auf dem Gebiet der Immunologie internationales Ansehen erlangt. Diese Liste ließe sich erheblich verlängern, die angeführten Beispiele mögen hinreichen, um verständlich werden zu lassen, mit welcher Begeisterung jede neue Erkenntnis aufgenommen wurde. Man fühlte sich an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, glaubte, durch wissenschaftliche Erkenntnis jedes Problem lösen zu können.
Wondratschek teilte diese Begeisterung, empfand für die Helden des Geistes eine glühende und naive Bewunderung. Sein größter Wunsch war, den Namen seiner Familie neben diesen aufgeführt zu finden. Weil ihm die Chance für eine Ausbildung nie geboten worden war, sollten seine Söhne jede nur denkbare Gelegenheit erhalten, Bildung und Wissen und vor allem die Weihen einer höheren Lehranstalt zu erwerben. Umso schlimmer traf es ihn, dass Erich, als er zusammen mit Karl für die Osterferien zu Hause eintraf, einen blauen Brief der Schulleitung in seinem Gepäck hatte. Man teilte ihm darin mit, dass die Versetzung Erichs wegen ernsthafter Leistungsmängel in Mathematik gefährdet sei.
Wondratschek war beunruhigt. Bislang hatte weder Erich noch Karl Mühe gehabt, dem Unterricht im Internat zu folgen, hatten sie doch beide die Aufnahmeprüfung mit Bravour geschafft. Der immer schwieriger werdende Lehrstoff wurde nun für Erich offensichtlich doch ein Problem. Er neigte zu konkretem Denken, konnte mit den abstrakten Begriffen der Mathematik nichts anfangen.
Wondratscheks Beunruhigung steigerte sich, als Erich wenig Lust zeigte, die Osterferien mit Lernen zu verbringen. Lieber flanierte er in seiner Schüleruniform durchs Dorf. Er war fünfzehn Jahre alt, groß, kräftig und gutaussehend. Die Blicke der Leute folgten ihm, wenn er die Dorfstraße entlangging.
Vergeblich redete Wondratschek seinem Sohn ins Gewissen, sich an seine Bücher zu setzen.
Bei seinen täglichen Spaziergängen fiel Erich im Garten eines reichen und vornehmen Hauses, das nicht ins Dorf zu passen schien, ein überaus attraktives und hübsches Mädchen in seinem Alter auf. Sie hatte auch ihn bemerkt und folgte ihm mit ihren Blicken, wenn er vorbeiging.
Das Mädchen hieß Veronika Balthasar. Sie war die Tochter eines Ingenieurs, der sich in Bessel niedergelassen hatte. Ein paar Tage nach dieser ersten Begegnung, in denen Erich häufig vor dem Haus aufgetaucht war, kam Balthasar heraus. Mit zornrotem Gesicht forderte er den Jungen auf, zu verschwinden.
„Ich dulde es nicht, dass Sie vor meinem Haus herumlungern und meine Tochter belästigen. Sehe ich Sie hier noch einmal, dann rufe ich die Polizei“
Jeder andere Fünfzehnjährige wäre nach einer solchen Ansprache kleinlaut abgezogen. Doch Erich war unerschrocken, körperlich und seelisch seinem Alter voraus. Er verbeugte sich knapp.
„Nichts liegt mir ferner, mein Herr, als Sie oder das gnädige Fräulein zu belästigen. Sollte dieser Eindruck entstanden sein, dann bitte ich vielmals um Entschuldigung. Allerdings kann ich nicht umhin, die Schönheit des gnädigen Fräuleins zu bewundern.“
Seine Worte hatte er absichtlich so laut gesprochen, dass Veronika sie hören musste. Wieder verbeugte er sich knapp und ging.
Die couragierte und selbstbewusste Antwort beeindruckte Balthasar über alle Maßen. Als er am nächsten Tag den Dorfkrug betrat und Erich mit seinem Vater an einem der Tische entdeckte, nickte er ihm grüßend zu. Wieder ein paar Tage später, bei einer erneuten Begegnung im Krug, kam er an den Tisch Wondratscheks und stellte sich vor. Wondratschek bat ihn, Platz zu nehmen. Es dauerte nicht lange, bis eine Einladung Balthasars an Erich erging. Dieser Einladung folgten weitere. Balthasar fand Gefallen an dem Jungen, wenn auch er und Veronika für eine Verbindung noch zu jung waren. Doch in einigen Jahren würde Erich zweifellos einen Schwiegersohn abgeben, wie ihn sich kein Vater besser wünschen konnte.
Bei einem seiner Besuche gestand Erich ein, dass der Mathematikunterricht im Internat ihm Probleme bereitete.
„Aber dagegen kann man doch etwas tun“ sagte Balthasar. „Die Mathematik fällt in mein Fach, ich würde Ihnen den Lehrstoff gerne erklären, wenn Sie einverstanden sind.“

Erich bestand die Prüfungen, die er in den ersten Wochen nach seiner Rückkehr ins Internat abzulegen hatte. Einige Zeit sah es so aus, als wären seine Probleme vorübergehender Natur gewesen und durch die Hilfe Balthasars behoben. Doch im Sommer geriet er erneut in Schwierigkeiten. In den Sommerferien, die er wieder mit seinem Bruder zu Hause verbrachte, offenbarte er sich seinem Vater.
So bitter die Erkenntnis für Wondratschek auch war, er musste einsehen, dass Erich zu einem Wissenschaftler nicht taugte. Wenn ihm die Bewältigung des Lehrstoffs auf dem Gymnasium bereits schwer fiel, dann war er auf keinen Fall in der Lage, Mathematik oder ein naturwissenschaftliches Fach zu studieren, von einer Karriere als Wissenschaftler ganz zu schweigen. Mit seiner unerschrockenen Art und seinem kräftigen und widerstandsfähigen Körper würde er stattdessen einen prächtigen Offizier abgeben. Als dann auch noch Karl eingestand, mit dem Lehrstoff nicht zurechtzukommen, brach für Wondratschek eine Welt zusammen. Für seinen Traum hatte er jahrzehntelang gearbeitet wie ein chinesischer Kuli, hatte seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt und keine Mühe gescheut, und nun war der Traum dahin. Es würde keinen Physiker und keinen Mediziner namens Wondratschek geben, der die Welt durch bahnbrechende Entdeckungen faszinierte.
Eine Zeitlang ging Wondratschek nach der Arbeit häufig in die Kneipe und kam dann betrunken nach Hause, um schlecht gelaunt und deprimiert zu Bett zu gehen. Dann schloß er sich einer Sekte an, die den baldigen Weltuntergang predigte. Persönliches Elend lässt sich leichter ertragen, wenn man die ganze Welt verloren glaubt. Vergeblich versuchten seine Ehefrau und seine Freunde, ihn aufzumuntern. Wondratschek nahm sich den Verlust seiner Träume sehr zu Herzen und zog sich immer mehr zurück. Seine Arbeit verrichtete er nunmehr nachlässig und wurde nach einiger Zeit von seinem Arbeitgeber abgemahnt.
„Stürz´ doch nicht dich und deine Familie ins Unglück“ sprach ihm Ruth Wondratschek ins Gewissen. „Wenn du deine Arbeit weiterhin so schlampig verrichtest, verlierst du deine Stelle, und was ist dann?! Im übrigen weiß ich gar nicht, warum du so unglücklich bist! Du hast zwei prächtige Söhne, vergiß das nicht bei deinen Hirngespinsten!“
Im September schien sich Wondratschek wieder zu fangen. Er verbrachte mehr Zeit mit seinen Freunden und seiner Ehefrau, und man hörte ihn wieder lachen.

Ende Oktober wurde Ruth Wondratschek erneut schwanger. Zur damaligen Zeit war eine Schwangerschaft in ihrem Alter – sie war Ende Dreißig – etwas höchst Ungewöhnliches, wenn nicht Unschickliches. Sie verbarg ihren Zustand, so gut sie es vermochte, und ging, als er sich nicht mehr verbergen ließ, kaum noch aus dem Haus.
Für Alfons Wondratschek war diese Schwangerschaft ein großes Unglück. Kaum hatte er die Nachricht von den schwachen Leistungen seiner beiden Söhne verarbeitet, als er schon wieder unter Druck geriet. Ein Kind im Haus bedeutete einen Esser mehr, der versorgt werden musste. Wondratschek arbeitete jetzt bereits an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit und verdiente gerade so viel Geld, dass er die Familie ernähren und Erich und Karl aufs Internat schicken konnte. Ein weiteres Kind würde die Familie vor ernsthafte finanzielle Probleme stellen.
Das Weihnachtsfest verbrachte die Familie in deprimierter Stimmung. Wondratschek ging mit Erich in den Dorfkrug, Karl blieb bei seiner Mutter. Erich war inzwischen alt und verständig genug, um zu begreifen, vor welche Probleme das Kind, das erwartet wurde, seinen Vater stellte.
„Ich gehe in zwei Jahren zur Armee“ beschwichtigte er seinen Vater. „Dann verdiene ich eigenes Geld, und du musst die Schulkosten für mich nicht mehr bezahlen.“
Den Rest seiner Ferien verbrachte er bei Balthasar. Mit Veronika machte er lange Spaziergänge durch den verschneiten Wald.
Als seine Söhne wieder ins Internat abgereist waren, ergriff ein neuer Gedanke von Wondratschek Besitz. War es nicht möglich, fragte er sich, dass die Vorsehung ihm dieses Kind geschickt hatte, um seine Träume doch noch wahr werden zu lassen?! Mit Erich und Karl hatte man ihn prüfen wollen, hatte seine Standfestigkeit auf eine harte Probe gestellt. Und er hatte diese Probe bestanden, hatte bis zur völligen Erschöpfung gearbeitet, um seinen Söhnen eine gute Ausbildung zu finanzieren. Damit hatte er bewiesen, dass es ihm ernst war mit seinen Absichten. Dieses Kind nun war dazu ausersehen, seinen Traum von wissenschaftlichem Erfolg endlich wahr werden zu lassen.
Je länger er diesen Gedanken erwog, desto einleuchtender erschien er ihm. Nicht zufällig, so sagte er sich, war Ruth gerade zu der Zeit schwanger geworden, als sein Traum verloren schien. War es nicht oft so im Leben, dass nach einer Zeit äußerster Verzweiflung, wie er sie gerade durchgemacht hatte, eine Phase der Bestätigung und des Glücks kam?
Seine Gedanken behielt er für sich, wohl wissend, dass ihm keiner aus seiner Familie oder seinem Freundeskreis hierin folgen würde. Er begann statt dessen, seine Ehefrau genauestens zu beobachten, ob sie irgend welche Anzeichen zeigte, dass das Kind, das sie austrug, eine besondere Begabung besitzen würde. Aus einem Zeitungsartikel erfuhr er, dass Spätgebärende oft besonders intelligente Kinder zur Welt bringen. Dieser Artikel spielte fortan eine wichtige Rolle bei seinen Tagträumen und Überlegungen.

Über Ostern schlug ein Zirkus seine Zelte auf einer Wiese vor dem Dorf auf. Zu jener Zeit gab es kaum zoologische Gärten, Massenmedien gab es, bis auf Zeitungen, erst recht nicht. So kam es, dass ein Großteil der Besseler Bevölkerung zum erstenmal in seinem Leben Löwen, Tiger und Elefanten sah. Der Zirkus bot eine willkommene Abwechslung im Einerlei des Dorflebens. Auch Wondratschek besuchte sonntags mit seiner Frau die Nachmittagsvorstellung.
In der Pause ergingen sich die Besucher in den Gassen, die durch die Zelte und die Wagen der Zirkusleute gebildet wurden. Eine allem Anschein nach uralte Frau, die hinter einem Tisch saß, sprach Wondratschek an. Zwischen ihren farblosen Lippen, die unter all den Falten und Runzeln ihres Gesichtes kaum zu erkennen waren, hielt sie eine filterlose Zigarette, an der sie beim Sprechen zog.
„Wenn der Herr etwas über seinen Sohn erfahren möchte, den die gnädige Frau unter dem Herzen trägt, dann möchte er sich zu mir setzen.“
Ruth Wondratschek zog ihren Mann am Arm, suchte das Weite, denn die Ansprache der Frau war ihr peinlich. Wondratschek hingegen befreite sich und blieb stehen. Die Alte hatte seinen wunden Punkt getroffen.
„Woher wollen Sie überhaupt wissen, dass es ein Junge ist, den meine Frau erwartet?“ fragte er. Die Alte machte eine einladende Handbewegung.
„Setzen Sie sich her zu mir, und Sie werden alles erfahren.“
Wondratschek nahm Platz auf einem orientalischen Sitzkissen, das der Frau gegenüber vor dem Tisch stand. Die Alte wies auf eine Silberschale, in der sich mehrere Münzen befanden.
„Der Herr möchte so freundlich sein, für meine Bemühungen einen kleinen Obolus zu entrichten.“
Wondratschek zog ein silbernes Fünfmarkstück aus der Tasche und warf es in die Schale. Die Alte ergriff seine linke Hand und studierte die Linien. Was sie sah, schien sie zu erschrecken, denn sie ließ die Hand plötzlich los und wich Wondratscheks Blick aus.
„Nun, was sehen Sie?“ Wondratscheks Stimme klang drängend. „Was können Sie mir über meinen Sohn sagen?“
„Ihr Sohn wird außergewöhnlich begabt sein“ sagte die Alte mit brüchiger Stimme und wandte sich ab. „Möchte der Herr etwas über seine Zukunft erfahren?“ wandte sie sich dann an einen der Vorübergehenden. Es war offensichtlich, dass sie Wondratschek nun loswerden wollte.
„Was sehen Sie noch?“ beharrte der. Die Alte konnte nichts von seinem Wunschtraum wissen, hatte er doch höchstens Mitgliedern seiner Familie hiervon etwas mitgeteilt. Umso begieriger war er, alles zu erfahren.
„Sie haben genug gehört“ sagte die Alte. „Mehr sehe ich nicht.“
„Sie lügen“ sagte Wondratschek. Einige Umstehende wurden Zeuge der Szene und blieben stehen. „Sie wissen noch mehr, und ich werde erst gehen, wenn Sie es mir mitgeteilt haben.“
„Ich habe dem Herrn alles mitgeteilt, was ich weiß“ wiederholte die Alte. „Mehr kann ich beim besten Willen nicht sehen.“
Für Wondratschek war die Angelegenheit noch nicht beendet, das war seinem Gesicht anzusehen, in dem es arbeitete. Er blieb stehen und starrte die Alte finster an. Die Umstehenden erwarteten eine Auseinandersetzung und blieben aus Neugier. Die Alte sah, welche Aufmerksamkeit ihr Streit mit Wondratschek hervorrief, und befürchtete Geschäftsschädigung. Die Hartnäckigkeit Wondratscheks machte sie wütend.
„Nun gut!“ rief sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wenn Sie so darauf bestehen, dann werde ich es Ihnen sagen. Ihr Sohn wird ungewöhnlich begabt sein, das ist richtig, aber Sie werden ihn verstoßen.“
„Das ist nicht wahr!“ Wondratschek war blaß geworden und erhob sich. Drohend kam er auf die Alte zu. „Du alte Hexe saugst dir das alles aus den Fingern, um die Leute zu verunsichern und zu verhöhnen. Ich werde dir den Hochmut austreiben.“
Damit packte er die Frau an den Schultern und schüttelte sie. Sie schrie mit schriller Stimme um Hilfe. Plötzlich fühlte Wondratschek sich von Armen gepackt, die ihn wie ein Schraubstock umklammerten und fortzogen. Ein muskelbepackter Artist war der Alten zu Hilfe gekommen. Wondratschek, der selbst kein Schwächling war, sah sich außerstande, etwas gegen den Mann auszurichten.
„Der Herr hat sich ein wenig aufgeregt“ konstatierte der Artist in einem Ton, der sowohl furchteinflößend wie beruhigend wirkte und Wondratscheks Lust auf eine Auseinandersetzung verpuffen ließ. „Der Herr möchte gehen.“
Damit gab er Wondratschek einen Stoß, der ihn weit fort von dem Tisch mit der Alten beförderte. Die Umstehenden, ein Teil davon Nachbarn der Wondratscheks, gafften.
„Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht so geschämt“ sagte Ruth Wondratschek auf dem Nachhauseweg. „Es reicht jetzt mit deinen Hirngespinsten.“

