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Scheinwelt
Ich wache auf, weil jemand an meinen Haaren zieht. Mein Mund ist wie ausgedörrt, die Zunge klebt am Gaumen. Ich blinzle vorsichtig. Fahles Morgenlicht dringt durch die Jalousien. Yuma liegt in seinem Schlafsack neben mir und grinst mich mit seinem fast zahnlosen Mund an. In seiner kleinen Faust hält er eine dicke Haarsträhne von mir.
Nebenan randaliert Kianu in seinem Gitterbett. Ben ist offensichtlich nicht nach Hause gekommen. Wahrscheinlich liegt er rotzbesoffen auf irgendeiner Couch. Ich sende ihm eine Textnachricht: „Wo zum Teufel steckst Du?“ Mein Kopf fühlt sich an wie in Watte. Ich stehe langsam auf und tappe barfüßig ins Bad. Erschrocken sehe ich mein Spiegelbild. Das Gesicht ist total verquollen. Die Augen mit den dunklen Rändern sind blutunterlaufen.
Oh Gott, ich bin wieder schwach geworden. Hatte einen furchtbaren Streit mit Ben. Er fühlt sich zu jung für verkackte Windeln und Babybrei, sagt er. Er will, dass wir eine Vollzeit-Nanny einstellen.
Aber ich kann doch meine Babies nicht von fremden Leuten großziehen lassen. Meine Kinder sollen anders aufwachsen als ich. Ohne Mutter, und mein Vater war auch nie für mich da. Auf Fotos mit der Familie posieren, das kann er, den coolen Vater mimen, der scheinheilige Arsch.
Aber als ich ihn dringend gebraucht habe, nach Yumas Geburt, als es mir total dreckig ging, da hat er mich hängen lassen. Das ist jetzt deine Familie, hat er gesagt, du wolltest es so.
Auf jeden Fall hab ich gestern Abend dann Davide angerufen, einen Gelegenheitsdealer, den ich noch aus der Zeit kenne, als ich ständig drauf war. Er hat mir eineinhalb Gramm H vorbeigebracht. Frei Haus. Ich hab gleich eine Line gezogen. Verdammt, warum bin ich nur so schwach?
Das Ganze hat vor ungefähr sechs Wochen wieder angefangen. Auf einer Party. Ein paar von der alten Crew waren da. Koks ohne Ende. Wollte mich ein bisschen aufheitern, das ständige Gestreite mit Ben macht mich total kaputt. Na ja, und seit dem hin und wieder ein bisschen Koks und H. Ich will das nicht, war sogar zweimal heimlich in der Klinik bei einem Therapeuten. Der sagt, er kann nichts für mich tun. Soll mindestens zwei Wochen stationär kommen. Das kann ich aber nicht. Kann die erneute Niederlage vor meiner Familie und vor Ben nicht eingestehen. Ich schaffe es auch so.
Bin immer noch im Bad. Kianu hat inzwischen angefangen zu schreien, er kommt mit seinem Schlafsack nicht alleine aus dem Bett. Schnell klatsche ich mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht und halte dann den Mund an den Wasserhahn, um ein paar gierige Schlucke zu nehmen. Mit dem Handrücken wische ich mir über den Mund und gehe dann in Kianus Zimmer, um ihn aus dem Bett zu holen. Auf dem Wickeltisch steht noch eine angefangene Packung Löffelbiskuit. Ich drücke ihm die Kekse in die Hand und schalte den Fernseher ein. Mein Kleiner liebt Cartoons.
Ich versuche Ben anzurufen, doch es geht nur die Mailbox ran. Der Wichser hat sein Telefon ausgemacht. Fuck you!
Mittlerweile brüllt Yuma auch wie am Spieß. Er verlangt nach seinem Morgenfläschchen. Mein armer Schatz ist schon völlig außer sich, das kleine Gesichtchen tränenüberströmt. Ich nehme ihn hoch und vergrabe mein Gesicht an seinen Hals. Er riecht so süß und unschuldig, dass mir Tränen in die Augen steigen. Wir gehen in die Küche.
