Scherben
Es ist gerade erst Mittag und doch fühle ich mich, als wäre der ganze Tag schon vorbei. Als wäre mein ganzes Leben bereits beendet.
Als ich heute Morgen die Schule betrat, war alles noch in Ordnung. Auf meinen Freund freute ich mich, nachdem ich ihn das lange Wochenende über nicht gesehen hatte, und auf meine beste Freundin. Als ich das Klassenzimmer betrat, sah ich sie beide auf einen Blick. Das war auch nicht besonders schwer, so nah, wie sie beieinander standen. Ihre Körper schienen miteinander zu verschmelzen und ihre beiden Köpfe schienen nur einer zu sein. „Markus?“, mehr brachte ich nicht mehr heraus. Als er den Kopf von Lisa abwendete und mich ansah, mit seinen haselnussbraunen Augen, da drehte ich mich um und rannte hinaus. Hielt es nicht länger in einem Klassenzimmer aus, mit den beiden, die ich für die wichtigsten Menschen meines Lebens gehalten hatte. Immer schon haben die beiden sich gut verstanden, aber so etwas... nicht im Leben hätte ich damit grechnet. Und doch – es ist wahr. Ich bin in den Park gerannt, habe mich auf dem alten Spielplatz auf die Schaukel gesetzt und nachgedacht. An ihn habe ich gedacht. Markus Senftner, die Erfüllung meiner Träume. Durch seine Schwester habe ich ihn kennengelernt, vor nun beinahe 4 Jahren. Lena war die Freundin meines Bruders. Sie und ihre Famile wohnten nicht weit entfernt, doch gingen beide, Markus und Lena, auf eine andere Schule, was erklärte, weshalb ich ihn nicht kannte. Ich war erst 12 und er schon 14, doch das machte nichts: Als ich ihn sah, verliebte ich mich in ihn. Auf den ersten Blick. Lena muss es wohl sofort gemerkt haben, immer öfter lud sie auch mich auf ihre Geburtstagsfeiern oder Grillpartys ein. Sie war bereits 16 und für mich ein großes Vorbild. Durch sie lernte ich, wie man sich schminkt, sie brachte mich dazu, dass ich mich rasierte oder mir die Augenbrauen zupfte. Mit ihr kaufte ich meinen ersten BH. Lena war für mich wie eine große Schwester, deswegen wunderte es auch keinen, wenn ich oft bei ihr daheim aufzufinden war. Keiner wäre je auf die Idee gekommen, dass einer der Hauptgründe meines Aufenthaltes bei Senftners ihr Bruder Markus war. Wenn ich ihn nur einmal am Tag sah, legte ich mich selig schlafen und mein Tag war gerettet. Doch da er älter war, hatte er keine Augen für mich. Auf den Feten, die Lena schmiss, lud er sich seine eigenen Freundinnen und Freunde ein und ließ mich gänzlich links liegen. Ich durfte zusehen, wie er Flaschendrehen mit Maike, Leonie und wie sie alle hießen, spielte, wie er sie küsste. Es tat mir ungeheuer weh und doch wusste ich nicht, wie ich seine Aufmerksamkeit auf mich lenken konnte. Lena merkte mir an, was los war und wieder einmal handelte sie, ohne groß etwas zu sagen. Ich weiß bis heute nicht, was genau sie eigentlich getan hat, doch anscheinend hat sie mit ihrem Bruder gesprochen. Bei der nächsten Grillparty, die wir gemeinsam feierten, lud er mich jedenfalls auf einmal zum Mitspielen ein. Es war mir peinlich und ich bin sicher, ich lief tomatenrot an, doch selbstverständlich ging ich mit. Markus stellte mich all seinen Freunden vor. Ich war überglücklich, bisher hatte ich immer gedacht, er wisse nicht einmal meinen Namen, doch da hatte ich mich allem Anschein nach geirrt.
Meinen ersten Kuss habe ich an so einem Abend bekommen, und zwar von Markus. Das war der glücklichste Tag meines Lebens. Ich war mittlerweile schon 13 und er 15, doch das Ritual des Flaschendrehens war immer noch beständig. Markus und ich kamen mittlerweile sehr gut miteinander aus, waren sogar ein wenig befreundet. Auf keinen Fall war ich nur mehr Luft für ihn.
Und als wir dann eins Abends wieder spielten, da zauberten Maike und Leonie plötzlich eine Flasche Alkohol aus ihren Rucksäcken hervor. Für mich war es der erste Kontakt mit Alkohol, doch den andern merkte ich an, dass sie wohl schon öfter getrunken hatten. Ich wollte nicht unerfahren oder ängstlich wirken, und als Lukas (ein Freund von Markus) mir die Flasche hinhielt, langte ich zu. Bevor ich jedoch einen Schluck trinken konnte, riss mir Leonie die Flasche wieder aus der Hand. „Spinnst du?“, schmipfte sie. „Du bist gerade mal 13, das hier ist hochprozentiger Alkohol, meinst du, du kriegst davon was ab? Ich bin doch kein Unmensch...“ Lukas und Maike lachten nur, doch Markus legte den Arm um mich und grinste Leonie frech an. „Hey, wenn unser Nesthäkchen mal probieren will, lass sie doch! Wie alt warst du denn, Leo? Nun tu mal nicht so, was sind schon 2 Jahre?!“ Leonie zuckte nur die Schultern und gab die Flasche Markus. „Auf deine Verantwortung!“, sagte sie noch. Er sah mich fragend an und ich nickte. Als er mir dann die Flasche gab, nahm ich einen großen Schluck. Mein Gott, ich muss heute noch lachen, wenn ich daran denke, wie es mir im Hals gebrannt hat. Das war ein Gefühl, wie ich es bis dahin noch nicht kannte. Ich muss den Mund verzogen haben oder so etwas, jedenfall lachten die anderen 4, auch Markus, als sie mich gespannt beobachteten. So lustig fand ich das alles nicht, doch ich hielt den Mund, wollte mich nicht unbeliebt machen. Die Flasche ging weiter um und wir alle, auch ich, tranken noch daraus. Schließlich kamen wir auf das Thema Bezeihung und Liebe zu sprechen, nachdem wir alle durch den Alkohol schon etwas lockerer waren. Ich als die Kleinste hatte was das anging noch gar keine Erfahrung, auch, weil ich seit über einem Jahr nur Augen für Markus hatte. Maike und Lukas waren ein Paar und jeder merkte, dass Leonie für Markus schwärmte, ebenso wie ich. Nur wusste das natürlich keiner, oder zumindest nicht offiziell.