An einem schwülheißen Tag im Juli setzten bei Ruth Wondratschek die Wehen ein. Erich, der wiederum mit Karl seine Ferien zu Hause verbrachte, half seiner Mutter ins Ehebett der Eltern und machte sich eilends zu Fuß auf den Weg nach Friedberg.
In der Eisengießerei herrschte Hochbetrieb. Ein großes Schwungrad für eine Lokomotive sollte gegossen werden, der Meister war aufs äußerste angespannt und gereizt und brüllte seine Leute wegen Nichtigkeiten an. Inmitten von Hitze, Lärm und Staub arbeitete Wondratschek in der primitiven Schutzkleidung, die damals üblich war, und ignorierte das Gebrüll des Meisters und die Schmerzen seines überanstrengten und geschundenen Körpers. Als er Erichs ansichtig wurde, der unter Missachtung aller Sicherheitsvorschriften die Werkshalle betrat und durch die in der Hitze wabernde Luft angestrengt nach seinem Vater Ausschau hielt, wusste er, was dieser Besuch zu bedeuten hatte. Nach einigen erklärenden Worten zum Meister, der vor Wut über den Ausfall Wondratscheks zu bersten schien, entledigte er sich seiner Schutzkleidung. Ein Zug verkehrte nur zweimal am Tag, also machte er sich im Laufschritt auf den Heimweg.
Ohne auf den strömenden Regen zu achten, der mittlerweile eingesetzt hatte, lief er mitten durch den Morast, in den sich der Feldweg verwandelte. In Bessel angekommen lief er als erstes zum Hause der Hebamme, die schon bei der Geburt seiner beiden Söhne geholfen hatte. Er duldete nicht ihre ausweichenden und hinhaltenden Worte, ignorierte ihr Gerede davon, dass man noch alle Zeit der Welt habe und auch Rom nicht an einem Tag erbaut worden sei und gab nicht eher Ruhe, bis sie sich mit ihm in Richtung seines Wohnhauses in Bewegung setzte.
Vor der Tür des ehelichen Schlafzimmers wartete er dann, angespannt bis in die letzte Faser seines Körpers. Fast ertrug er das Warten nicht, deutete die lange Zeit, in der scheinbar nichts geschah, verkehrt und malte sich Katastrophen aus, die das Kind noch treffen könnten. Als dann der ersehnte erste Schrei zu hören war, mit dem das Kind seine Ankunft auf dieser Welt verkündete, hielt es ihn nicht länger vor der Tür. Er betrat das Zimmer.
Seine Frau sah ihm glücklich entgegen, an der Brust den Säugling, der Wondratschek ungewöhnlich groß zu sein schien, fast wie ein einjähriges Kind. Fragend sah Wondratschek seine Frau an.
„Du hast einen Sohn“ sagte Ruth. Vorsichtig nahm Wondratschek den Jungen auf den Arm, stützte besorgt den Kopf und betrachtete das Gesicht, das noch rot und verquollen war. Dann reichte er Ruth den Jungen zurück. Beinah schien er ängstlich, aus Unbedachtsamkeit etwas verkehrt zu machen und dem Kind zu schaden.
Diese vorsichtige und ängstliche Haltung behielt Wondratschek einige Wochen lang bei. Er konnte nicht wahrhaben, dass das ersehnte Kind, in das er so große Hoffnungen setzte, nun endlich da war. Er war wie ein Lotteriemillionär, der sein Geld in der ersten Zeit nicht antastet, aus Angst, der Gewinn könnte sich als Betrug oder Täuschung erweisen. Bei der Kindstaufe, die eine Woche nach der Geburt stattfand und bei der der Junge den Namen Wilhelm erhielt, hielt er das Kind so ungeschickt, dass es ihm beinah ins Taufbecken gefallen wäre. Rot im Gesicht vor Scham ignorierte Ruth Wondratschek den Heiterkeitsausbruch der Umstehenden und nahm ihrem allzu ungeschickten Ehemann den Jungen ab. Sogar Karl, der eben erst den Kinderschuhen entwuchs, zeigte sich irritiert angesichts der seltsamen Art seines Vaters.
„Was hat der Vater denn nur?“ fragte er seine Mutter, die die Antwort nur allzu gut kannte und sie ihm dennoch verschweigen musste. „Er macht sich ein wenig verrückt wegen Wilhelm. Das gibt sich wieder“ war ihre ausweichende Antwort.
Dann eines Abends, als sie vom Einkauf beim Dorfkrämer kam, fand sie ihren Ehemann mit dem kleinen Wilhelm auf dem Schoß in schöner Eintracht. Wondratschek war von der Arbeit gekommen und hatte sich, als er das Haus leer fand, als erstes seinem Sohn gewidmet. Mit unendlicher Behutsamkeit wiegte er Wilhelm, gab ihm zärtliche Namen und erklärte ihm die Bezeichnungen der Gegenstände, auf die der Blick des Kindes fiel. Wilhelm folgte seinen Ausführungen mit großen, nur mäßig interessierten Augen und schlief alsbald in seinen Armen ein.
In der Folgezeit machte Wondratschek es sich zur festen Angewohnheit, die erste Stunde am Feierabend mit Wilhelm zu verbringen. „Ein Kind braucht Ansprache“ erklärte er seiner Ehefrau, die seine Bemühungen gerührt verfolgte. „Wenn ein Kind seinen Verstand entwickeln soll, dann muß man es beschäftigen, schon in frühester Jugend. Wenn man es nur ruhigstellt und ihm keinen Anreiz bietet, dann verkümmern seine geistigen Anlagen.“
Er brachte Gegenstände aus Friedberg mit, deren Betasten und Beschauen er für besonders reizvoll hielt, glänzende, kantige Schrauben aus der Eisengießerei etwa, oder glattes, angenehm zu fühlendes Spielzeug aus gedrechseltem Holz und einen bunten Ball. Bei gutem Wetter packte er Wilhelm in einen der monströsen Wagen, die zur damaligen Zeit üblich waren, und schob ihn durchs Dorf, ihm geduldig die Gegend erklärend.
Er nahm in dieser Zeit jeden Muckser, den das Kind machte, jedes Gebrabbel, das wie ‚Papa’ klang und jeden Blickkontakt, den Wilhelm mit ihm aufnahm, als Anzeichen einer ungewöhnlichen Intelligenz. Er sah Begabung, wo kein anderer sie zu entdecken vermochte, und verlor mit der Zeit seinen Bezug zur Realität. Karl und Erich begannen, ihn zu meiden, und hielten sich während der Ferien nach Möglichkeit außer Hause auf. Auch den Nachbarn entging die seltsame Verwandlung im Wesen Wondratscheks nicht. Man begann, hinter seinem Rücken zu tuscheln.

Ruth Wondratschek verfolgte das Gebaren ihres Ehemannes mit Besorgnis. Hatte die zärtliche Hingabe Alfons´ an seinen Sohn sie zu Beginn noch gerührt, so begann seine an seelische Krankheit grenzende Verkennung der Realität sie nun zu nerven. Oft unterdrückte sie ihre Gereiztheit nur mühsam. Nachts lag sie wach und dachte voller Sorgen an die Zukunft. Was sollte aus der Familie werden, wenn der Ernährer krank wurde? Zu jener Zeit gab es keinerlei soziale Absicherung, eine Familie, in der der Vater nicht arbeiten konnte, war dem Elend ausgeliefert. Arbeit für Frauen gab es kaum und wurde so schlecht bezahlt, dass davon keine Familie ernährt werden konnte.
Ein Umstand machte Wondratscheks fixe Idee zur Groteske. Daß Wilhelm keine besonderen geistigen Qualitäten besaß, schien offensichtlich, doch mehr noch als das wies er einige Anzeichen geistiger Zurückgebliebenheit auf, die der scharf beobachtenden Ruth Wondratschek nicht entgingen. Hatte er sich eingenässt, so blieb er ohne ein Anzeichen von Missempfinden oder Ärger liegen. Hunger ertrug er ohne einen Laut, wenngleich er gierig trank, sobald sie ihn an die Brust legte. Umstände, die jedes andere Kind in ein zornbrüllendes Monster verwandelt hätten, entlockten ihm keine Äußerung. Trat man an seine Wiege, so zeigte er für gewöhnlich keine Reaktion, allenfalls hob er für einen Moment den Blick, um dann wieder in satte und zufriedene Apathie zu versinken.
Körperlich gedieh er prächtig. Als er größer wurde, entwickelte er zum Leidwesen seiner Mutter ein Charakteristikum, das ihm sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht zu eigen war, nämlich das der Plumpheit und Schwerfälligkeit. Er überragte die Kinder seiner Altersstufe um einen halben Kopf, war jedoch nicht in der Lage, beim Spielen mit ihnen Schritt zu halten. Beim Versteckspiel erriet er nie die Verstecke der anderen, während diese ihn mit Leichtigkeit fanden. Zum Rennen, Turnen und Springen war er zu plump, zum Murmelwerfen zu ungeschickt. Für die anderen Kinder war er reizlos, sie verloren das Interesse an ihm und begannen, ihn zu hänseln. Wilhelm ließ die Spottverse widerstandslos über sich ergehen, fast machte er den Eindruck, ihren Inhalt nicht zu verstehen.
Wondratschek ignorierte diese Anzeichen geistigen Defekts mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit. Er hatte sich in seine Phantasiewelt zurückgezogen, war vernünftigen Einwänden nicht mehr zugänglich. In seiner Vorstellung war Wilhelm der ersehnte Sohn, der seinen Traum von wissenschaftlichen Ruhm realisieren würde.

Lorenz Darré war seit einem Dreivierteljahr Lehrer der Dorfschule in Bessel. Von seinem Vorgänger, einem pensionierten Feldwebel, der die Stelle einige Jahre lang innegehabt hatte, hatte er eine Klasse von Kindern im Alter von sechs bis vierzehn Jahren übernommen. Die Besseler Bevölkerung, überwiegend Bauern, schickte ihre Kinder zur Schule, weil eine allgemeine Schulpflicht bestand. Außerdem erledigte der Lehrer des Dorfes seit jeher ihre Korrespondenz und somit war es ratsam, ihn nicht zu verärgern. Die Kinder waren trotz ihres zarten Alters abgearbeitet und desillusioniert und scherten sich einen Dreck um die pädagogischen Bemühungen des jungen Lehrers, der dem Rohrstock seines Vorgängers abgeschworen hatte und stattdessen auf die Motivation seiner Schützlinge setzte.
Den Eisengießer Wondratschek kannte er flüchtig, grüßte ihn auf der Straße und wechselte einmal ein paar Worte mit ihm im Dorfkrug. Als Wondratschek eines Sonntags in Begleitung seines mittlerweile fünfjährigen Sohnes Wilhelm vor seiner Mansardenwohnung stand, war er einigermaßen erstaunt, bat ihn jedoch herein. Noch erstaunter war er über das Anliegen des Mannes.
„Der Junge braucht eine rechtzeitige Förderung“ erklärte ihm Wondratschek. „Ich möchte Sie einstellen, um ihm einen Vorschulunterricht zu erteilen. Bringen Sie ihm Lesen und Schreiben bei. Ich würde das selbst übernehmen, habe aber nicht genügend Zeit dazu und verfüge auch über keinerlei pädagogische Ausbildung. Ich kann Ihnen versichern, dass der Junge die notwendigen geistigen Voraussetzungen mitbringt.“
Wondratschek bot einen Betrag von einhundert Reichsmark monatlich dafür, dass der Lehrer einmal in der Woche – nach Wondratscheks Vorschlag sonntags – Wilhelm für einige Stunden unterrichtete. Weil dieser Betrag eine nicht unbeträchtliche Aufbesserung seines mageren Gehalts darstellte und Darré dem fast flehentlich vorgebrachten Anliegen nicht länger widerstehen konnte, willigte er ein.
Wilhelm zeigte keinerlei Reaktion während der Verhandlungen seines Vaters mit Darré. Auch die im Zimmer des Lehrers befindlichen seltsamen Gegenstände, die die Neugier jedes anderen Kindes geweckt hätten, vermochten seine Aufmerksamkeit nicht zu erregen. Da gab es einen Theodoliten, mit dem der Lehrer in seiner Freizeit das Gelände rund ums Dorf vermaß, und ein mächtiges Teleskop mit einem Hohlspiegel. Auf dem Tisch lag eine türkische Pfeife, die Darré von einer Reise nach Konstantinopel mitgebracht hatte.
Wilhelm entsprach in keiner Weise der Schilderung Wondratscheks, der ihn als hochbegabt hinstellte. Vielmehr machte er beinah den Eindruck eines Behinderten. Ein paar Jahre zuvor hatten die Franzosen Albert Binet und Théodore Simon einen Intelligenztest für Kinder entwickelt und in ihrer Fachzeitschrift ‚L´Année Psychologique’ veröffentlicht. Darré, der vielseitig interessiert war, abonnierte diese Zeitschrift und beschloß, den Test Wilhelm vorzulegen. Aufgrund fehlender Massenversuche war der Test zwar nicht standardisiert, doch Binet hatte genaue Angaben gemacht, in welchem Alter ein Kind welche Aufgaben lösen können musste.
Das Ergebnis war, dass Wilhelm in seiner geistigen Entwicklung ein gutes Jahr zurück war. Damit lag seine Intelligenz hart am Rande der Debilität. Sein Auffassungsvermögen war entsprechend. Er begriff beim Leseunterricht überhaupt nicht, dass den Buchstaben Laute zugeordnet waren, die aneinandergereiht Wörter ergaben. Noch viel weniger war er in der Lage, sich die Schriftzeichen einzuprägen und wiederzugeben.
Wondratschek kontrollierte die Fortschritte seines Sohnes und zeigte sich nach einem Vierteljahr enttäuscht von dem Lernerfolg. Er machte Darré für die schwachen Leistungen Wilhelms verantwortlich.
„Für einen Jungen in dem Alter ist es natürlich wichtig, wie ihm der Lehrstoff vermittelt wird. Kann es sein, dass es Ihnen noch an Erfahrung fehlt?“
Als Darré vorsichtig andeutete, dass Wilhelms geistige Kräfte nicht ausreichten und er noch Zeit zur Reifung benötigte, reagierte Wondratschek wütend und enttäuscht. Er kündigte den Vertrag mit dem Lehrer. Künftig herrschte eisiges Schweigen, wenn sich Wondratschek und Darré auf der Straße begegneten. Die Dörfler quittierten diese neuentstandene Feindschaft mit hämischem Grinsen.
Ein Jahr später begann für Wilhelm die Schulpflicht, und damit entstand für Darré eine schwierige Situation. Wilhelm konnte dem Unterricht zwar etwas besser folgen als zuvor, doch er war in seiner Lernfähigkeit noch immer stark eingeschränkt. Wondratschek begann, gegen Darré zu hetzen, witterte Vorbehalte des Lehrers gegen seine Familie und vermutete böse Absichten. Darré reagierte, indem er dem Jungen eine Art von Sonderschulunterricht erteilte. Nach langer und mühevoller Arbeit war Wilhelm dann in der Lage, einfache Texte zu lesen und, wenn auch vor Fehlern strotzend, schriftlich wiederzugeben.
Auch die sprachliche Entwicklung des Jungen war gestört. Sätze mit mehr als einem Nebensatz überforderten ihn, sein Wortschatz war klein. Er drückte sich vorwiegend in kurzen Sätzen des Indikativs wie „Das Essen schmeckt“ oder „Der Mann arbeitet“ aus und vermied aufwendige und komplizierte sprachliche Konstruktionen.
Bei aller Lernbehinderung war Wilhelms Versetzung in die zweite Klasse nicht gefährdet, denn Darré hütete sich sehr wohl, Wondratscheks Wut dadurch weiter anzustacheln, dass er Wilhelm die Klasse wiederholen ließ. Darré wurde aufgrund seiner liberalen Vorstellungen über Schulunterricht im Dorf nur schwer akzeptiert, einen erbitterten Feind unter der Dorfbevölkerung konnte er sich nicht leisten. Ohnehin hatte der Junge es schwer genug. In der Schule fand er keine Freunde, wurde in den Pausen gehänselt und von allen gemieden. Darré empfand Mitleid für ihn, obwohl er seinetwegen durch die Attacken Wondratscheks und den zusätzlichen Arbeitsaufwand, den der Sonderunterricht erforderte, stark belastet wurde.
Eines Sonntags saß Wondratschek mit seiner Frau beim Kaffee, den er im Kolonialwarenladen in Friedberg gekauft hatte. Durchs Fenster war Wilhelm zu sehen, der vergebens mit einer Gruppe Gleichaltriger, die die Dorfstraße entlanggingen, Schritt zu halten versuchte. Während die anderen Kinder lachten, hüpften, miteinander rauften und einander spöttische Bemerkungen zuriefen, bewegte sich Wilhelm plump und schwerfällig, monoton einen Fuß vor den anderen setzend, und ohne jede Äußerung von Witz, Gewandtheit und Behendigkeit. Wondratschek beobachtete seinen Sohn, bis er nach zwei oder drei Minuten hinter einer Straßenbiegung verschwunden war. Danach verfiel er in Schweigen.
„Der Junge ist dumm wie Bohnenstroh“ sagte er dann. „Ich habe es die ganze Zeit gewusst, aber nicht wahrhaben wollen.“
Plötzlich wirkte er unendlich müde. Ruth Wondratschek trat hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Du hast zwei gesunde Söhne, die ihren Weg machen werden. Was willst du mehr?“
Wondratschek antwortete nicht, sondern ergriff ihre Hand und drückte sie. Von da an hörte man ihn nie wieder von wissenschaftlichen Leistungen reden.

Ein paar Jahre vergingen. Die Spannungen im österreichischen Kaiserreich verdichteten sich, in Sarajevo erschoß man den habsburgischen Thronfolger und Europa stürzte in den Krieg, der später der erste Weltkrieg genannt werden sollte. Erich und Karl, beide inzwischen Berufssoldaten und Angehörige der kaiserlichen Armee, wurden an die Front befohlen. Sie fielen in der gleichen Nacht in der Schlacht bei Verdun.
Von Kriegshandlungen war im Inland und namentlich in dem strategisch völlig uninteressanten Bessel nichts zu spüren. Desto deutlicher spürte man die Kriegsfolgen. Die Reparationszahlungen, die man Deutschland im Vertrag von Versailles auferlegt hatte, lasteten schwer auf dem Land. Viele Betriebe mussten schließen, vor den Arbeitsämtern standen lange Schlangen von Arbeitslosen. Wondratschek, inzwischen über fünfzig und mit Gelenken, an denen die Arthritis zu nagen begann, war froh, seine Arbeit zu behalten.
Im Sommer neunzehnhundertundneunzehn erhielt Wilhelm das Abschlusszeugnis seiner Schule. Zwar hatte er bis zum Ende seiner Schulzeit die geforderten Leistungen nur zum Teil erbracht, doch im Nachkriegsdeutschland und noch dazu an einer Dorfschule störte das keinen Menschen. Niemand erhob Einspruch, als man ihm im Rahmen einer Feier das Dokument überreichte.
Nun war zwar die für Wilhelm oft demütigende Schulzeit vorbei, doch sofort entstand ein neues Problem. Kein Lehrherr in weitem Umkreis war bereit, den Jungen, dem man seinen geistigen Defekt auf den ersten Blick ansah, einzustellen. Durch Vermittlung Wondratscheks fand Wilhelm schließlich eine Anstellung in der Eisengießerei in Friedberg, in der auch sein Vater arbeitete. Dort verrichtete er gegen geringes Entgelt schwere und gefährliche körperliche Arbeit. Der Meister ließ ihn ohne die vorgeschriebene Schutzkleidung mit flüssigem Metall und ätzenden Laugen hantieren. Funkenflug und beißende Dämpfe verbrannten und verätzten Wilhelms Haut. Sein ohnehin unschönes, weil breites und grobes, Gesicht wurde dadurch noch weiter verunstaltet. Wondratschek wurde zum Verräter am eigenen Sohn, indem er dagegen keinen Einspruch erhob und zuließ, dass der Meister Wilhelm schindete. Er vermochte für den einzigen ihm verbliebenen Sohn keine Zuneigung zu empfinden. Manchmal zwang er sich aus einem Schuldgefühl heraus zu einem freundlichen Wort, um Wilhelm dann wegen einer Ungeschicklichkeit wieder aufs schärfste anzufahren.
Im Umgang mit Kollegen zeigte Wilhelm eine peinliche Direktheit. Ungeniert erkundigte er sich, was andere gegessen oder während der Nacht getrieben hatten. Erkrankte jemand, dann wollte Wilhelm aufs genaueste über die Symptome informiert werden. Er begriff nicht die Taktlosigkeit seiner Fragen. Zunächst löste er Empörung aus, dann wurde er immer mehr zur Zielscheibe bösartigen Spotts.
Wilhelm war nun ein junger Mann, der seinen Lebensunterhalt selbst verdiente. Körperlich war er normal entwickelt. Es war nur natürlich, dass sich in ihm der Wunsch nach einer Frau zu regen begann. Doch keins der jungen Mädchen aus seinem Umfeld war bereit, sich auf den plumpen Burschen einzulassen, dem zur Ausbildung von Manieren und geschliffenem Benehmen die Intelligenz fehlte.

Zwei Ereignisse in jener Zeit werfen ein bezeichnendes Licht auf Wilhelm.