Scheiße, kein sauberes Fläschchen, hab wieder vergessen, die Spülmaschine einzuschalten. Ich nehme eine der säuerlich riechenden Flaschen und spüle sie notdürftig aus. Yuma ist vor Hunger außer sich, also keine Zeit für den Wasserkocher. Schnell heißes Wasser aus dem Hahn auf das Milchpulver laufen lassen, ein bisschen schütteln, fertig. Ich lege ihn in seine Babyschale vor den Fernseher, wo er in kräftigen Schlucken die Milch aus dem Fläschchen saugt.
Ich wähle die Nummer von Bens Vater. „Peter, kannst Du heute die Kinder nehmen? Ich brauche unbedingt etwas Zeit für mich. Ben ist wieder abgehauen.“ Peter willigt ein, zumindest Kianu für ein paar Stunden zu nehmen. Beide Kinder sind ihm zu viel.
Als er mit Kianu gegangen ist, hole ich die Schachtel mit den Bildern von meiner Mutter heraus. Yuma ist eingeschlafen.
Immer und immer wieder muss ich die Bilder von meiner Mutter ansehen. Mama, Helen und ich mit Gummistiefeln in unserem Garten in Blankenese. Mama in einem Wahnsinnskleid mit Jo auf dem roten Teppich bei irgendeiner Premiere. Mama als junges Mädchen, und als Kind. Wir sehen uns sehr ähnlich.
Es tut so verdammt weh. Meine Eingeweide fühlen sich an wie ein dicker, klumpiger Knoten. Ein Gemisch aus Tränen und Rotz läuft in meinen Mund. Manchmal hasse ich sie dafür, dass sie uns einfach im Stich gelassen hat. Aber ich kann auch verstehen, dass ihr das alles zu viel geworden ist. Mir ist das hier auch manchmal zu viel. Die Zeitungen schreiben: „Chiara hat es geschafft. Sie ist glücklich mit ihrer Familie.“ Die ganzen Tweets und Instagram Bilder, von mir als Happy-Mama, die perfekte junge Familie, alles eine einzige Farce. Meine Fans schreiben, dass sie so sein wollen wie ich. Das wünsche ich ihnen nicht. Ich schreibe für die „Nido“, als ob ich eine Ahnung von Kindern hätte.
Dabei bin ich völlig überfordert, ich bin doch viel zu jung für zwei Kinder. Und das mit Ben ist auch eine riesen Lüge. Wir fassen uns nicht mal mehr an. Er hat uns schon aufgegeben, will abhauen, durchstarten mit seiner fucking Band. Rock n’Roll, Baby.
Oh Gott, ich brauch jetzt ein bisschen H, die ganze Scheiße einfach ausblenden. Ich kann jederzeit aufhören, ich werde auch aufhören, aber jetzt brauch ich einen Schuss.
Ich habe seit drei Jahren nicht mehr gedrückt. Ganz hinten in meinem Kleiderschrank ist noch ein altes Besteck.
Meine Hände zittern, als ich das schwarze Etui aufmache. Ich hole das Päckchen mit dem weißen Pulver aus dem Versteck in der Küche. Großzügig gebe ich das Pulver auf den Löffel, den kleinen Rest auch noch. Lohnt sich nicht aufzuheben.
Dann ein paar Tropfen Wasser und Zitronensaft. Ich halte das Feuerzeug drunter und warte, bis sich alles gelöst hat. Ich ziehe die Spritze auf. Ich werde es mir in den Oberschenkel drücken, will ja nicht wie ein Junkie mit Einstichstellen im Arm rumlaufen. Ist sowieso das letzte Mal. Dann höre ich endgültig mit dem Scheiß auf.
Ein bisschen Überwindung kostet es mich schon. Aber dann steche ich die Nadel vorsichtig unter die Haut und drücke den Kolben langsam herunter. Sofort überkommt mich eine wahnsinnige Leichtigkeit, ich schließe die Augen und lasse mich aufs Bett fallen. Endlich frei.