Wilhelm fuhr an Sonntagen gelegentlich mit dem Zug nach Frankfurt. Die große Stadt mit ihrer Betriebsamkeit und all der Abwechslung, die sie bot, faszinierte ihn. Er pflegte dann ein Gasthaus zu besuchen, ein oder zwei Gläser Bier zu trinken und mit den Gästen ein Gespräch anzufangen. Daß er hierbei oft nicht für voll genommen und verspottet wurde, entging ihm meistens. Hin und wieder beschwerte sich einer der Gäste beim Wirt, wenn ihn der offensichtlich behinderte Wilhelm ansprach. Dann gab es lange Debatten zwischen Wirt und Gast, die oft damit endeten, dass Wilhelm ein Lokalverbot ausgesprochen bekam. Sein Geschäft ließ sich keiner der Gastwirte von dem Einfaltspinsel verderben, da mochte er so bedauernswert, freundlich und harmlos sein, wie er wollte.
An einem Sonntag im Mai des Jahres neunzehnhundertundzweiundzwanzig machte sich Wilhelm abermals auf den Weg zum Besseler Bahnhof, um mit der Lokalbahn zunächst nach Friedberg und von dort mit dem Expreß nach Frankfurt zu fahren.
„Du nimmst den Zug um sechzehn Uhr siebenundzwanzig von Frankfurt nach Friedberg“ schärfte ihm sein Vater ein. „Drei Minuten vor halb fünf. Vergiß das nicht.“
Die Uhr kannte Wilhelm halbwegs, doch der Blick, mit dem er seinen Vater ansah, war alles andere als verständnisinnig. Wondratschek zog seine Taschenuhr hervor, stellte die Zeiger auf drei Minuten vor halb fünf und zeigte die Uhr seinem Sohn.
„Siehst du, auf dieser Uhr ist es jetzt soweit. Präge es dir ein.“ Das Gedächtnis Wilhelms funktionierte einwandfrei. Hatte er etwas erst einmal begriffen, dann vergaß er es nicht wieder. Er studierte die Uhr, die ihm sein Vater vor das Gesicht hielt, und nickte.
Der Nachmittag in Frankfurt verging viel zu schnell. Eine eigene Uhr besaß Wilhelm nicht, die Sonne stand noch hoch am Himmel, als er einen Passanten nach der Uhrzeit fragte. Der Mann, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem Spazierstock, zog die Brauen in Höhe ob dieser unvermittelten Ansprache. Er vermochte am Ton Wilhelms und dessen Begehren jedoch nichts Unbotmäßiges zu entdecken und zog die Uhr hervor, die er an einer Kette trug.
„Es ist sechzehn Uhr fünfzehn, mein Herr.“
Ersichtlich hatte Wilhelm diese Antwort nicht ganz begriffen, darum gestattete der Mann Wilhelm, einen Blick auf seine Uhr zu werfen. Der Anblick der Uhr, mit dem kleinen Zeiger über die vier hinaus und dem großen bereits auf dem Weg nach unten, versetzte Wilhelm in Panik. „Drei Minuten vor halb fünf!“ hatte sein Vater ihm eingeschärft, und er befand sich noch mitten in der Stadt, weit vom Bahnhof entfernt.
Der große und massige junge Mann erregte Aufsehen, als er sich, im Widerspruch zu den Gepflogenheiten der damaligen Zeit, in der Hast als unziemlich galt, im Laufschritt in Richtung des Bahnhofs in Bewegung setzte.
Als er sein Ziel erreichte, war es viertel vor fünf, der Zug, den er hätte nehmen sollen, längst abgefahren. In seiner Begriffswelt war das Gebot des Vaters, den Zug um kurz vor halb fünf zu nehmen, gleichbedeutend mit dem Verbot, mit einem anderen Zug zu fahren. Statt nun einfach eine Stunde zu warten und mit einem späteren Zug die Heimreise anzutreten, tat Wilhelm das einzige, was ihm in seiner Situation einfiel: er machte sich zu Fuß auf den Heimweg.
Mehr aus Glück und blindem Zufall denn aus Ortskenntnis oder Anstelligkeit fand er tatsächlich die Ausfallstraße nach Friedberg und marschierte einige Kilometer weit. Dann kamen ihm Zweifel an der eingeschlagenen Richtung.
Ein Bauer pflügte ein Feld, und am Rande dieses Feldes nun blieb Wilhelm stehen und blickte den Bauern an. Der ließ sich das Auftauchen des großen und massigen Einfaltspinsels nicht stören, sondern pflügte ungerührt weiter. Nach einer halben Stunde endlich, in der Wilhelm seinen Platz unverdrossen behauptet hatte, stellte er den Motor des Traktors ab, erwiderte den Blick Wilhelms und reckte das Kinn vor. Das war die Aufforderung an Wilhelm, sein Begehren zu äußern.
Wilhelm verstand nicht und blieb schweigend stehen, den bohrenden Blick weiterhin auf den Bauern geheftet.
„Was will er?“ fragte der Bauer nun ungehalten. Das war nicht das friderizianische „Er“, sondern eine in ländlichen Gegenden noch heute gebräuchliche Art, die eigene Missachtung seines Gegenübers zum Ausdruck zu bringen.
Jetzt endlich verstand Wilhelm. „Wo geht´s nach Bessel?“ fragte er. Diese Frage nun bewies dem Bauern, dass er mit seiner Einschätzung Wilhelms recht gehabt hatte. Bessel ist ein winziges Dorf bei Friedberg und in der Frankfurter Gegend völlig unbekannt. Nur ein Idiot fragte einen Londoner, wo Hintertupfingen liegt.
Dem Bauern nun fiel es nicht ein, Wilhelm seine Unkenntnis mitzuteilen. Vor einem Idioten stellte man sich nicht bloß, sondern man veralberte ihn.
„Da!“ sagte er und wies mit der Hand in eine unbestimmte Richtung. Wilhelm folgte der ausgestreckten Hand mit dem Blick. Sie wies querfeldein. Er bedankte sich artig und machte sich auf den Weg.
Nach vielen Irrwegen, nachdem er von einem Bauern mit einem Knüppel aus seiner Scheune vertrieben worden und von unzähligen Leuten veralbert worden war, erreichte er am Dienstagabend Bessel. Er war völlig verdreckt, halb verhungert und verdurstet. Als er die Dorfstraße entlangging, erregte er Aufsehen. Von einer Übernachtung in einer Scheune steckten Strohhalme in seinen Haaren, quer durch sein Gesicht zog sich eine blutige Schramme. Auf sein Klopfen öffnete sein Vater, der die Situation mit einem Blick erfasste. Um den Gaffern draußen nicht noch mehr Gesprächsstoff zu bieten, zog er seinen Sohn in die Wohnung, obwohl er ihm in seiner Wut am liebsten einen Tritt versetzt hätte. Der Vorfall sorgte für tagelangen Spott und Hohn in der Eisengießerei in Friedberg, in der etwa ein Drittel der erwerbstätigen Besseler Bevölkerung arbeitete. Ohnehin hatte Wilhelm seine zweitägige Fehlzeit zu erklären, doch weil sich außer ihm niemand ohne Schutzkleidung in gefährliche Einsätze schicken ließ, kam es dem Meister nicht in den Sinn, ihn zu kündigen. Er zog ihm die zwei Tage vom Lohn ab und damit war die Angelegenheit erledigt.

Ein Vierteljahr später, also im August des gleichen Jahres, war Wilhelm abermals auf dem Heimweg von Frankfurt. Es war eine Viertelstunde vor Abfahrt des Zuges im Frankfurter Bahnhof. Der Zug stand bereits auf dem Gleis und war zum größten Teil besetzt mit Wochenendausflüglern. Wilhelm war auf der Suche nach einem Sitzplatz. In einem Abteil entdeckte er ein ungemein attraktives, junges Mädchen, das sich abmühte, ihren schweren Koffer in die Gepäckablage zu heben. Gebannt von ihrer Anziehung trat Wilhelm hinzu, um behilflich zu sein. Als so unvermittelt der große und plumpe Kerl neben ihr auftauchte, erschrak das Mädchen. Noch dazu bekam Wilhelm seinen Mund nicht auf. Ohne sein Anliegen zu erklären, stand er da und versuchte, so etwas wie ein Lächeln in sein Gesicht zu zaubern.
Das Mädchen begann alsbald nach Hilfe zu rufen, überzeugt davon, einen Frauenschänder vor sich zu haben. Wilhelm erschrak bis ins Innerste. Das hübsche Mädchen, dessen Nähe er wenige Augenblicke zuvor noch gesucht hatte, war unversehens zu einem Gegner geworden. Wenn sie weiterhin um Hilfe rief, würden Leute kommen, die mit ihm, so seine Erfahrung in seinem siebzehnjährigen Leben, nicht freundlich umspringen würden. In seiner Panik und seinem blinden Bestreben, die junge Frau zur Ruhe zu bringen, tat er das Falscheste, was er tun konnte: er legte ihr seine große und schwielige Hand auf den Mund.
Das Mädchen riß sich augenblicks los, stürzte auf den Gang und schrie nunmehr nach Hilfe. Sofort kamen Reisende aus anderen Abteilen, sahen das schreiende Mädchen und den jungen Mann, bei dem es sich offensichtlich um einen Sittenstrolch handelte, und riefen nach der Polizei. Zwei, drei kräftige junge Männer packten Wilhelm, damit er nicht fliehen konnte, und warteten auf das Eintreffen der Beamten.
Die Polizei ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Zwei schnauzbärtige Beamten mit Pickelhaube erschienen und nahmen den Vorfall auf. Wilhelm in seiner Hilflosigkeit war außerstande, seine ursprünglich gute Absicht zu erklären. In seiner Erregung verhedderte er sich immer mehr, schließlich nahmen die Beamten ihn mit auf die Wache und sperrten ihn in eine Zelle. Den kommenden Montagmorgen sollte er dem Haftrichter vorgeführt werden.
Einem jungen Beamten schließlich kamen angesichts der völligen Hilflosigkeit Wilhelms Zweifel daran, dass es sich beim ihm um einen Sittenstrolch handelte.
„Schaut euch den Mann doch an“ sagte er zu seinen älteren Kollegen, die froh waren, den Übeltäter hinter Schloß und Riegel zu haben. „Das ist kein Frauenschänder. Der tut keiner Fliege was zuleide. Er ist behindert, aber kein Verbrecher.“
Gegen die Sturheit der übrigen kam er lange nicht an. Erst der Hinweis:“ Wenn wir den dem Haftrichter als Sittenstrolch vorstellen, blamieren wir uns“ brachte die entscheidende Wende. Einer der älteren ging in den Keller der Polizeistation, befreite Wilhelm aus seiner Zelle und brachte ihn zum abermaligen Verhör in die Amtsstube.
Wilhelm hatte sich inzwischen beruhigt und war in der Lage, den Vorfall im Zug korrekt zu schildern. Der Anblick des stotternden und behinderten jungen Mannes, der bis ins Mark hinein erschreckt zu sein schien, überzeugte nun auch die älteren Beamten. Mit der eindringlichen Warnung, nie wieder junge Frauen zu belästigen, ließen sie ihn laufen.

Unweit des Fabriktores befand sich eine Kneipe, in der die Arbeiter abends ihren Durst zu löschen pflegten. Wilhelm gewöhnte es sich an, hier nach der Arbeit einige Glas Bier zu trinken. Auch in der Kneipe sah er sich den Schikanen der übrigen ausgesetzt, die ihn teils auslachten, teils herumkommandierten und ihn auf jede nur denkbare Weise schurigelten.
Ein ehemaliger Arbeiter der Fabrik namens August Ringsdorff, der sich inzwischen im Ruhestand befand, pflegte seine Abende im Kreis der alten Kollegen in der Kneipe zu verbringen. Ringsdorff galt als geistige Koryphäe im Kreis der Arbeiter, seine Meinung war in Streitfällen gefragt. Verstand einmal einer der Arbeiter ein Fremdwort nicht, dann konnte Ringsdorff ihm mit Sicherheit die Bedeutung des Wortes erklären. Zu den Dingen des politischen und öffentlichen Lebens äußerte er stets eine Ansicht, die durchdachter war als die der anderen. Manchen Abend ergriff er das Schachbrett, das sich in einer Truhe unter dem Fenster befand, und spielte eine Partie gegen einen der Jüngeren. Dabei hatte er in all den Jahren, die er nun schon diese Kneipe besuchte, noch kein einzigesmal verloren. Das Brett mit dem auffälligen Muster und die verschiedenartigen Figuren, von denen jede nach einer eigenen Regel über das Feld bewegt wurde, übten eine große Anziehungskraft auf Wilhelm aus. Oft stand er hinter dem Alten und sah zu, wie Ringsdorff eine Partie nach der anderen gewann. Er hörte die Spieler „Schach“ und „Gardez“ sagen und begriff, daß sie einander damit warnten.
Als der Alte eines Abends mit aufgestellten Figuren, doch ohne Gegner, an dem Brett saß, sah Wilhelm seine Zeit gekommen. „Spielen Sie gegen mich?“ fragte er Ringsdorff, um im gleichen Moment wegen seiner Kühnheit puterrot anzulaufen.
„Kannst du denn überhaupt spielen?“ fragte Ringsdorff zurück. Die an Wilhelm gerichteten Hänseleien der anderen waren ihm nicht entgangen. Sollte dieser Ausbund an Unbegabtheit wirklich in der Lage sein, Schach zu spielen?
Es stellte sich heraus, daß Wilhelm durch schieres Beobachten der Partien Ringsdorffs tatsächlich die Regeln des Spiels erlernt hatte. Dies betraf allerdings ausschließlich die Grundregeln, also die Art und Weise, wie die Figuren bewegt wurden. Ihm fehlte jegliche Spielerfahrung, und das kam in seiner Eröffnung zum Ausdruck. Wie jeder Anfänger irgendwann eröffnete er mit dem Turmbauern und brachte die schwerfälligen und zum Beginn ungeeigneten Türme ins Spiel.
Die anderen waren auf die beiden Spieler aufmerksam geworden und bildeten einen Kreis um die Kontrahenden. Es fehlte nicht an spöttischen Kommentaren. Auch Wilhelms Vater trat heran und beobachtete seinen Sohn, den der alte Ringsdorff in wenigen Zügen mattsetzte.
Um die Niederlage Wilhelms vollständig zu machen, spendierten ihm die anderen voll hämischer Herablassung ein Bier. „Damit du es dir nicht so zu Herzen nimmst“ war ihr Kommentar, mit dem sie ihm das Glas auf den Tisch stellten. Der war indes den Spott gewöhnt und überhörte ihn.
Jede andere Niederlage hätte er widerstandslos weggesteckt, war doch jeder seiner Tage voller Demütigungen. Er war von Kindheit an daran gewöhnt, anderen namentlich auf geistigem Gebiet nichts entgegensetzen zu können. Ein Eisbär, der die Kälte nicht erträgt, geht zugrunde, und so hatte Wilhelm schon aus purem Selbstschutz jeglichen Ehrgeiz abgestreift. Doch diese Niederlage, so unabwendbar sie bei einem völlig unerfahrenen Spieler wie ihm auch gewesen sein mochte, wurmte ihn und beschäftigte ihn immer noch, als er nachts unter seine Decke kroch.
Den folgenden Tag war er schweigsam und in sich gekehrt, scherte sich noch weniger um die Hänseleien der anderen und verrichtete seine Arbeit. Der Meister brüllte Wilhelm wegen einer Lappalie an. Sogar Wondratschek sah sich genötigt, seinen Sohn in Schutz zu nehmen, doch der schien über den Dingen zu stehen.
Kaum verkündete die Werksglocke das Ende der Schicht, schon stand er im Waschraum, um sich von Schmutz und Ruß zu reinigen. Dann schlüpfte er in seine Kleidung und ging in die Stadt. Erst spät am Abend traf er im heimischen Dorf ein, unter dem Arm ein Paket. Er hatte ein Schachspiel gekauft, hütete seinen Schatz jedoch wie seinen Augapfel und zeigte ihn niemandem, auch seinen Eltern nicht. Statt in die Kneipe zu gehen, fuhr er nun abends mit dem ersten Zug nach Hause, schlang sein Abendessen hinunter und schloß sich danach in seinem Zimmer ein. Dort baute er die Figuren auf und brütete mitunter stundenlang über einer Stellung. Mit der Zeit wurden ihm die vierundsechzig Felder des Bretts vertraut wie etwa vierundsechzig Schüler einer Klasse, von denen jeder seine Eigenheiten hat. Mit jedem Feld verband er besondere Vorstellungen, jedes Feld löste spezifische Assoziationen bei ihm aus.
Als ihm die Eltern mit neugierigen und zuletzt sogar besorgten Fragen ob seiner abendlichen Beschäftigung zuzusetzen begannen, zog er zu Hause aus und nahm sich ein Zimmer in einer elenden Arbeiterunterkunft. Dort scherte sich niemand darum, was er des Abends trieb, und abgesehen davon, daß ihn gelegentlich betrunkene Mitbewohner drangsalierten, störte ihn niemand.
Ein Vierteljahr nach seiner Niederlage gegen Ringsdorff betrat er zum erstenmal wieder die Kneipe. Wieder saß der Alte an seinem Brett und wartete auf einen Gegner. Als er Wilhelm sah, hob er einladend die Hand.
„Setz´ dich her zu mir, Wilhelm, und spiel´ eine Partie mit mir“ sagte er. Wieder erwartete er, das Spiel in wenigen Zügen zu gewinnen, sah sich jedoch getäuscht. Was Wilhelm bot, waren nicht die täppischen Versuche eines Anfängers, das königliche Spiel zu meistern, sondern die wohldurchdachten Züge eines Gegners, der eine scharfe Klinge führt. Ringsdorff sah sich genötigt, sein Spiel sorgfältiger zu planen und geriet in Bedrängnis.
Wieder traten die anderen hinzu, doch der beabsichtigte Spott wollte nicht gelingen, drückte doch das Gesicht des Alten alles andere als kühle Überlegenheit aus. Nach einer Dreiviertelstunde setzte Wilhelm den Alten mit einer eleganten Kombination matt. Ringsdorff blieb mit auf das Brett gehefteten Augen sitzen und durchdachte noch einmal seine letzten Züge. Dann sah er auf. Er lächelte.
„Das hast du gut gemacht“ sagte er mit ehrlicher Anerkennung, und in diesem Moment hätte man in der für gewöhnlich lärmerfüllten Kneipe eine Stecknadel fallen hören können. Daß der allseits verachtete Wilhelm Wondratschek den alten Ringsdorff, dessen geistige Überlegenheit von niemand in Zweifel gezogen wurde, in dessen ureigenster Domäne geschlagen hatte, war unerhört. Betreten sahen die Arbeiter einander an.
„Ich bin einmal ein ganz passabler Vereinsspieler gewesen“ fuhr Ringsdorff fort. „Wenn du willst, dann trainiere ich dich. Vielleicht schaffst du es bis in die Bezirksmeisterschaften. Komm´ mit mir nach Hause, ich habe dort einiges, was ich dir zeigen möchte.“
Die Wohnung des Alten, zwei Zimmer mit schiefen Wänden in einer ärmlichen Wohnsiedlung, war vollgestopft mit Erinnerungen an Schachturniere vergangener Tage. Da gab es Wimpel und Trophäen, Schachspiele mit kunstvoll geschnitzten Figuren, Fotos der siegreichen Spieler – sogar ein Foto des berühmten Steinitz war darunter, gegen den Ringsdorff einmal in einem Simultanturnier gespielt hatte – und es gab vor allem eins: einen schier unerschöpflichen Schatz an Fachliteratur. Es gab Bücher über Eröffnungstheorie, über die Bedeutung des Bauernskeletts für die positionelle Stärke und über die Finessen des Endspiels. Und diese Bücher waren von keinen Geringen geschrieben. Der alte Großmeister Karl Steinitz war unter den Autoren, ebenso Alexander Aljechin, das russische Schachgenie, sowie Dr. Siegbert Tarrasch.
Wilhelm erfuhr zum erstenmal von einer ihm bis dahin völlig unbekannten Welt. Er hörte die Namen der Koryphäen, er erfuhr, daß unter den Großen des Spiels ein Weltmeister ermittelt wurde und daß diese Schachspieler angesehene und geachtete Männer waren. Die Fachbücher wurden für ihn zu einem unverzichtbaren Teil seiner Ausbildung. Er hätte sich nicht träumen lassen, daß wertvolle Tips, für jeden verfügbar, festgehalten worden waren, konnte kaum glauben, daß Bücher, die für ihn seit jeher ein Quell des Mißvergnügens gewesen waren, ihm nunmehr nützten. In der Folgezeit suchte er die Buchhandlungen Friedbergs und Frankfurts nach brauchbarer Literatur ab. Er fiel dort auf durch seine unbeholfenen, aber hartnäckigen Nachfragen. Er brauchte Wochen, um zu begreifen, daß man ein Buch bestellen konnte, wenn es in einer Bücherei nicht vorrätig war. Dann gab es für ihn kein Halten mehr. Was er von seinem Lohn erübrigen konnte, investierte er in Fachbücher.
In der Gießerei begegnete man ihm jetzt mit Respekt. Setzte er sich mittags an den Tisch, dann machten ihm die anderen bereitwillig Platz. Seine tölpelhafte Art übersahen sie. Es kam sogar der Vorschlag auf, ihn in den Betriebsrat zu wählen, der nach einem jüngst verabschiedeten Gesetz zu bilden war. Der Vorschlag setzte sich jedoch wegen seiner völligen Verkennung der geistigen Kräfte Wilhelms nicht durch.
Ringsdorff war ein unerbittlicher Lehrmeister. Er scheute sich nicht, eine Eröffnung fünfzig- oder einhundertmal durchzuspielen und jede Variante, jeden positionellen Aspekt bis zum Erbrechen zu wiederholen. Solange er nicht den Eindruck hatte, das Wilhelm eine Lektion bis ins letzte Detail begriffen und geistig durchdrungen hatte, gab er keine Ruhe. Bis hin zur eigenen völligen Erschöpfung formte und drillte er seinen jungen Freund.
Wilhelm war ein begieriger Schüler. Mit unerschöpflicher Konzentration saß er an dem Brett, spielte durch, wozu Ringsdorff ihn aufforderte, durchdachte die Varianten und tränkte seinen Geist mit Schachwissen. Ringsdorff sah das ungeheure Talent Wilhelms, sah, daß dieser ihn weit überflügeln würde, sparte jedoch mit Lob, weil er den jungen Charakter zu verderben befürchtete. Oft ranzte er ihn an, wenn er der Meinung war, Wilhelm strenge sich zu wenig an, ließ mehr die Peitsche als das Zuckerbrot regieren.
„Du mußt nicht glauben, daß du das Spiel bereits beherrschst“ pflegte er zu sagen. „Ihr jungen Leute meint immer, ihr gewinnt ein oder zwei Partien, und gehört bereits zu den Großen. Weißt du, was ein Spieler wie Aljechin leisten kann? Der spielt blind und simultan gegen zwanzig Leute, und gewinnt.“
Wilhelm hörte mit offenem Mund zu. „Was heißt das, blind und simultan spielen?“ fragte er.
„Das heißt, Aljechin spielt gegen zwanzig Gegner gleichzeitig, und zwar, ohne die Bretter zu sehen“ entgegnete Ringsdorff. „Das ist eine geistige Leistung, die du Grünschnabel noch nicht erbringst, und es ist fraglich, ob du es je schaffst. Sei froh, wenn du bis in die Bezirksmeisterschaften kommst.“
Damit griff er nach dem Buch über Eröffnungstheorie, das er in der Hand gehalten und beiseite gelegt hatte, um in der Lektion fortzufahren. Wilhelm saß mit offenen Augen träumend da.
„Durchs Tagträumen ist noch keiner zum Meister geworden“ tadelte ihn Ringsdorff. „Komm jetzt, mein Junge, fahren wir fort.“
Statt zu tun, was ihm geheißen, erhob sich Wilhelm und setzte sich auf einen Schemel in die Ecke des Zimmers. „Den Damenbauern auf d4“ sagte er.
Ringsdorff lachte kurz auf. „Ich glaube, dir ist da was zu Kopf gestiegen“ sagte er. „Komm jetzt, mein Junge, und mach keinen Quatsch. Die Zeit ist zu wertvoll.“
„Den Damenbauern auf d4“ wiederholte Wilhelm hartnäckig. Ringsdorff war verblüfft, hatte er doch noch niemals Widerstand von seinem Schüler erfahren. Dann tat er Wilhelm seinen Willen.
„Den Damenbauern auf d5“ bekundete er seinen Gegenzug. Wilhelm saß, vom Brett abgewandt, in der Ecke des Zimmers und schirmte seine Augen mit der Hand.
„Den Springer auf c3“ sagte Wilhelm. Ringsdorff vollführte die Züge, die Wilhelm mit klarer Stimme verkündete, und teilte ihm seine Gegenzüge mit. Zu Ringsdorffs Verblüffung schien Wilhelm die Stellung wirklich im Kopf zu haben, selbst nach einem Dutzend Zügen war keinerlei Konfusion bei ihm festzustellen. Seine Züge waren präzise und durchdacht. Er zermürbte Ringsdorff mit seinem Positionsspiel. Nach einer Stunde warf der seinen König um.
„Das war wirklich eine reife Leistung“ konnte er nicht umhin, seinem Erstaunen Ausdruck zu verleihen, um dann fortzufahren: “Aber du mußt dir nichts darauf einbilden. Bis zur Meisterschaft ist es noch ein langer und harter Weg.“
Wilhelm erwiderte nichts. Mit leuchtenden Augen setzte er sich zu Ringsdorff, um sich von ihm in weitere Mysterien der Eröffnungstheorie einweihen zu lassen.

In zumindest einer Hinsicht unterschied sich die nunmehr herrschende Weimarer Republik nicht von dem vergangenen Kaiserreich: auch sie forderte von den jungen Männern im Lande die Ableistung eines Wehrdienstes. Wilhelms achtzehnter Geburtstag kam heran, und kurze Zeit später erhielt er die schriftliche Aufforderung, sich zur Musterung einzufinden.
Die Musterung fand statt in einer alten, ausgedienten Turnhalle in Bad Nauheim. Rund einhundert junge Männer waren erschienen, um sich auf ihre Tauglichkeit für den Militärdienst untersuchen zu lassen. Zur damaligen Zeit galt Untauglichkeit als Makel; Angehörige des Militärs, zumal Offiziere, waren gesellschaftlich hoch angesehen. So mancher der jungen Männer, die sich in den Umkleidekabinen der Turnhalle ihrer Kleidung entledigten, machte sich Hoffnungen auf eine Militärkarriere. Da gab es wackere Bäcker- und Metzgergesellen, die mit dem bunten Rock liebäugelten, und es gab Gescheiterte, die im Dienst am Vaterland ihre letzte Chance sahen. Darunter waren aber auch Studenten und Schüler höherer Lehranstalten, für die der Militärdienst nur eine unangenehme Unterbrechung ihrer Ausbildung war und die sich auf ein Leben als Ärzte, Richter oder Apotheker vorbereiteten.
Wilhelm erntete bereits bei seinem Eintreffen spöttische Blicke, man machte einander auf ihn aufmerksam. Isoliert saß er unter den anderen herum, nackt wie sie, und vermochte sich nicht an den altklugen Gesprächen zu beteiligen.
Am Kopfende der Halle hatte man einige Tische hingestellt, auf denen sich das medizinische Gerät befand. Die Untersuchung genügte nach heutigen Begriffen noch nicht einmal Minimalanforderungen. Man hörte die Männer mit dem Stethoskop ab, ließ sie ein paar gymnastische Übungen machen und maß danach den Puls.
Nackt in einer Reihe mit hundert anderen wurden jedem die gleichen peinlichen Fragen gestellt. Die demütigende Gleichmacherei, das Erforschen und Bloßstellen intimster Geheimnisse war typisch für die Rolle des Militärs zur damaligen Zeit, dessen Angehörige glaubten, sich jede Freiheit leisten zu können.
Anwesend waren zwei Amtsärzte, ein alter, im Dienst ergrauter, und ein junger, sowie ein Sanitäter zum Messen des Pulses. Die Reihe kam an Wilhelm.
„Name?“ fragte der alte Arzt. Wilhelm reagierte nicht.
„Ich möchte Ihren Namen wissen, junger Mann“ sagte der Arzt nun in schneidendem Ton, und Wilhelm zuckte zusammen.
„Wondratschek, Wilhelm“ antwortete er, allerdings so leise, dass der Arzt nicht verstand, oder vorgab, nicht zu verstehen. Er legte die Hand an die Ohrmuschel und sagte in widerlich freundlichem Ton: „Vielleicht wiederholen Sie Ihren werten Namen noch einmal. Aber nur, wenn es Ihnen Spaß macht.“
Wilhelm stand stocksteif da, vor Verlegenheit puterrot im Gesicht. Die übrigen grinsten. Daß dieser Ausbund an Trotteligkeit keine Aussichten auf den bunten Rock hatte, war nur zu offensichtlich, und diese Gewissheit tat der eigenen Unsicherheit wohl
Der junge Arzt räusperte sich. „Herr Kollege, der Mann hat anscheinend ein Problem. Im übrigen habe ich seinen Namen verstanden, er heißt Wondratschek.“
Der Alte maß ihn mit einem unfreundlichen Blick. „Nun, gut. Wondratschek, kommen Sie doch einmal her zu mir.“
Er dirigierte den Widerstrebenden auf den Platz neben sich. Wilhelm begriff nicht, dass er mit dem Stethoskop abgehört werden sollte, und sperrte sich gegen den Griff des Arztes. Der wollte vor Wut schier platzen, beherrschte sich jedoch und nahm die Untersuchung vor.
„Innerlich fehlt Ihnen nichts“ brummte er. Er maß Wilhelm von Kopf bis Fuß. „Sie sind groß und kräftig, wo arbeiten Sie?“
„In einer Eisengießerei in Friedberg“ kam es pflichtschuldigst von Wilhelm.
„In einer Eisengießerei“ wiederholte der alte Arzt. „Offensichtlich sind sie gesund. – Tauglich.“
Damit gab er dem Nächsten in der Reihe ein Zeichen, vorzutreten, doch der junge Arzt war noch nicht fertig mit Wilhelm.
„Herr Wondratschek, bilden Sie doch einmal einen sinnvollen Satz mit den drei Wörtern ‚Jäger’, ‚Hase’ und ‚Feld’“.
Daß es der junge Arzt gut mit ihm meinte, war Wilhelm nicht entgangen, doch er begriff nicht im Entferntesten das an ihn gestellte Anliegen, noch war er imstande, die Aufgabe zu lösen. Er stand nur da und sah die beiden Ärzte aus weit aufgerissenen Augen an.
„Herr Kollege“ meinte nun der junge Arzt, „der Mann ist anscheinend debil. Das schließt meines Erachtens eine Tauglichkeit für den Militärdienst aus.“
Die Zimperlichkeit, die mit jungen Ärzten wie seinem Kollegen in den Militärdienst Einzug gehalten hatte, war dem Alten zutiefst verhasst. Doch er beherrschte sich, zwang sich zu einem verbindlichen Ton.
„Nicht jeder Rekrut braucht einen Doktortitel, Herr Kollege“ entgegnete er. „Der Mann ist gesund und kräftig, Sie hören es selbst, er arbeitet in einer Eisengießerei. Er wird dem Vaterland mit Sicherheit dienlich sein können. – Tauglich! Der Nächste!“
Damit trat der hinter Wilhelm Stehende an den Tisch und schob den Zaudernden einfach fort. Auch der Arzt, der Wilhelm hatte helfen wollen, verstummte nun.

Ringsdorff blieb gelassen.
„Dann gibt es eben eine Unterbrechung in deiner Ausbildung“ sagte er. „Da können wir nichts machen, da mußt du durch.“
Im Herbst des Jahres neunzehnhundertunddreiundzwanzig wurde Wilhelm zum Militärdienst eingezogen. Stationiert wurde er in einer Kaserne unweit Frankfurts, so dass er wenigstens an den Wochenenden zu Ringsdorff fahren konnte.
Der Dienst erwies sich für Wilhelm als schlimmer denn er befürchtet hatte. Die Grundausbildung während der ersten Wochen verlangte ihm das äußerste ab. Weder brachte er es zustande, in eine in Reih und Glied stehende Formation aufzuschließen, noch hielt er einen Gleichschritt mit anderen auch nur halbwegs durch. Der Schießunterricht schließlich wurde vollends zur Qual für den völlig Verängstigten, der vor schierer Anbrüllerei durch seine Vorgesetzten nicht mehr aus noch ein wusste.
Schlimmer noch als der Zorn seiner Vorgesetzten wurde für ihn der Unmut seiner Kameraden, die nach typischer Militärlogik unter seiner Ungeschicklichkeit zu leiden hatten. Immer wieder geschah es, dass die ganze Kompanie strafexerzieren musste, weil Wilhelm seine Lektion mal wieder nicht begriffen hatte.
„Schleift ihn zurecht!“ Diesen Ratschlag hatte der Feldwebel mehr als einmal gegeben, getreu der Devise, dass am Versagen eines einzelnen die Gruppe schuld ist. Des öfteren bezog Wilhelm abends im Schlafraum Prügel. Mitleid mit ihm hatte alsbald keiner mehr. Wenn man selbst geschurigelt wird, weil einer zu dumm ist für den Dienst, vergeht das Mitgefühl mit dem Ungeschickten.
Sein nervlicher Zustand gab Ringsdorff Anlaß zur Sorge. „Der Dienst dauert ja nur zwei Jahre“ sagte er manchesmal begütigend, wenn Wilhelm voller Angst bei ihm auftauchte. „Danach kannst du ein ganzes Leben lang Schach spielen.“
Eines Abends suchte ein Leutnant einen Schachpartner. Sein üblicher Gegner, ein Major, lag mit einer Amöbenruhr auf der Krankenstation, geplagt von Bauchkrämpfen und verschmiert mit Exkrementen. Der Leutnant zeigte sich äußerst amüsiert, als der für seine schier unglaubliche Trotteligkeit bekannte Wondratschek sich als Gegner anbot.
„Sie wollen mit mir Schach spielen“ fragte er, wobei der Hohn ihn über das ganze Gesicht feixen ließ. Wilhelm blieb gelassen.
„Wissen Sie denn überhaupt, wie ein Schachbrett aussieht?“
„Sie können mich ja einmal auf die Probe stellen.“
Mit dieser Antwort bewies er mehr Intelligenz, als der Leutnant ihm zugetraut hätte. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, gegen Wondratschek zu spielen, es gab sicherlich Gelegenheit, sich zu amüsieren.
„Na schön“ sagte er also, „kommen Sie mit.“ Damit ließ er Wilhelm in das Offizierskasino eintreten, eine Ehre, die Wilhelm einen hochroten Kopf bescherte.
Drinnen saßen vier oder fünf Offiziere, die bei Wilhelms Eintreten den Kopf wandten und konsterniert dreinschauten.
„Ich habe einen neuen Schachpartner“ gab der Leutnant grinsend zu verstehen. Nach und nach begriffen die anderen, und grinsten ebenfalls.
„Da bin ich aber gespannt, wer gewinnt“ sagte einer, und die anderen lachten. Wilhelm erhielt Weiß und eröffnete mit dem Königsbauern. Bereits dass er in der Lage gewesen war, die Figuren korrekt aufzustellen und offensichtlich auch wusste, wie gezogen wurde, hatte für Erstaunen unter den Offizieren gesorgt.
Der Leutnant hatte viel gehört von der Variante der sizilianischen Verteidigung und antwortete mit dem entsprechenden Bauernzug. Wenn er nun erwartet hatte, seinen Gegner, den er nicht für voll nahm, innerhalb weniger Züge matt zu setzen, dann hatte er sich getäuscht. Wilhelm zog, ohne lange nachzudenken, denn der Leutnant war kein vollwertiger Gegner für ihn. Nach einer kurzen Partie war Wilhelm der Sieger.
Der Leutnant saß mit offenem Munde da und studierte das Brett. „Alle Achtung“ sagte er dann. „Das Schachspiel beherrschen Sie, wenn Sie auch sonst...“ Er ließ den Satz unbeendet. Auch die übrigen Offiziere zeigten sich äußerst beeindruckt.
„Welchen Fehler hat er gemacht, Wondratschek?“ fragte einer.
„Der Fehler lag im achten Zug“ antwortete Wilhelm. „Der Herr Leutnant hat mit dem Springer gezogen, besser gewesen wäre ein Bauernzug.“
Er schien die komplette Partie im Kopf zu haben, denn er baute die entsprechende Stellung aus dem Gedächtnis wieder auf.
„Sehen Sie“ sagte er und ergriff den schwarzen Springer. „Diesen Zug hat der Herr Leutnant gemacht.“
Er vollführte den Zug und demonstrierte anschließend die Wirkung des von ihm empfohlenen Bauernzuges. Ehe sich die Offiziere vorsahen, hielt ihnen Wilhelm einen Vortrag über moderne Schachtheorie, dass ihnen der Kopf zu rauchen begann.
„Wondratschek“ unterbrach ihn einer, „hätten Sie denn ein paar Tipps für uns? Vielleicht eine wirklich gute Eröffnung?“
Den Rest der Nacht verbrachte Wilhelm damit, den Offizieren eine Reihe von Eröffnungsfallen beizubringen. Damit schindeten sie in der Folgezeit Eindruck bei ihren Kameraden. Sie bewiesen ihre Dankbarkeit, indem sie Wilhelm von allen Verpflichtungen befreiten. Der verließ von nun an die Kaserne nach dem Morgenappell und fand sich erst kurz vor Zapfenstreich wieder ein. Den Tag verbrachte er schachspielend bei Ringsdorff.

Ringsdorff hielt ihn nunmehr für reif, gegen einen Vereinsspieler anzutreten. In einem Frankfurter Lokal mit dem seltsam anmutenden Namen „Löwen“ trafen sich jeden Samstag die stärksten Spieler des Rhein-Main-Gebietes, und in dieses Lokal führte der Alte seinen Schützling an einem Samstag im Juni des Jahres neunzehnhundertundfünfundzwanzig. Es war früher Nachmittag, als sie eintrafen, noch war kein Spieler da. Ein paar Gäste saßen biertrinkend am Tresen und betrachteten Wilhelm teils neugierig, teils belustigt. Ringsdorff wartete, bis ein Dutzend Schachspieler anwesend war, und zwei oder drei Partien gespielt wurden. Einen der Spieler kannte er von früher.
„Hallo, Mertens“ begrüßte er den anderen, der den Blick vom Brett hob. „Hallo, Ringsdorff“ grüßte Mertens, um mit einem Blick auf Wilhelm zu fragen:“ Wen hast du da?“
„Einen jungen Freund, der einmal zeigen möchte, was er kann“ antwortete Ringsdorff. „Was ist, hast du Lust, gegen ihn anzutreten?“
Mertens musterte Wilhelm erneut. „Warum nicht?!“ sagte er. „Er sieht zwar aus, als könnte er nicht bis drei zählen, aber wenn du ihn mir als Gegner vorschlägst, kann er so schlecht nicht sein. Wartet, bis ich hier fertig bin.“
Wilhelm setzte sich hinzu, und beobachtete schweigend das Spiel von Mertens. Der gewann seine Partie und wies mit einer einladenden Handbewegung auf den Platz ihm gegenüber. Wilhelm setzte sich und erhielt Schwarz. Er brauchte nur eine Stunde, um Mertens mit seinem Bauernspiel zu zermürben. Der lehnte sich in seinem Stuhl zurück, stützte die Hände auf die Schenkel und sah Wilhelm einigermaßen fassungslos an.
„Wie heißt du, mein Junge?“ fragte er. Wilhelm nannte seinen Namen, es war das erstemal, daß er in dem Lokal sprach. Bereits mit dieser kurzen Antwort wurde seine geistige Behinderung offenbar, und die umstehenden Spieler tauschten Blicke miteinander. Nur Mertens blieb gelassen.
„Was auch immer du in deinem Kopf hast, Wilhelm“ sagte er, „zum Schachspielen taugt es hervorragend, und das ist es, worum es hier geht. Komm, spiel´ noch eine Partie mit mir.“
Wieder gewann Wilhelm, und jetzt forderte ihn einer der anderen Spieler heraus. Am Abend galt Wilhelm als die Entdeckung des Jahres. Er hatte ein Dutzend Partien gespielt, und alle gewonnen. Errregt saßen die alten und erfahrenen Spieler in einem Kreis um Wilhelm und Ringsdorff und diskutierten die unerhörten Ereignisse des Tages. Ringsdorff strahlte vor Stolz auf seinen Schützling.
„Er muß gegen Aljechin spielen“ sagte plötzlich einer der Spieler, und die anderen stimmten begeistert zu. Stimmengewirr erfüllte die Runde. „Aljechin spielt simultan im ‚Hessischen Hof‘“ sagte Mertens erklärend zu Ringsdorff. „Heute in zwei Wochen. – Da kann Wilhelm zeigen, was er kann.“
Dies ging dem Alten entschieden zu schnell. Noch hielt er Wilhelm nicht für reif genug für eine solche Herausforderung. Doch eine Absage wäre als Feigheit gewertet worden. Darum gab er sein Einverständnis.
„Das wird ein harter Gang, mein Junge“ sagte er.

In den kommenden zwei Wochen wich Ringsdorff nicht in der geringsten Kleinigkeit von seiner Ausbildung Wilhelms ab. Wilhelm hatte bislang eine hervorragende Betreuung erfahren, warum also sollte er etwas an seinem Programm ändern?! Ringsdorff schlief schlecht in dieser Zeit, beim Gedanken an das Turnier spürte er Panik in sich aufsteigen. Er war aufgeregt, er wünschte sich einen Sieg Wilhelms mehr als er sich den in seiner aktiven Zeit für sich selbst gewünscht hätte.
Wilhelm hingegen blieb ruhig. In seiner Welt gab es keine Prominenz, ein Name wie ‚Aljechin‘ ließ ihn unbeeindruckt. Wohl wußte er, daß dieser Mann einer der Großen des Schachspiels war, und wohl eiferte er ihm nach, aber er wußte nicht, was ein Sieg über einen solchen Mann bedeutete.
Das Turnier wurde in Frankfurt inzwischen durch Plakate angekündigt. Aufregung hatte sich des schachspielenden Teils der Bevölkerung bemächtigt, wiewohl dies eine Zeit war, in der die Großen des Schachspiels gefeiert wurden und bekannt waren wie heute etwa Filmstars. Das Turnier versprach eines der großen Ereignisse des Frühsommers zu werden und zog Journalisten an wie sonst nur politische Großereignisse. Die Gassenjungen schrien den Namen Aljechins in allen Tonlagen, ganz Frankfurt summte wie ein Bienenkorb in Erwartung des Ereignisses.
Ringsdorff meldete Wilhelm den Regeln entsprechend beim Veranstalter als Teilnehmer des Turniers an, Wilhelm setzte seine ungelenke Unterschrift in eine Rubrik einer Liste. Ein Preisgeld von zwanzig Reichsmark war zu entrichten, das Ringsdorff gerne aus seiner Tasche bezahlte.
Aljechin wurde in einem Wagen mit getönten Scheiben zum Ort des Turniers gefahren. Er war ein untersetzter Mann mit einem runden Gesicht.
In dem Nobelrestaurant hatte man längs der Wände Tische mit Schachbrettern aufgestellt, an denen die Teilnehmer des Turniers Platz nahmen. Der Veranstalter trat heran und begrüßte Aljechin und seine Gegner. Im Lokal waren Stühle für die Zuschauer aufgestellt worden, einige Zeitungsreporter befanden sich darunter. Ringsdorff bemerkte, daß man einander auf Wilhelm aufmerksam machte, der durch seine linkische Art auffiel.
Aljechin trat an den ersten seiner Gegner heran, grüßte durch eine knappe Verbeugung, überließ dem anderen die Wahl zwischen Schwarz und Weiß und machte seinen ersten Zug. In der gleichen Weise fuhr er fort, bis er, nach einer guten Viertelstunde, seine erste Runde beendet hatte.
Ringsdorff saß unter den Zuschauern und fieberte jedem Zug Aljechins entgegen, wenn dieser an das Brett Wilhelms trat. Wilhelm hielt sich hervorragend, seine große Stärke war sein Positionsgefühl und seine Fähigkeit, durch zähes Ringen einen Stellungsvorteil zu erkämpfen. Ein Spieler wie Aljechin war, wenn überhaupt, nur auf diese Weise zu besiegen. Nach einem Dutzend Zügen hatte Wilhelm einen eindeutigen Vorteil errungen. Ringsdorff wagte kaum, zu atmen, sah den Russen näherrücken. Dann trat Aljechin an das Brett Wilhelms, sah, daß er im Nachteil war, war gezwungen, an dem Brett zu verharren, und schien verunsichert. Dann schließlich rückte er eine Figur, gab sie jedoch erst spät und nach nochmaligem Nachdenken aus der Hand.
Freudebang sah Ringsdorff die Verunsicherung des großen Mannes, spähte nach dem Brett und entdeckte zu seiner Bestürzung ein Zögern bei Wilhelm. Dieser schien den letzten Zug Aljechins nicht recht einschätzen zu können. Es gibt eine Partie des großen Russen, in der dieser, allen Schachregeln zum Trotz, zu Beginn seine Dame ins Spiel bringt, seinen Gegner ärgert und sie, nach drei Zügen und damit drei verlorenen Tempi, wieder zurück auf die Grundlinie zieht. Aljechin gewann dieses Spiel. Dieser letzte Zug schien genauso sinnlos zu sein, weder entwickelte er seine Stellung noch leitete er eine Kombination ein. Wilhelm antwortete mit einem Bauernzug. Dann zeigte sich die Tücke des Zuges, denn es gelang dem Russen, Wilhelms Stellung zu zerschlagen. Wilhelm schaffte als einer von zwei Spielern ein Remis und gehörte damit zu den besten des Tages, denn besiegt hatte Aljechin keiner der anderen.
Nur mühsam bekam Ringsdorff seine Enttäuschung in den Griff. Langsam erhob er sich und trat an den Tisch Wilhelms, nötigte sich ein Lächeln ab. „Nimm´s nicht so schwer“ sagte er mit wenig Überzeugung.
Die Reporter kamen heran, ein Fotograph schoß eine Aufnahme von Wilhelm. „Weshalb haben Sie das Manöver Aljechins nicht durchschaut?“ fragte einer der Reporter Wilhelm. Der antwortete nicht, sondern blickte Ringsdorff hilfesuchend an.
„Wilhelm Wondratschek ist ein noch sehr junger und unerfahrener Spieler, meine Herren“ sagte der an Wilhelms Stelle. „Sehen Sie ihm diesen Fehler bitte nach, in ein oder zwei Jahren passiert ihm das nicht mehr.“
„Warum antwortet Herr Wondratschek nicht selbst?“ fragte einer der Männer. Ohne zu antworten, schob Ringsdorff Wilhelm durch die Schar der Reporter und die gaffenden Zuschauer und verließ das Lokal.

Wilhelm nahm sich seine Niederlage sehr zu Herzen. In der Folgezeit tauchte er nur gelegentlich und für wenige Minuten bei Ringsdorff auf, aber nicht, um Schach zu spielen. Er saß dann schweigend herum, antwortete auf Fragen des Alten einsilbig und ging wieder.
Seine Wehrzeit ging zu Ende und damit stand er ohne Sold und ohne Auskommen da. In die Eisengießerei zurückzugehen, dazu hatte er keine Lust. Die Geldnot zwang ihn, an Preisturnieren in Frankfurt und Friedberg teilzunehmen, wo er ein gern gesehener Gast war. Man hatte sein Remis gegen Aljechin nicht vergessen. An seine unbeholfene Art hatten sich die Veranstalter gewöhnt.
Mit den Preisgeldern und dem, was ihm wohlhabende Frankfurter Bürger für eine Partie boten, konnte Wilhelm sein Leben fristen. Zwar gab keiner seiner Schüler, unter denen sich Industrielle und sogar ein Universitätsprofessor befanden, gerne zu, von einem Behinderten unterrichtet zu werden. Doch in den einschlägigen Kreisen galt Wilhelm als Geheimtipp. Er hatte durch das Remis gegen Aljechin und seine häufigen Siege in Frankfurter Schachclubs eine regionale Bekanntheit erlangt. Die Freude an dem Spiel war allerdings dahin, er spielte nur zum Lebensunterhalt und mit einer Art von finsterer Verkniffenheit.
Selbst Ringsdorff verlor in dieser Zeit den Glauben an ihn. Der Junge war eben doch kein Genie, ein unerhört tüchtiger und einfallsreicher Spieler zwar, der bei Bezirksmeisterschaften und in Schachclubs ordentlich abräumen konnte, aber kein Gegner für Aljechin. Daß er nun mit solcher Verstimmung reagierte und nur noch voll Unwillen spielte, paßte ins Bild. Seine eigene Enttäuschung machte Ringsdorff knurrig, er nahm seine Besuche in der Kneipe bei den früheren Kollegen wieder auf, saß jedoch zumeist alleine da, weil keiner mit dem unfreundlichen und groben Mann etwas zu tun haben wollte.

Ein Jahr verging. Man schrieb den Sommer des Jahres neunzehnhundertundsechsundzwanzig. Wilhelm wurde einundzwanzig und damit volljährig. Wenn er Resumee zog, war er alles andere als zufrieden. Immerhin, er konnte beruflich das tun, was er am besten konnte, und musste sich über keinen Chef und keinen Vorgesetzten ärgern. Doch er wurde von fast niemandem für voll genommen. Wo er auch auftauchte, erregte er Aufsehen durch seine linkische Art, und man begann, über ihn zu grinsen. Wilhelm war dieser Umstand nur zu bewusst, und er litt darunter.
Noch dazu fehlte ihm jede sexuelle Erfahrung. Bisher hatte er kein Mädchen für sich gewinnen können, und es war fraglich, ob er je eines finden würde. Dabei hatte Wilhelm starke sexuelle Wünsche. Im September schließlich fasste er sich ein Herz und sprach eine Hure an, die am Straßenrand stand. Die starrte den stotternden Jungen an und brach in Gelächter aus.
„Du willst mit mir gehen, Kleiner?!“ fragte sie feixend. „Geh nach Hause zu deiner Mutti, und laß mich in Ruhe. Warte, bis du trocken hinter den Ohren bist.“
Wilhelm in seiner Hilflosigkeit und seiner Wut ergriff sie am Arm. Der Zuhälter der Frau hatte die Szene aus einem Straßencafé heraus beobachtet und kam ihr zu Hilfe. Mit Schlägen und Tritten vertrieb er Wilhelm, noch lange schrie und schimpfte das Paar hinter ihm her.

Jetzt wäre er gerne zu Ringsdorff gegangen, um ihm sein Herz auszuschütten, traute sich jedoch nicht mehr zu ihm, weil er sich so lange nicht mehr hatte blicken lassen. In seinem Elend begann er zu trinken.
Zunächst nahm er nur geringe Mengen Alkohol zu sich, abends vor seinen Spielen, um seine immer stärker werdende Depression zu überwinden. Nach einigen Monaten reichten diese geringen Mengen nicht mehr aus. Er stellte fest, dass er die Dosis steigern musste, um bei seinen Preiskämpfen über die Runden zu kommen. Hatte er einmal nicht genügend Alkohol im Blut, dann geriet er in Bedrängnis. Er begann zu schwitzen und unruhig zu werden, war nicht mehr in der Lage, sich zu konzentrieren. Bei einigen Partien war seine Leistung derart schwach, dass einige seiner Schüler ihr Geld zurückforderten.
Zu dieser Zeit hatte der Alkohol ihn bereits völlig im Griff. Im Sommer des Folgejahres fand ihn die Polizeistreife besinnungslos betrunken im Rinnstein. Man sperrte ihn in eine Ausnüchterungszelle. Als er wach wurde, konnte er das Zittern seiner Hände nicht unterdrücken und machte einen solch elenden Eindruck, dass man den Amtsarzt verständigte.
Der konstatierte fortgeschrittenen Alkoholismus und wies Wilhelm in die Trinkerheilanstalt ein. Die Wahl des Arztes fiel auf das Sanatorium von Professor Scharnhorst, und damit hatte Wilhelm zum erstenmal in seinem Leben Glück.
In älteren Einrichtungen pflegte man Patienten noch mit Kaltwassergüssen zu behandeln und sie in eine Zwangsjacke zu stecken, wenn sie tobsüchtig wurden. Scharnhorst behandelte mit neuentwickelten Medikamenten und den Methoden der Gesprächstherapie.
Wilhelm bekam zunächst ein Mittel, das sein Abgleiten ins Entzugsdelir verhindern sollte. Einige Tage hielt man ihn unter Beobachtung, bis der körperliche Entzug vorüber war. Das Personal behandelte ihn respektvoll und freundlich, an seiner Behinderung stieß sich niemand.
Dann erfolgte das erste therapeutische Gespräch. Wilhelm saß dem Arzt in einem freundlichen, hellen Raum gegenüber. Scharnhorst hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt und sah Wilhelm erwartungsvoll an.
„Erzählen Sie mir doch einmal, Herr Wondratschek, weshalb Sie trinken?“
Wilhelm erwiderte seinen Blick. „Schauen Sie mich doch an“ antwortete er. Damit bewies er eine ungeahnte Intelligenz.
Der Arzt antwortete nicht gleich, ließ die Antwort Wilhelms auf sich wirken. „Nun gut, Sie haben da ein Problem“ entgegnete er. „Wahrscheinlich haben Sie es bei Frauen nicht leicht, und auch sonst haben Sie es schwer, akzeptiert zu werden. Aber deswegen wirft man sein Leben nicht fort.“
Wilhelm schwieg.
„Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?“ fragte Scharnhorst.
„Ich spiele Schach“ entgegnete Wilhelm.
„Davon kann man leben?“
„Ja, wenn man einigermaßen gut ist. Ich gebe Unterricht.“
Jetzt fiel bei Scharnhorst der Groschen. „Der Wondratschek sind Sie?! Ich habe einen Bekannten, den Sie unterrichtet haben, und der berichtet wahre Wunderdinge von Ihrem Talent. Haben Sie nicht gegen Aljechin ein Remis geschafft?“
Wilhelm antwortete nicht, und Scharnhorst spürte, dass er einen neuralgischen Punkt berührt hatte. Eine Weile herrschte Schweigen.
„Ein Remis habe ich geschafft“ sagte Wilhelm dann. „Das war aber auch alles. Dabei hatte ich die Partie fast schon gewonnen.“
„Mein Gott, Wondratschek“ sagte Scharnhorst und lachte. „Ist das der Grund für Ihre Verzweiflung? Sie sind ein Schachspieler von Gottes Gnaden, einer der besten in der ganzen Region, das ist eine Tatsache. Wer, glauben Sie, schafft denn schon ein Remis gegen Aljechin?!“
Wilhelm nagte an seiner Unterlippe, ohne zu antworten.
„Gut“ sagte Scharnhorst, „von Ihrer Warte aus haben Sie recht. Sie vergleichen sich in puncto Schach nicht mit Hinz und Kunz, Sie vergleichen sich mit der Elite, und da haben Sie bis jetzt ein Spiel gespielt und ein Unentschieden erreicht. Warum spielen Sie nicht noch einmal gegen Aljechin? Warum spielen Sie nicht gegen Tarrasch oder Niemzowitsch? Wenn ich Ihr Talent hätte, dann würde ich etwas daraus machen, das können Sie mir glauben! Ich würde etwas daraus machen, statt mir mein Gehirn kaputt zu saufen.“
Das saß, und Wilhelm wandte nichts mehr ein. Zum erstenmal in seinem Leben erfuhr er persönliche Zuwendung, und die tat unerhört wohl. In weiteren Gesprächen baute der Arzt ihn weiter auf, stärkte sein angeschlagenes Selbstbewusstsein und hörte sich seinen Kummer wegen der Frauen an.
„Noch sind Sie jung, Herr Wondratschek, Sie finden noch ein Mädchen“ sagte er. „Vielleicht läuft sie Ihnen schon morgen über den Weg. Eine Garantie gibt es da nicht. Übrigens, wenn Sie selbstbewusst auf eine Hure zugehen, dann geht die auch mit Ihnen, das kann ich Ihnen versichern. Machen Sie sich nicht solche Sorgen.“
Einige Monate blieb Wilhelm in der Einrichtung des Professors. Noch war er nicht stabil genug, um dem Alkohol zu widerstehen, das spürte er genau. Außerdem wusste er nur zu genau, dass er jenseits der schützenden Mauern der Anstalt wieder dem täglichen Spießrautenlaufen ausgesetzt war, und das zu ertragen, fühlte er sich nicht stark genug. In der Parkanlage, die zum dem Sanatorium gehörte, machte er lange Spaziergänge. Langsam verlor die Welt ihren Schrecken für ihn. Die ausgestandenen Demütigungen verblassten.
Seine Behandlung wurde von der Wohlfahrt bezahlt, Scharnhorst hatte sich aus Interesse an seiner Person für ihn eingesetzt.

Im Frühjahr des Jahres neunzehnhundertundachtundzwanzig klopfte es an der Tür Ringsdorffs. Wilhelm stand draußen. „Komm rein“ sagte der Alte. „Du hast mich wohl doch noch nicht ganz vergessen.“
Wilhelm nahm Platz. „Wie ich höre, räumst du in Frankfurt recht gut ab“ sagte Ringsdorff. „Meine Mühe war anscheinend nicht völlig vergebens. – Was ist, mein Junge, was geht in dir vor?“
Wilhelm saß dem Alten gegenüber und schien etwas im Sinn zu haben, das er nur mühsam zurückhalten konnte. Er beugte sich vor.
„Ich werde Lasker schlagen“ sagte er. Ringsdorff sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
„Es freut mich, daß du dein Interesse an dem Spiel wiedergefunden hast“ sagte er schließlich. „Aber was, um alles in der Welt, läßt dich glauben, daß ein Spieler wie Lasker gegen dich antritt?! Und selbst, wenn wir dies annehmen, obwohl es gänzlich ausgeschlossen ist: Lasker würde dich vom Brett fegen, du hättest nicht die mindeste Chance gegen ihn.“
„Ich werde Lasker schlagen“ wiederholte Wilhelm. „Ich weiß, daß ich es kann.“

Dr. Emmanuel Lasker war ein universell talentierter und gebildeter Mann. Mit der Mathematikerin Emmi Noether entwickelte er einen Teil der zur Algebra gehörenden Ringtheorie. Er schrieb Dramen und Theaterstücke. Zur Zeit der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert hatte er, in ununterbrochener Abfolge und für den unerhörten Zeitraum von siebenundzwanzig Jahren, den Titel des Schachweltmeisters inne. Er deklassierte Schachgrößen wie Aljechin, Tarrasch und Niemzowitsch und fand zu seiner Zeit keinen vergleichbaren Gegner. Im Jahre neunzehnhundertundeinzwanzig verlor er in der tropischen Hitze Havannas seinen Titel an den zwanzig Jahre jüngeren Kubaner José Raùl Capablanca, doch bereits drei Jahre später, im großen Turnier von New York, rückte er die Verhältnisse zurecht. Er ging als Sieger aus diesem Turnier hervor, gefolgt von Capablanca und Aljechin.
Für das laufende Jahr war ein großes Turnier in Berlin geplant, an dem sämtliche Größen teilnehmen würden. Bei diesem Turnier würde Wilhelm sein Chance suchen. Mit unerschöpflicher Energie, Zähigkeit und Disziplin ging Wilhelm an die Vorbereitung des Kampfes, dessen Zustandekommen mehr als ungewiß war. Er konnte nicht einsehen, weshalb es ein Problem sein sollte, Lasker an das Schachbrett zu bekommen. In seiner Vorstellungswelt forderte man einen solchen Spieler heraus, und bekam irgendwann seine Chance.
Ringsdorff war verwirrt. Auf der einen Seite war er froh, daß Wilhelm seine Depression überwunden hatte, und förderte ihn gerne und nach Kräften. Der Junge war ein talentierter Spieler und sollte seine Fähigkeiten optimal entwickeln können. Doch was er sich jetzt als Ziel gesetzt hatte, war hirnverbrannt. Er war nicht in der Lage, die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens einzusehen. Für Lasker war er ein Niemand.
Wilhelm hatte in den Jahren, in denen er seinen Lebensunterhalt durch das Schachspielen verdient hatte, sehr viel an Erfahrung und Gerissenheit erworben. Mit dem Alten übte er täglich, vervollkommnete seine Kenntnis der Eröffnungstheorie, lernte ganze Partien der Großen auswendig.
Mit der Zeit begann Ringsdorff einzusehen, wie ernst es Wilhelm mit seinem Vorhaben war. Mehr noch, er begann sich zu fragen, ob der Junge nicht wirklich eine Chance gegen Lasker haben würde. Was Wilhelm bot – davon konnte der Alte sich jeden Tag überzeugen – war Schach der Spitzenklasse, und ein Gegner für ihn war er, Ringsdorff, schon lange nicht mehr. Eins war gewiß: er würde in den wenigen Jahren, die ihm noch blieben, kein zweites Talent wie Wilhelm mehr treffen. Warum sollte er dann nicht das seine tun, und Wilhelm einen Kampf gegen Lasker verschaffen?! Eine Teilnahme an dem Turnier war nicht mehr möglich, die Ausscheidungskämpfe waren längst vorüber, und dieTeilnehmer standen fest. Doch ein Kampf außer Konkurrenz, ein Kampf eines Außenseiters gegen den Heros, der war möglich, und er würde gewiß sehr viel Aufmerksamkeit erregen.
Im Juli, sechs Wochen vor Beginn des Turniers, quartierten Ringsdorff und Wilhelm sich in einem Berliner Hotel ein. Ringsdorff hatte sich über die Berliner Schachszene informiert und kannte die besten Schachlokale. Anzogen durch den bevorstehenden Kampf hatten sich sehr viele hervorragende Spieler in der Stadt eingefunden, die am Abend die bekannten Schachlokale aufsuchten. In diese Lokale führte Ringsdorff seinen Schützling und ließ ihn gegen argentinische und britische, französche und amerikanische Spieler antreten. Forderte er, im Namen Wilhelms, einen Mann heraus, dann stieß sein Wunsch angesichts der linkischen Art des Jungen zunächst oft auf Befremden oder gar Ablehnung. Kam ein Spiel zustande, dann erregte die Überlegenheit Wilhelms auf dem Brett großes Erstaunen.
Eines Abends spielte Wilhelm, ohne es zu wissen, gegen einen ehemaligen argentinischen Großmeister, den er aufgrund einer überlegenen Position mit einer eleganten Kombination mattsetzte. Ein Reporter der „Berliner Morgenpost“ saß im Kreis der Zuschauer und wurde Zeuge von Wilhelms Sieg.
„Ihr Junge ist eine Sensation“ sagte er zu Ringsdorff, der etwas abseits saß. „Er hat das Zeug zu einem der ganz Großen, wenn er auch sonst nicht bis drei zählen zu können scheint. Wollen Sie ihn nicht einmal gegen einen amtierenden Meister antreten lassen? Mein Name ist übrigens Ernst Runge, ich bin Journalist.“
Ringsdorff sah seine Chance gekommen. „Wir wollen Lasker herausfordern“ sagte er.
Runge pfiff durch die Zähne. „Mit Kleinigkeiten geben Sie sich nicht ab, wie? Aber Sie haben recht, ein solcher Kampf könnte eine Sensation werden: der jugendliche Herausforderer gegen den alten Meister. Bloß spielt Lasker nicht gegen jeden. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“
Er zog eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie und überreichte sie Ringsdorff. Auf der Karte standen die Adresse und die Telefonnummer der Redaktion Runges. „Lassen Sie mich mal machen“ sagte Runge. „Und bringen Sie Ihren Jungen die nächsten Abende wieder her. – Wie heißt er eigentlich?“
Ringsdorff nannte Wilhelms Namen und machte einige Angaben zu seinem Werdegang in den Schachclubs Frankfurts. Wilhelm hatte sich inzwischen hinzugesetzt und hörte mit großen Augen und offenem Munde zu.
„Ich glaube, ich kann diesen Kampf für Sie arrangieren, Wilhelm“ sagte Runge. „Das hängt aber ganz von Ihrer Spielstärke ab. Kommen Sie morgen abend wieder her, und zeigen Sie, was Sie können.“
Damit tippte er an seine Schirmmütze und ging. Am nächsten Abend kam er wieder, und brachte einen Fotografen mit einer großen Plattenkamera mit. Wilhelm gewann zwei Partien, der ehemalige argentinische Großmeister war ebenfalls zugegen und gab Runge bereitwillig ein Interview. Der Mann bezeichnete die Spielstärke Wilhelms als überragend und gab eine enthusiastische Schilderung seiner Taktik. Die Frage Runges, ob dieser Junge ein ernstzunehmender Gegner für Lasker sein konnte, versetzte den Mann in Euphorie. Er verstieg sich zu der Äußerung, daß nur ein junger und genialer Spieler wie Wilhelm eine Chance gegen den alten Kämpen haben würde, wenn überhaupt jemand auf dieser Welt Lasker besiegen konnte. Der Fotograf schoß eine Aufnahme, die Wilhelm neben Ringsdorff und dem Argentinier zeigte.
Die Aufnahme wurde in der Ausgabe am nächsten Morgen veröffentlicht, ein reißerischer Text forderte Emmanuel Lasker auf, sein Talent gegen ein bislang unbekanntes Schachgenie unter Beweis zu stellen. Runge zitierte den Argentinier und versäumte nicht, auf dessen gegen Wilhelm verlorene Partie hinzuweisen. Von Lasker kam, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, keine Reaktion.

Zwei Wochen vergingen. Die Herausforderung Laskers durch Wilhelm war inzwischen das Tagesgespräch im mondänen Berlin. Die Stadt war in den zwanziger Jahren der Mittelpunkt der Welt. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle trafen sich hier, und die Kunde von dem behinderten Schachgenie, das es wagte, Lasker herauszufordern, wurde als Sensation empfunden.
In der Redaktion der „Morgenpost“ ging es zu wie in einem Tollhaus. Runge saß kettenrauchend und hustend vor einem Berg von Manuskripten. Noch hatte Lasker sich nicht gerührt. Es schien, als wollte er den Niemand Wilhelm Wondratschek zur Bedeutungslosigkeit ignorieren.
Doch der Artikel Runges hatte durchaus Wirkung gezeitigt. Daß die Öffentlichkeit auf diesen Kampf brannte, das bekam Lasker jeden Tag zu spüren. Wenn er durch das weitläufige ‚Adlon’ ging, dann folgten ihm nicht zuletzt deswegen die Blicke. Hinter vorgehaltener Hand begann man alsbald zu tuscheln, was wohl der Grund sei für sein Schweigen. Einige Vorwitzige begannen bereits zu mutmaßen, Angst Laskers vor einer Blamage sei der Grund. Eifrige hatten in Wilhelms Vergangenheit gestöbert und die Kunde von Dutzenden von gewonnenen Preiskämpfen machte die Runde. Der Artikel Runges hatte sozusagen die Buschtrommel losgetreten, und sie war nicht mehr zum Schweigen zu bringen.
„Runge!“ brüllte Wegener, der Ressortchef. „Kommen Sie mal her.“
Runge drückte seine halbgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und begab sich zu seinem Chef.
„Was gibt´s?“
„Was ist aus dieser Sache mit Lasker geworden? Haben wir Exklusivrechte an dem Interview?“
„Welches Interview denn?!“ kam es geknickt von Runge zurück. „Lasker rührt sich nicht, da können wir lange warten.“
Wegener kaute wütend auf einer kalten Zigarre herum. „Dann schmeißen Sie den ganzen Mist weg. Lassen Sie die Finger davon und verschwenden Sie nicht noch mehr Zeit damit.“
„Aber Chef!“ jammerte Runge. „Die Sache wird eine Sensation, glauben Sie es mir. Die ganze Stadt spricht von nichts anderem. Geben Sie mir noch eine Woche, Chef, bitte.“
Genau in diesem Moment klingelte das Telefon auf Runges Schreibtisch. Runge stürzte hin und hob ab. In der Leitung war der Pförtner.
„Ein Herr Manzanaras möchte Sie sprechen, Herr Runge“ sagte er.
„Ja, bitte“ entgegnete Runge verständnislos, denn der Name sagte ihm nichts.
Es klickte in der Leitung. Runge meldete sich mit seinem Namen.
„Manzanaras“ kam es aus der Hörmuschel. „Ich gehöre zur Mannschaft von Dr. Emmanuel Lasker. Sind Sie der Journalist, der den an Herrn Dr. Lasker gerichteten Artikel geschrieben hat?“
Runge gab sich zu erkennen.
„Dann notieren Sie bitte“ fuhr Manzanaras fort, „dass Dr. Emmanuel Lasker nach der laufenden Meisterschaft gegen Herrn Wilhelm Wondratschek antreten wird. Ort der Begegnung ist das ‚Adlon’. Im übrigen gelten die üblichen Bedingungen.“
„Was bedeutet das?“ wollte Runge wissen.
„Das bedeutet, dass Herr Dr. Lasker eine Prämie von fünftausend Reichsmark für die Partie verlangt.“
Dann klickte es abermals in der Leitung, und das Freizeichen kam. Manzanaras hatte aufgelegt.
Runge legte ebenfalls auf. Er blickte sich um. Hinter ihm stand Wegener.
„Nun?!“ fragte er ungeduldig.
„Sie können die Sache vergessen“ jammerte Runge. „Lasker wäre jetzt zwar bereit, aber er verlangt fünftausend Reichsmark.“
„Wo liegt das Problem?“ knurrte Wegener.
„Das Problem liegt ganz einfach darin, dass Wondratschek ein Habenichts ist“ entgegnete Runge. „Er wird das Geld nicht aufbringen können.“
Wegener maß ihn mit einem Blick. „Als solchen Jammerlappen kenne ich Sie gar nicht, Runge“ sagte er. „Wenn dieser Wondratschek das Geld nicht hat, dann bezahlen wir es eben. – Und jetzt gehen Sie und besorgen Sie mir die Exklusivrechte für das Interview mit dem Mann. Das findet natürlich nur statt, falls er gewinnt. Und schreiben Sie einen Artikel.“
Runge strahlte über das ganze Gesicht. „Ich habe gewusst, dass Verlaß auf Sie ist, Chef“ sagte er.

Die Nachricht von der Zusage Laskers verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die „Morgenpost“ erschien in einer Extraausgabe. Die Zeitungsjungen schrien die Sensation in die pulsierende Stadt.
Des Abends suchten jetzt Prominente die Schachlokale auf, um Wilhelm spielen zu sehen. Sogar Reichskanzler Hermann Müller schaute einmal herein, um einen Blick auf den erstaunlichen jungen Mann zu erhaschen. Die Neugier verwandelte sich jedoch nur allzu oft in Bestürzung oder sogar Herablassung, wenn man der Behinderung Wilhelms gewahr wurde.
Der indessen zeigte ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Abend für Abend deklassierte er seine Gegner. Ringsdorff begann darum zu beten, dass ihn sein Glück nicht im entscheidenden Moment verließ.

Erna Mühlenbach hatte in jungen Jahren einen Angehörigen des diplomatischen Korps geheiratet, der ihr, als er im Alter von zweiundfünfzig Jahren an einem Herzinfarkt starb, ein nicht unbedeutendes Vermögen sowie ein Haus in einer der besten Berliner Gegenden hinterließ. Unerhört klug und lebenserfahren und mit allen Wassern gewaschen ging sie daran, dieses Haus zu einer der ersten Berliner Adressen zu machen. Ihre Abendgesellschaften waren legendär.
Vor einem Vierteljahr nun hatte sie die ungeheure Taktlosigkeit besessen, den deutschen Reichskanzler und den französichen Attaché zur gleichen Abendgesellschaft einzuladen, und das, obwohl es wegen der bevorstehenden Räumung der Rheinlande zu Spannungen zwischen beiden Staaten gekommen war. Die beiden Herren waren sich den ganzen Abend aus dem Wege gegangen. Hinterher hatte man Erna Mühlenbach hinter vorgehaltener Hand mangelnden Instinkt vorgeworfen. Die Reaktion auf ihre neuerliche Einladung – geplant war eine Gesellschaft Anfang August – war entsprechend.
„Schon die fünfte Absage, Luise“ sagte sie zu ihrem Hausmädchen und ließ die Nachricht aus handgeschöpftem Büttenpapier mit Goldschnitt sinken. „Der Papendieck sagt ab, dabei ist er nur ein kleiner Professor. Was für ein Wichtigtuer, er meint wohl, es schadet seiner Karriere, wenn er sich bei mir blicken lässt. Mein Gott, welchen Fehler habe ich da gemacht. Die Gesellschaft vergisst so etwas nicht, das wird mir noch lange Zeit nachgehen. Nun ja, ich werde es überleben. – Bitte, räumen Sie dies hier weg.“
Damit wies sie auf den Umschlag mit dem Brief und eine leere Bonbonniere.
„Sehr wohl, gnädige Frau“ knickste Luise und packte den Abfall zusammen. Sie verschwand durch die Tür des Salons, kam jedoch einen Augenblick später bereits wieder herein.
„Herr Runge wünscht Sie zu sprechen, gnädige Frau“ sagte sie. „Er hat einen jungen Herrn bei sich.“
Erna gab ein Zeichen, die Herren vorzulassen. Ernst Runge trat ein, im Gefolge Wilhelm Wondratschek. Runge küsste Erna auf die Wange und trat einen Schritt zur Seite, um den Blick auf seinen Begleiter freizugeben.
„Ich glaube, diesen jungen Mann muß ich dir nicht vorstellen“ sagte er. In der Tat hatte Erna im ersten Moment erraten, um wen es sich bei Wilhelm handelte.
„Guten Tag, Wilhelm“ sagte Erna. Im ersten Moment war sie versucht, ihm die Hand zum obligaten Handkuß zu reichen, ahnte jedoch, dass Wilhelm diese Herausforderung nicht meistern würde. So begnügte sie sich mit einem reizenden Lächeln.
„Was kann ich für euch tun?“ fragte Erna und gab durch ein Zeichen zu verstehen, dass die Herren Platz nehmen mochten im Salon. Sie klingelte nach dem Hausmädchen und orderte Tee und Gebäck.
„Wilhelm hat eine große Partie vor sich, das ist Tagesgespräch“ sagte Runge. „Viele wollen ihn sehen, sogar der Reichskanzler hat vor kurzem vorbeigeschaut. Es fehlt ihm allerdings noch ein wenig Schliff, seine Manieren lassen noch ein wenig zu wünschen übrig. – Nichts für ungut, Wilhelm.“
Der Angesprochene gab durch ein Lächeln zu verstehen, dass für ihn alles in Ordnung sei.
„Ich möchte, dass du ihn für einige Zeit unter deine Fittiche nimmst, Erna“ fuhr Runge fort. „Bring´ ihm bei, wie man Austern ist und wie man den französichen Attaché anspricht. Wenn er die Partie gewinnt, wird er dieses Wissen brauchen.“
Eine halbe Stunde plauderte er noch mit Erna Mühlenbach, dann machte er sich auf den Weg zurück in seine Redaktion. Erna blieb mit Wilhelm zurück. Sie schenkte ihm Tee nach und musterte ihn unauffällig. Wilhelm trug ein derbes Hemd, wie es so manchem Arbeiter gut angestanden hätte und eine schwarzbraune Hose, die mit Hosenträgern befestigt war. Auf dem Kopf trug er eine flache Schauermannsmütze, an den Füßen derbe Nagelschuhe. Eines war klar: in dieser Kleidung konnte er unmöglich Lasker gegenübertreten.
„Wo wohnen Sie, Wilhelm?“ fragte Erna, und Wilhelm nannte den Namen seines Hotels. Erna griff nach dem Telefon.
Als erstes wählte sie die Nummer des ‚Adlon’, die sie auswendig kannte.
„Mühlenbach hier“ antwortete sie, als der Pförtner sich meldete.
„Guten Tag, gnädige Frau“ kam es von dem Pförtner zurück, für den Erna Mühlenbach keine Unbekannte war. „Womit kann ich dienen?“
„Ich habe hier einen jungen Mann, der unstandesgemäß untergebracht ist. Haben Sie ein Zimmer für ihn? – Einen Moment bitte?“
„Soviel ich weiß, sind Sie nicht allein, Wilhelm“ wandte sie sich an ihren jungen Gast. „Ihr Trainer ist bei Ihnen. – Ja, in Ordnung.“
„Wir brauchen zwei Zimmer“ sprach sie wieder in die Muschel des Telefons. „Zwei Zimmer richtig. Die Herren werden morgen im Laufe des Tages eintreffen. – Danke schön.“
Sie drückte die Gabel und wählte als nächstes die Nummer des Herrenschneiders Kesselmann, des besten Berliner Schneiders.
„Guten Tag, Herr Kesselmann, Mühlenbach hier. – Ja, danke der Nachfrage, es geht mir hervorragend. Ich habe hier einen jungen Mann, der eine komplette Ausstattung braucht. - Danke schön.“
Kesselmann würde mit einer ausreichenden Zahl von Gesellen erscheinen und in Nachtarbeit eine komplette Ausstattung – einen Frack, einen Smoking und drei Paar Hosen – herstellen.
Wieder drückte Erna die Gabel und wählte dann die Nummer des besten Berliner Herrenausstatters. Der würde sich mit einer ausreichenden Auswahl an Hemden, Unterwäsche und Schuhen einfinden. Dann klingelte sie nach Luise.
„Zeigen Sie unserem Gast das Bad“ ordnete sie an. „Und geben Sie ihm einen Morgenmantel meines verstorbenen Gatten.“

Der Grund für Ernas Interesse an Wilhelm war ganz offensichtlich. Sie sah in ihm eine Möglichkeit, sich wieder in den Vordergrund zu spielen, den verlorenen gesellschaftlichen Boden zurück zu gewinnen. Freilich ging sie ein Risiko ein. Wilhelm war behindert, der Schuß konnte nach hinten losgehen. Es war möglich, dass sie sich bis auf die Knochen blamierte und den Rest ihrer Tage in gesellschaftlicher Isolation verbrachte. Es hing von ihrer Nervenstärke ab, was sie aus dieser Gelegenheit machte, und Risiko hatte Erna Mühlenbach ein Leben lang gereizt.
Kesselmann erschien mit drei Gesellen. Wenn man von der prominenten Erna Mühlenbach einen Auftrag bekam, dann kleckerte man nicht, sondern man klotzte. Wer der stille junge Mann war, für den er die Komplettausstattung herstellen sollte, war nicht schwer zu erraten. Schließlich bekam Kesselmann den Berliner Klatsch jeden Tag aus erster Hand zu hören.
Wilhelm trug einen seidenen Morgenrock und duftete nach einem Eau de Toilette des verstorbenen gnädigen Herrn. Er stand stocksteif da, als Kesselmann Maß nahm. Einer der Gesellen kicherte.
Kesselmann warf ihm einen Blick zu, der den Mann erbleichen ließ, und notierte die Maße. Dann erkundigte er sich nach der Farbe des Smokings. Er hatte Stoffproben dabei, die er zunächst Wilhelm und dann Erna zeigte. Erna traf die Auswahl.
Inzwischen war der Herrenausstatter eingetroffen und wartete mit drei Leuten im Salon. Im Gepäck hatte er eine reichliche Auswahl an allem, was ein Herr außer Oberbekleidung noch braucht.
Bis zum späten Nachmittag waren noch ein Friseur und eine Kosmetikerin erschienen, die Wilhelm eine Maniküre machte.
Als dann endlich alles erledigt war, blieb ein Riesenberg Papierabfall zurück. Luise erschien, um ihn fortzuräumen. Als sie sich herabbeugte, um einen Armvoll Abfall aufzunehmen, gab ihre ausgeschnittene Bluse den Blick auf ihre großen Brüste frei.
Wilhelm wurde rot bis über beide Ohren, unfähig, seinen Blick loszureißen. Erna entging seine Reaktion nicht.
„Du meine Güte, Wilhelm“ sagte sie, „haben Sie denn noch nie mit einer Frau...?“
Wilhelms verschämter Blick bewies ihr, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Erna griff nach ihrem Portemonnaie und zog eine Hundertreichsmarknote hervor.
„Luise.“
Luise erhob sich. „Gnädige Frau?“
„Seien Sie doch unserem Gast ein wenig behilflich.“ Damit steckte sie ihr die Banknote zu.
„Sehr wohl, gnädige Frau.“ Luise gestattete sich ein leichtes Grinsen. Sie verstaute die Banknote in ihrem kleinen roten Portemonnaie.
„Kommen Sie, Wilhelm“ sagte sie dann und ergriff den Zaudernden am Arm. So kam es, dass Wilhelm Wondratschek seine ersten sexuellen Erfahrungen im Hause Erna Mühlenbachs machte.

Das Hotel ‚Adlon’ war die Nobelherberge schlechthin im Berlin der zwanziger Jahre. Staatsmänner, Filmstars und Prominente aus allen Bereichen der Politik, Wissenschaft und Kultur stiegen hier ab. Das Hotel mit seinen riesigen Suiten bot jeden Komfort, den sich ein verwöhnter Gast nur wünschen konnte. Die besten Köche versorgten die Gäste mit erlesenen Speisen. Jeden Morgen in aller Frühe wurden zentnerweise Fleisch, Hummer, Karpfen, Artischocken und Spargel, kurz, alle Zutaten für Gaumenfreuden der Extraklasse, herbeigeschafft. An der Bar gab es die ausgefallensten Spirituosen. Ein türkisches Bad stand zur Verfügung. Auf Wunsch kamen Masseure, Kosmetiker und Friseure, um für Attraktivität und Wohlbefinden der Gäste zu sorgen.
Auch die Teilnehmer des bevorstehenden Turniers waren im ‚Adlon’ untergebracht. Die meisten von ihnen waren bereits angereist. Aljechin, Tarrasch, Niemzowitsch, Rubinstein und nicht zuletzt Lasker waren schon da. Auch das Turnier würde im Hotel stattfinden, der große Saal wurde aus diesem Anlaß bereits festlich hergerichtet.
„Seien Sie selbstbewusst“ hatte Erna Mühlenbach Wilhelm Wondratschek geraten. „Lassen Sie sich durch die Herren nicht erschrecken. Gehen Sie zum Essen in den Speisesaal, und gehen Sie erhobenen Hauptes.“
Dieser Rat war namentlich für Wilhelm schwer zu befolgen, den angesichts des unermesslichen Luxus und der weltmännischen Gelassenheit der übrigen Gäste seine alte Unsicherheit beschlich. Auch Ringsdorff, bekleidet mit seinem besten Anzug, fühlte sich in der Gesellschaft all der Prominenten sichtlich unwohl. Sein Leben lang hatte er Schachgrößen wie Aljechin und Tarrasch nur aus Büchern gekannt, hatte sie aus der Ferne verehrt als für ihn völlig unerreichbar. Nun begegnete er ihnen täglich auf dem Gang oder beim Essen. Er fürchtete, durch ungeschicktes Benehmen aufzufallen, wagte es nicht, jemanden anzusprechen.
Die Reaktion dieser Schachgrößen auf Wilhelm war die leichten Unmuts bis hin zu Skepsis. Man fühlte sich gestört durch diesen Neuling, empfand ihn als Eindringling. Alle hatten die Entwicklung der letzten Wochen verfolgt, sie wussten bescheid über Wilhelms schier unglaubliche Erfolge in den Schachlokalen der Stadt. Doch in diese Gesellschaft wurde man nicht so leicht aufgenommen, zumal Wilhelm behindert war. Das zeigte sich bei allem Selbstbewusstsein, das er an den Tag legte.
Doch Wilhelm ließ sich nicht irritieren. Mit der größten Selbstverständlichkeit nahm er sein Essen weiterhin im großen Speisesaal ein, auch wenn sich beim Eintreten sämtliche Blicke auf ihn richteten. Er sprach selbstbewusst und unbefangen mit dem Kellner und hatte durchaus auch einmal etwas auszusetzen an den Speisen oder der Bedienung. Ringsdorff hätte es vorgezogen, im Zimmer zu essen, er war ängstlicher als sein Schützling.
Mit der Zeit wich der Unmut der übrigen vorsichtiger Akzeptanz. Man begann das Wort an den Neuling zu richten. Nun war Wilhelm, von seinem Schachtalent abgesehen, alles andere als eine geistige Größe, während die übrigen Schachspieler durchweg Akademiker waren. Viele von ihnen besaßen einen Doktortitel. Aljechin war Jurist, Tarrasch Mediziner. Ein Gespräch auf akademischem Niveau war mit Wilhelm nicht möglich. Doch das war auch nicht die Absicht der Herren. Es genügte eine freundliche Bemerkung über das Wetter oder zum Tagesgeschehen.
Nur Lasker ließ sich während der ganzen Zeit nicht blicken. Sein Zimmer verließ er allenfalls nachts für kurze Zeit. Wilhelm spürte sehr wohl den Affront, der hinter diesem Verhalten steckte, und reagierte in der ersten Zeit mit Ängstlichkeit. Das neuerdings freundliche Verhalten der übrigen ließ ihn seine Angst jedoch überwinden.

Die Straße vor dem Hause Erna Mühlenbachs war zugeparkt mit Bugattis und Maybachs. Damen in großer Abendrobe stiegen aus den Fonds luxuriöser Limousinen, Herren im Frack, mit gestärkter Hemdbrust, reichten ihnen den Arm. Die Chauffeure warteten im Wagen, während die Herrschaften die Treppe hinauf in den Salon der Mühlenbach schritten. Es war eine warme Augustnacht, und es war ein großer gesellschaftlicher Anlaß. Sogar die Herrschaften, die ursprünglich abgesagt hatten, waren gekommen, und der Hauptgrund war die Neugier auf Wilhelm.
Erna Mühlenbach empfing ihre Gäste mit gelassenem Lächeln, sprach freundliche Worte und machte reizende Bemerkungen. Wilhelm war zu dieser Zeit noch nicht zu sehen. Auf Ernas Geheiß hin hielt er sich im ersten Stock des Hauses auf. Erst wenn alle Gäste anwesend waren, sollte Wilhelm der Gesellschaft präsentiert werden. Erna war zu dieser Zeit zu beschäftigt damit, ihre Gäste zu empfangen, hätte sich um Wilhelm nicht kümmern können. Sie befürchtete Blamage, kam es zum Gespräch zwischen Wilhelm und den übrigen ohne ihr wachsames Auge, wiewohl sie sehr genau wusste, dass dieser Abend schwierig werden würde. Es ging um ihren gesellschaftlichen Ruf. Anzusehen war ihr die Anspannung allerdings nicht.
Bis um einundzwanzig Uhr hatten sich rund einhundert Gäste im Salon versammelt. Kellner in weißer Livree reichten Getränke und Gebäck, man war guter Dinge und gespannt auf das, was kommen würde. An der Treppe war Luise zu sehen. Erna gab ihr einen Wink, und Luise huschte die Treppe hinauf, um Wilhelm bescheid zu sagen.
Dann kam er die Treppe herunter, angetan mit dem Frack von Kesselbach, und es trat Stille ein. Erna kam ihm mit einem reizenden Lächeln entgegen, hob halb ihren Arm an als Aufforderung, ihr den seinen zu reichen.
„Ich möchte Ihnen Herrn Wilhelm Wondratschek vorstellen, Exzellenz“ wandte sie sich an den französischen Atttaché, der als nächster stand. Der Attaché nickte mit dem Kopf. Das war seine Art, sich zu verbeugen.
„Sehr erfreut, Herr Wondratschek.“
Damit sah er Wilhelm erwartungsvoll an. Der hatte indes in den letzen Wochen viel von seiner Unbeholfenheit verloren und verhielt sich völlig korrekt. Er vollführte eine leichte Verbeugung, nicht zu tief, doch tiefer als das Kopfnicken des Politikers.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Exzellenz.“
Erna atmete innerlich auf, die erste Hürde war genommen. In leichtem Plauderton wandte sie an weitere Gäste, Wilhelm meisterte die Herausforderung jedes Mal erstaunlich gut.
Doch etwas stimmte nicht. In seinem Frack sah Wilhelm aus wie ein Pinguin, ein Eindruck, der durch sein eingefrorenes Lächeln noch verstärkt wurde. Irgendwo kicherte eine Frau. Erna befürchtete, der Abend verwandelte sich in eine Rutschpartie. Sie musste etwas unternehmen.
Festen Schrittes ging sie auf das Podest, auf dem der obligate Flügel stand, und brachte ihr Glas zum Klingen. Sofort verstummten die Gespräche.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren“ wandte sie sich an ihre Gäste, „wir sind zusammengekommen, weil wir eine wunderschöne Augustnacht genießen wollen, weil das Leben schön, aber kurz ist und aus einer Reihe ähnlicher Gründe mehr. Es gibt aber vor allem einen Grund, weshalb wir uns getroffen haben, und dieser Grund ist, einen jungen Mann kennen zu lernen, der in den letzten Wochen wie kein anderer von sich reden gemacht hat. Ich möchte Herrn Wondratschek nach vorne bitten, damit er selbst das Wort an Sie richten kann.“
Aller Augen richteten sich auf Wilhelm, der einen Moment wie vom Donner gerührt dastand. Er fasste sich jedoch erstaunlich schnell, schritt gelassen zum Podest und stellte sich neben Erna hin.
Einen Moment lang suchte er nach Worten. „Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren“ sagte er dann. „Ich werde mich bemühen, Ihre Erwartungen nicht zu enttäuschen.“
Damit hatte er, in seinen einfachen Worten, alles wesentliche gesagt. Einige Augenblicke war es mucksmäuschenstill im Salon, dann setzte Applaus ein, zunächst nur vereinzelt, dann anschwellend, bis er sich zu einem gleichmäßigen Rauschen gesteigert hatte. Die Gäste applaudierten minutenlang, und Erna spürte, dass sie das Eis gebrochen war. Sie hatte hoch gepokert, und sie hatte gewonnen. Ihre gesellschaftliche Stellung war gefestigter als je zuvor.
„Wie gefällt Ihnen mein Kleid, Wilhelm?“ rief sie ihm, über die Köpfe mehrerer Gäste hinweg, zu. Wilhelm bewies wiederum seine neuerworbene Geschicklichkeit.
„Sie sehen bezaubernd aus, gnädige Frau.“
Von der Abendgesellschaft bei Erna Mühlenbach als großem gesellschaftlichen Ereignis sollte noch monatelang die Rede sein.

Die Kunde von der bevorstehenden Partie zwischen Emmanuel Lasker und Wilhelm Wondratschek drang bis nach Bessel. Alfons Wondratschek, inzwischen grau und gebeugt, hatte die Entwicklung der letzten Wochen gebannt verfolgt. Täglich hatte er sich in Friedberg die neuesten Zeitungen besorgt und jeden Artikel über Wilhelm gelesen.
„Ich muß nach Berlin“ sagte er wenige Tage vor der Begegnung zu Ruth. „Einmal muß ich ihn noch sehen.“
Die pulsierende Hauptstadt verwirrte ihn, das ‚Adlon’ mit seinen weltmännischen Gästen flößte ihm einen Heidenrespekt ein. Zunächst wollte man ihn nicht vorlassen, befürchtete Belästigung der Gäste. Doch als er flehentlich versicherte, der Vater Wilhelm Wondratscheks zu sein, ließ man ihn schließlich mit einem Pagen hinauf in das Zimmer Wilhelms gehen. Der befand sich gerade in angeregtem Gespräch mit Dr. Tarrasch, der auf ein Wort hereingekommen war. Ebenfalls anwesend waren Ernst Runge und zwei oder drei Leute, die mit der Organisation des Turniers zu tun hatten.
Seinen Sohn inmitten all dieser gewandten und großen Leute zu sehen erschien dem alten Wondratschek schier märchenhaft. Wilhelm schaute ihn an und wollte nicht glauben, dass sein Vater, der ihn ein Leben lang missachtet hatte, besuchte. Diese lebenslange Mißachtung war auch Thema der ersten Worte, die Alfons Wondratschek an seinen Sohn richtete.
„Ich habe dich schlecht behandelt, mein Junge. Ich habe dich gehasst, weil ich dich für dumm gehalten habe. Dabei bist du genau der Sohn, den ich mir immer gewünscht habe. – Kannst du mir verzeihen?“
Einen Augenblick später lagen sich Vater und Sohn in den Armen, das erstemal in ihrem Leben. Es war eine anrührende Szene, die Umstehenden hatten Tränen in den Augen.
Alfons blieb ein paar Stunden, plauderte mit Wilhelm, sprach über dies und das. Dann wurde es Zeit für ihn, in sein heimatliches Dorf zurückkehren. Er verließ seinen Sohn und weinte sich in einem stillen Winkel aus.

Das Turnier begann, und erwartungsgemäß führte Lasker nach wenigen Tagen. Wilhelm und Ringsdorff saßen jeden Tag im großen Festsaal des ‚Adlon’ und verfolgten jede Partie, respektvoll beachtet und betrachtet von den Zuschauern, denn selbstverständlich wusste jeder von ihnen, wer Wilhelm Wonratschek war.
Der letzte Tag des Schachturniers brach an. Es herrschte ein Zuschauerandrang wie an keinem der Tage zuvor. Die bevorstehende Partie außer Konkurrenz zog auch Leute an, die von Schach nichts verstanden und die lediglich eine Sensation witterten. Lasker führte weit nach Punkten und verteidigte seinen Titel erfolgreich. Nach Abschluß der letzten Partie blieben die Zuschauer erwartungsvoll auf ihren Plätzen sitzen. Wilhelm und Ringsdorff befanden sich unter ihnen, gleichermaßen ungewiß, was sich als nächstes ereignen würde. Lasker war wortlos verschwunden, etwa eine Stunde verstrich, ohne daß er wieder auftauchte. Ungeduld begann sich breitzumachen, Blicke streiften Ringsdorff, als erwarte man von ihm eine Klärung der Situation.
Dann trat der Veranstalter vor das Publikum. „Wie bereits angekündigt, meine sehr verehrten Damen und Herren“ begann er, „findet nun die Partie zwischen Dr. Emmanuel Lasker und seinem bislang unbekannten Herausforderer Wilhelm Wondratschek statt. Ich bitte Herrn Wondratschek nach vorne.“
Aller Blicke richteten sich nun auf Wilhelm, der sich ohne äußerlich sichtbares Zeichen von Unruhe oder Aufgeregtheit erhob und auf die flache Bühne ging, auf der die Partien der Meisterschaft stattgefunden hatten. Wenige Minuten später kam Lasker wieder herein, grüßte das Publikum durch ein Nicken und taxierte Wilhelm mit einem prüfenden Blick. Die beiden Kontrahenden nahmen Platz.
Lasker verfügte über einen Stab von Beratern, der ihn durch sämtliche Turniere begleitete und ihn auch bei dieser Weltmeisterschaft unterstützt hatte. Darunter befanden sich erfahrene Spieler, die die Partien nachträglich analysierten und Lasker wertvolle Hinweise lieferten. Diese Leute, die während der vergangenen Wochen jeden Auftritt ihres Meisters angespannt verfolgt hatten, saßen nun mit gelangweilten und überdrüssigen Gesichtern da. Sie nahmen Wilhelm nicht ernst, hatte doch erst am Vortage einer von ihnen der Presse erklärt, daß diese Partie durch öffentlichen Druck erzwungen worden war und das Ansinnen Wondratscheks schlicht lächerlich sei.
Es waren Vertreter sämtlicher Berliner Zeitungen zugegen, die Fotografen stützten sich auf ihre überdimensionierten Apparate. Viele im Publikum waren fachkundig und saßen vor Steckschachbrettern, um die bevorstehende Partie nachzuspielen und zu beurteilen.
Wilhelm erhielt Schwarz. Lasker eröffnete mit dem Königsbauern, Wilhelm antwortete mit der sizilianischen Verteidigung. Nach rund einem Dutzend Zügen war der ostentativ gelangweilte Ausdruck im Gesicht der Leute Laskers verschwunden. Was sie, zumindest angeblich, erwartet hatten, war nicht eingetreten. Lasker hatte Wilhelm nicht vom Brett gefegt, sondern ganz im Gegenteil verfügte der über einen leichten Stellungsvorteil. Der Ausdruck von Überraschung auf den Gesichtern der Fachkundigen im Saale zeigte, daß hierüber allgemeiner Konsens zu herrschen schien. Wispern machte sich breit.
„Bitte, meine Damen und Herren“ erhob sich der Veranstalter, „bewahren Sie Ruhe.“
Beschwichtigend breitete er seine Arme aus, es trat wieder Stille ein. Lasker nahm sich Zeit für seine Züge, mehr Zeit, als zu Beginn. Seinem Gesicht war nicht anzusehen, was er fühlte oder dachte. Dann kam der zwanzigste Zug der Partie, der später als der entscheidende angesehen werden sollte und noch Jahre später eingehend analysiert wurde. Lasker zog mit einem der Läufer und übersah die Möglichkeit für einen Bauernzug, der Wilhelms Stellungsvorteil auf der Damenseite entscheidend stärkte.
Als Wilhelm gezogen hatte, herrschte allgemeine Aufregung. Getuschel kam auf, das der Veranstalter auch durch mehrfache Mahnung nicht unterdrücken konnte. Die Presseleute witterten die Sensation, auf die sie gewartet hatten, Blitzlichter flammten auf. Auf den Gesichtern der Leute des Weltmeisters malte sich Panik. Was alle befürchtet hatten, doch keiner ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, nämlich, daß Wilhelm Wondratschek die Partie gegen Lasker gewann, schien nun zum Greifen nah.
Ringsdorff analysierte die Stellung auf seinem Brett wieder und wieder. Kaum konnte er glauben, was er da sah, zweifelte an seiner eigenen Wahrnehmung, wollte sich freudebang nicht eingestehen, daß sein Schützling wirklich deutlich, wenn nicht entscheidend, im Vorteil war. Wilhelm sah auf und lächelte Ringsdorff zu, ein Moment, den sämtliche Fotografen im Saal auf einem Foto festhielten.
Den Grund für seine Fehlleistung nannte Lasker auch Jahre später nicht. Daß die Partie nach menschlichem Ermessen für ihn verloren war, wußte er so gut wie niemand sonst zu seiner Zeit. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, wann Wilhelm seine Stellung in eine zwingende Kombination umsetzte, die entweder Figurenverlust oder gleich das Matt für Lasker bedeutete.
Doch Lasker war ein zäher, alter Kämpe, der sich im Laufe seiner Karriere aus mancher schier aussichtslosen Situation herausgewunden hatte. Daß er hierbei auch unlautere Mittel benutzte, war bekannt. Er war, als vielfacher Schachweltmeister, nicht der Mann, der sich von einem Grünschnabel wie Wilhelm lächerlich machen ließ, zumal dieser Grünschnabel, von seinem Schachtalent abgesehen, geistig offenbar nicht für voll genommen werden konnte.
Doch wie diese Situation retten, die völlig verfahren schien? Lasker nahm sich Zeit, hatte noch Stunden auf seiner Uhr. Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Später wußte niemand zu sagen, ob es die billigen Zigarren waren, die Lasker rauchte, oder das grelle Licht der Scheinwerfer, die Wilhelms Schleimhäute reizten und ihn niesen ließen. Zur allgemeinen Erheiterung im Saale hing danach ein großer Tropfen grüngelben Sekrets unter seiner Nase. Verlegen klopfte er die Taschen seines Fracks nach einem Tuch ab. Lasker sah seine Chance gekommen. Mit einem Lächeln nahm er das blütenweiße Tuch, das die Brusttasche seines Fracks zierte, und reichte es Wilhelm.
In seiner Naivität sah der nicht den Hohn, der in dieser Geste steckte, witterte nicht die Falle, sondern bedankte sich und putzte sich mit dem Tuch die Nase. Gekicher kam auf, die Leute steckten die Köpfe zusammen und die Fotografen schossen Aufnahmen. Ringsdorff litt mit seinem Schützling, dem erst jetzt die Peinlichkeit seines Verhaltens klar wurde und der sich, vor Verlegenheit puterrot im Gesicht, gepeinigt umsah. Und dann kam der entscheidende Fehler Wilhelms. Statt die Sache nun auf sich beruhen zu lassen und weiterzuspielen, beging er im Bemühen, seinen Fauxpax von eben wettzumachen, eine noch viel größere Peinlichkeit. Er reichte Lasker das Tuch zurück, der es mit spitzen Fingern entgegennahm und beiseite legte.
Das Gekicher und Lachen im Saal wurde zum Gejohle, die Leute riefen, jedes Gesetz der Höflichkeit mißachtend, einander abfällige Bemerkungen über Wilhelm zu. Die Blitzlichter flammten. Der Veranstalter vermochte sich kein Gehör mehr zu verschaffen.
Wilhelm saß da wie betäubt, ertrug den Hohn schweigend. Lasker lächelte maliziös und vollführte seinen nächsten Zug. Es war, darüber herrschte später allgemeine Übereinstimmung, nur die Pein Wilhelms über die öffentliche Schmähung, die sein Denken beeinträchtigte und ihn den Springer, den Lasker ihm anbot, schlagen ließ. Nach diesem Opfer zerhieb Lasker in wenigen Zügen die Stellung seines Gegners, die Partie war für Wilhelm verloren.
Inzwischen herrschte wieder völlige Stille im Saal. Ringsdorff litt Qualen. Wilhelm sah auf das Brett, weiß im Gesicht. Dann legte er langsam seinen König auf die Seite, erhob sich und verbeugte sich linkisch vor Lasker und dem Publikum. Anschließend verschwand er durch den Spielereingang.
Voll böser Ahnungen sprang Ringsdorff auf und wollte hinterher, doch er wurde daran gehindert. So mußte er erst auf die Straße und durch den Haupteingang und von dort in den vierten Stock des weitläufigen Hotels. Als er das Zimmer Wilhelms erreichte, fand er es von innen verschlossen. Wertvolle Zeit verging, bis ein Handwerker gefunden war, der die Tür aufbrach.
Man fand Wilhelm an der Vorhangschnur erhängt vor. Eilends schnitt man ihn ab und brachte ihn die Charité, doch sein Gehirn hatte durch das Drosseln der Blutzufuhr zu großen Schaden erlitten. Er starb in der folgenden Nacht, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.

 

Hallo marquee,

schön wieder einmal eine Geschichte von dir zu lesen.
Aber ist das eine KURZ-Geschichte, Betonung auf KURZ????

Aber wenn man auf dem Liegestuhl im Schatten liegt, kann man auch eine länger Kurzgeschichte lesen.
Und ich habe sie gerne gelesen.
Wie auch schon bei den anderen Erzählungen von dir, ist sie flüssig geschrieben und vor allem ist dieses Mal viel Handlung hineingepackt und auch sehr schöne Dialoge.

Du hast auf der einen Seite den Umgang mit behinderten Menschen Anfang im 20.Jhs. beschrieben, wobei auch die damaligen Lebensverhältnisse herausgestellt sind.
Auf der anderen Seite ist es die Lebensgeschichte eines Behinderten, die Art und Weise sich in der Gesellschaft Anerkennung zu verschaffen, die ihm aber auch ganz schnell aberkannt wurde, als er im letzten Duell nicht siegte.
Dass du vor dem entscheidenden Schachspiel noch einmal den Vater des Prot ins Geschehen mit eingebracht hast, finde ich sehr gut. Ich wollte dich schon fragen, was die Eltern zu ihrem erfolgreichen Sohn gesagt haben.

Beruht das Ganze auf einer wahren Begebenheit oder ist es erfunden?

Was mir bei deiner Rechtschreibung aufgefallen ist, verwendest du noch die alten Rechtschreibregeln, besonders auffällig bei dem Wort "Daß" (neu: "dass"). Auch die Zeichensetzung bei der wörtlichen Rede ist dir noch nicht geläufig.

Beispiel: Ausrufesatz!", rief er.
Fragesatz?", fragte er.
Aussagesatz", sagte er.

Einmal hast du den Familiennamen des Prot falsch geschrieben.

Wilhelm und Ringsdorff saßen jeden Tag im großen Festsaal des 'Adlon' und verfolgten jede Partie, respektvoll beachtet und betrachtet von den Zuschauern, denn selbstverständlich wusste jeder von ihnen, wer Wilhelm Wonratschek war.

Wilhelm und Ringsdorff saßen jeden Tag im großen Festsaal des 'Adlon' und verfolgten jede Partie, respektvoll beachtet und betrachtet von den Zuschauern, denn selbstverständlich wusste jeder von ihnen, wer Wilhelm Wondratschek war.

Damit hatte er, in seinen einfachen Worten alles wesentliche gesagt.

Damit hatte er, in seinen einfachen Worten alles Wesentliche gesagt.


Bring ihm bei, wie man Austern ist und wie....

Bring ihm bei, wie man Austern isst und wie...

Das war eigentlich schon alles, was mir in der Hitze aufgefallen ist.

Also von mir aus wieder eine rundum gelungene Geschichte.

Viele Grüße
bambu

 

Hallo bambu. :)
Dein Lob freut mich sehr. Ich war mir zunächst selbst nicht so sicher, ob die Geschichte gelungen ist, weil sie lange Passagen ohne wörtliche Rede enthält. Aber dir hat sie offensichtlich gefallen.

Die Geschichte ist frei erfunden, hat allerdings einen wahren Kern. Es gab in meiner Kindheit in der Nachbarschaft einen geistig behinderten, jungen Mann, der hervorragend Schach spielte. Dieser junge Mann widerlegte das gängige Vorurteil, daß ein geistig Behinderter zu überhaupt keiner geistigen Leistung fähig ist. In meiner Geschichte habe ich dann versucht, die Sache sozusagen "auf den Punkt" zu bringen. Die Geschichte ähnelt von Thema und Handlung her natürlich der Schachnovelle von Zweig, ich versichere aber mit meinen Ehrenwort, daß ich eben diese Schachnovelle zu dem Zeitpunkt, als ich meine Erzählung begann (vor ein paar Jahren) inhaltlich nicht gekannt habe.

Weil die Geschichte schon ein paar Jahre alt ist, weist sie auch noch die Zeichensetzungsfehler bei wörtlicher Rede auf (das habe ich nämlich erst hier im Forum gelernt). Als ich sie jetzt eingestellt habe, da habe ich nicht daran gedacht, diese Fehler zu verbessern. Das wäre dann ein Job für einen langweiligen Nachmittag.

Mit der neuen deutschen Rechtschreibung stehe ich auf Kriegsfuß. Es fällt mir nicht ein, diesen Schwachsinn deutscher Politiker dadurch zu unterstützen, daß ich ihn lerne, kann aber nicht verhindern, daß er - über Zeitungen und Bücher - auf mich abfärbt. Daher das Chaos. Sorry.

Selbstverständlich auch vielen Dank für den Hinweis auf die übrigen Rechtschreibfehler.

Lieben Gruß :thumbsup:
marc

 

Hi marquee!

Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber mir will die Geschichte partout nicht zusagen. Das liegt allerdings nicht so sehr an dem Plot selbst - wer sich an die Lebensgeschichte eines geistig Behinderten, der sich in der Gesellschaft zu behaupten versucht, herantraut, verdient schon einiges Wohlwollen, besonders im Hinblick auf die flachen Stories, die den Großteil dessen bilden, was man auf kg.de liest - nur hapert es gewaltig an der Umsetzung.

Du machst den typischen Fehler unbedarfter Autoren: Du reihst die Ereignisse aneinander, spulst auf diese Weise die Handlung runter und nennst das dann "Erzählen".
Wie willst du auf diese Weise die Orte mit Atmosphäre füllen? Wie willst du so erreichen, dass ich mit Wilhelm leide und mich mit ihm freue, wenn er seine Erfolge erringt?
Ganz schlimm sind Wendungen wie "Zur damaligen Zeit" oder "Es war eben damals so, dass" u. ä.. Das liest sich, als würde meine Omi wieder einmal ein Jugendschmankerl aufwärmen oder vom "Kriech" erzählen...

Seltsam die Episode mit Erich. Wenn er nicht die eigentliche Hauptperson ist, wieso führst du ihn dann so ausführlich ein? Du könntest ihn in wenigen Sätzen abhandeln oder, wenn du ihn als Kontrast zu Wilhelm gern behalten willst, auch einfach nicht sterben lassen. Ihm aber erst zehn Prozent der Geschichte zu widmen und dann mal eben beiläufig in einer Fußnote seinen Tod zu erwähnen, noch dazu ohne dass du die Reaktion der Angehörigen zeigst, das passt nun wirklich nicht.
Diese Aspekte ließen mich weite Teile der Erzählung einfach vorüberscrollen, weil ich die ein bisschen spannenden Szenen einfach zu lange suchen musste.

Der Text hat aber durchaus auch Pluspunkte:

Der einzige Grund, warum ich mich bis zum Ende gequält habe, war, zugegeben, einfach die Neugier, wie du das Königliche Spiel thematisieren würdest ( Nebenbei bemerkt: Der Titel passt überhaupt nicht zur Thematik und lockt keinen Leser hinter dem Ofen hervor - außer mir *gg* ).
Und da überraschst du mich: Deine Kenntnis der Schachgeschichte ist so profund, dass ich dir keinen Fehler nachweisen konnte, so sehr ich auch darauf lauerte. Im Gegenteil, du scheinst mehr Details vor allem über Lasker zu kennen als ich ( na ja, gelesen hatte ich das alles wohl schon mal, aber wer behält es im Gedächtnis, wenn es ihm nicht wichtig erscheint? :shy: ).
Überhaupt scheinst du mit einer Menge Geschichtswissen zu dieser Epoche aufwarten zu können.

Das alles zeigt mir, dass du eine unheimlich fesselnde Geschichte daraus machen kannst, wenn du die Schauplätze mit Leben zu füllen weißt ( manchmal reichen auch kleine Beschreibungen wie "Zigarrenqualm erfüllte die Luft in der Kneipe und vermischte sich mit dem intensiven Bieraroma" oder so ähnlich ); von da aus fällt es dir auch leichter, die Stimmungen und Gefühle deiner Figuren wiederzugeben. Um diese besser entwickeln zu können, solltest du auch deutlich mehr Dialoge verwenden!

Soll Erich eine bedeutende Figur bleiben, dann solltest du den Leser schon ein wenig mehr in sein Innerstes vordringen lassen. Jetzt habe ich noch das Gefühl, ihm von "außen" zuzusehen. Dem Vater, Alfons, hast du etwas mehr Tiefe gegeben, weil du nicht nur sein Leben, sondern auch seine Sorgen und Ängste erzählst. Dafür ist dies wegen dem "berichtenden" Stil mau umgesetzt und hat stellenweise unfreiwillige Komik ( Klar, er schließt sich einer Weltuntergangssekte an. Macht man ja immer, wenn man die Midlife-Krisis kriegt; Oh, er hat eine Eingebung. Welche? Ach, dass der dritte Sohn ein Wissenschaftsgenie wird? Na denn man zu... :D ).
Auch und gerade für Wilhelm gilt: Da musst du noch mal sehr gründlich ran!

Fasse meine Kritik bitte nicht als Totalverriss auf. Betrachte die Geschichte einfach als Marmorblock, aus dem es die Statue zu befreien gilt. ;)

In puncto Glaubwürdigkeit der Entwicklung von Wilhelms Schachgenie musst du dir aber darüber im Klaren sein:
Schach fordert einfach zu viele verschiedene intellektuelle Fähigkeiten, sprich: Hirnregionen, als dass es darin ein Mensch mit geistiger Behinderung zu Meisterniveau bringen könnte. Jemand, der auf hohem Niveau Schach spielt, kann nie im Leben geistig behindert sein. Für diese Geschichte mag es vielleicht funktionieren, aber eben nur bei einem Nicht-Vereinsspieler.
Als C-Trainer kann ich dir außerdem sagen, dass es ein hohes Niveau an Kommunikation erfordert, die strategische und taktische Natur des Spiels zu vermitteln. Das passt aber nicht zu Wilhelms tumbem Intellekt.
Auch dass Ringsdorff ihn immer noch trainiert, nachdem Wilhelm ihn längst weit überflügelt hat, macht mich stutzig. Und dass er durch das weitere Studium der damals reichlich unterentwickelten Eröffnungstheorie noch dazulernen konnte, erscheint mir ebenfalls zweifelhaft. Partien aus dem Gedächtnis nachzuspielen, beherrschen talentierte jugendliche Spieler nach meiner Erfahrung meist schon nach einem Jahr. :teach:
So, das war jetzt mal 'ne Ladung protzigen Insiderwissens. :D

Was die neue Rechtschreibung betrifft: Da bin ich grundsätzlich der gleichen Meinung wie du, aber was hilft es, sich in dieser Sache querzulegen ( wie das unsere alte Literatengarde tut )? Die neuen Regeln haben sich im Schriftverkehr teilweise sehr gründlich durchgesetzt ( was eigentlich für sie spricht! ), und die alten kannst du ja wegen der "Abfärbung" nicht mehr konsequent aufrechterhalten, wie du selber sagst.
Versuchst du es trotzdem, verstärkst du bloß die Konfusion, die gerade bei den Jüngeren herrscht.

Viel Spaß beim Überarbeiten! :thumbsup:

Ciao, Megabjörnie

 
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Hallo Megabjörnie. Was die mangelnde Charakteriserung der Figuren und die ebenfalls mangelnde Vermittlung von "Atmosphäre" betrifft, da hast du wohl recht. Wie ich bereits bambu mitgeteilt habe, ist die Geschichte einige Jahre alt - inzwischen schreibe ich anders.

Ich habe der Figur "Erich" soviel Raum gegeben, um Alfons Wondratscheks Enttäuschung und die nachfolgenden Hoffnungen in Wilhelm zu verdeutlichen. Daß ich ihn dann nicht so einfach "wegsterben" lassen sollte, ist schon klar.

In puncto Glaubwürdigkeit der Entwicklung von Wilhelms Schachgenie musst du dir aber darüber im Klaren sein:
Schach fordert einfach zu viele verschiedene intellektuelle Fähigkeiten, sprich: Hirnregionen, als dass es darin ein Mensch mit geistiger Behinderung zu Meisterniveau bringen könnte. Jemand, der auf hohem Niveau Schach spielt, kann nie im Leben geistig behindert sein. Für diese Geschichte mag es vielleicht funktionieren, aber eben nur bei einem Nicht-Vereinsspieler.
Als C-Trainer kann ich dir außerdem sagen, dass es ein hohes Niveau an Kommunikation erfordert, die strategische und taktische Natur des Spiels zu vermitteln. Das passt aber nicht zu Wilhelms tumbem Intellekt.
"Wilhelm" ist eine Fiktion. Denk an die "Schachnovelle" von Zweig. Auch sein Prot ist hinsichtlich seines Schachtalentes m. E. eine Fiktion, denn keine Situation - mag sie noch so bedrängend sein - kann aus einem Schachnichtkönner ein Schachgenie machen, auch dann nicht, wenn dieser Nichtkönner ein Professor ist. Oder denk an "Die Entdeckung der Langsamkeit" von Nadolny. Auch der geistig behinderte Kapitän in diesem Roman ist eine Fiktion.

Es ging mir in der Geschichte weniger darum, das Leben und Leiden eines geistig Behinderten darzustellen. Mich hat der "Aberwitz" an der Sache gereizt.

Und da überraschst du mich: Deine Kenntnis der Schachgeschichte ist so profund, dass ich dir keinen Fehler nachweisen konnte, so sehr ich auch darauf lauerte. Im Gegenteil, du scheinst mehr Details vor allem über Lasker zu kennen als ich ( na ja, gelesen hatte ich das alles wohl schon mal, aber wer behält es im Gedächtnis, wenn es ihm nicht wichtig erscheint? ).
Überhaupt scheinst du mit einer Menge Geschichtswissen zu dieser Epoche aufwarten zu können.
Vielen Dank für die Blumen. Übrigens bin ich ein Schachhasser. Ich halte es da mit Hermann Minkowski, der Schach als abstruses und langweiliges Spiel bezeichnet hat.
Gruß
marquee

 
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Übrigens bin ich ein Schachhasser. Ich halte es da mit Hermann Minkowski, der Schach als abstruses und langweiliges Spiel bezeichnet hat.

:sconf: :eek2: Im Ernst?! Wie kann man so ignorant sein? Da denkt man, endlich ein Gleichgesinnter auf kg.de, und dann das.
Vielleicht bringe ich demnächst eine Geschichte, die sich um das Schachspiel dreht. Die bekehrt dich dann hoffentlich... :D

 
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Es ist so. Auch wenn´s deine Begriffswelt sprengt. :cool:

Was ich noch feststellen wollte: ich denke, der Plot der Geschichte ist ok, ebenso die Grundcharakterisierung der Figuren. Ich glaube, da renne ich bei dir aber offene Türen ein. Ich wollte dies bloß einmal explizit gesagt haben, um mir nicht irgendwann einmal anhören zu müssen: wenn du die Geschichte selbst für schlecht hältst, warum stellst du sie dann ein?!

Woran es fehlt, ist die Ausarbeitung.

Gruß :thumbsup:
marquee

 

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