Als nun die Frage rumging, wer was von wem „wollte" war das bei Maike und Lukas natürlich klar. Dann war Leonie an der Reihe, mal Klartext zu reden. Natürlich wehrte sie sich dagegen. "Soll doch die Kleine erstmal reden!", rettete sie sich auf meine Kosten. Nun lachten die anderen zwar einmal nicht mich aus, sondern Leonie, doch keiner bestand darauf, dass sie zuerst den Mund aufmachte. Im Gegenteil, alle sahen mich ungeheuer erwartungsvoll an. Ich stammelte nur vor mich hin und wusste nicht was ich sage sollte. "Kommt, was nützt das?", sagte Lukas irgendwann. "Das Küken kriegt den Mund ja doch nicht auf. Und wen kennen wir schon in ihrem Alter?" "Na ja", sagte ich plötzlich mutig, "wer sagt denn das der Kerl in meinem Alter sein muss?" Verwundert sah Lukas mich an und Leonie und Maike fingen an zu lachen. Markus jedoch sah mich nur grinsend und erwartungsvoll an. "Spuck's schon aus!", rief Maike. "Das kann sie nicht, sie will dich ja nicht eifersüchtig machen! Is doch klar, dass es hier um mich geht...", neckte Lukas sie. Als er das sagte musste ich kichern, denn das war nun wirklich abwegig. Nun, Lukas sah nicht schlecht aus... Doch er war das genaue Gegenteil von Markus. Er hatte blonde Haare, die er etwas länger trug und blaue Augen – absolut nicht mein Typ. Lukas tat als wäre er beleidigt und Maike kümmerte sich selbstverständlich sofort um ihm, während Leonie und Markus mich weiter herausfordernd ansahen. "Ach komm, es hat echt keinen Sinn!", sagte Markus irgendwann.
Keine Ahnung, ob es so war, oder ich mir das nur einbildete, doch ich hörte aus seiner Stimme eine gewisse Enttäuschung hinaus. Und als ich das hörte, sah ich ihm plötzlich tief in die Augen und sagte: "In wen soll ich schon groß verknallt sein, der in meinem Alter wäre? Wo ich doch seit einem Jahr keinen anderen Jungen als dich ansehe!" Nun sahen sogar Lukas und Maike auf, die zuvor noch mit sich selbst beschätigt gewesen waren und die 4 starrten mich ungläubig an. "Wie jetzt?", sagte Leonie. "Das habt ihr doch alle verstanden...", murmelte ich. Leonie fing an zu lachen, sie dachte wohl, ich hätte überhaupt keine Chance bei Markus. Und das dachte ich selbst auch. Doch plötzlich kam er näher zu mir und sah mir ganz tief in die Augen. "Echt jetzt?", fragte er. Ich sah ihn nur unsicher an, nickte jedoch. Dann schloss ich die Augen und bevor ich's mich versah, lagen seine Lippen auf meinen. Weiche, warme Lippen. Er küsste mich zärtlich und ich erwiderte seinen Kuss, ganz automatisch. Plötzlich öffnete er seinen Mund. Zuerst erschrak ich sogar ein wenig, doch als seine Zunge tastend in meine Mundhöhle fuhr, war das wunderschön. Ich schob auch meine Zunge hinüber, wusste instinktiv, was zu tun wat. Ich denke, so geht es jedem beim ersten Kuss. Das war jedenfalls der schönste Abend meines Lebens.
Ab diesem Tag waren wir zusammen. Mensch, wie Leo nach diesem Kuss geguckt hat, werde ich wohl niemals vergessen. Sie kenne ich übrigens auch immer noch und wir sind mittlerweile recht gute Freundinnen. Doch nichts reicht an die Freundschaft mit Lisa heran. Dachte ich jedenfalls bis heute morgen immer... Und jetz liegt mein Leben in Scherben vor mir...ich weiß nicht was ich tun soll! Als ich die Haustür öffne, springt mir mein Hund entgegen, doch ich weise ihn ab. Habe jetzt keine Lust auf Zärtlichkeiten, egal mit wem. Der Kleine guckt mich kurz beleidigt an und verzeiht sich dann wieder in sein Körbchen. Frustriert schmeiße ich meinen Rucksack in die Ecke und verziehe mich in mein Zimmer. Meine mutter wird sich wundern, weshalb ich schon so früh wieder da bin. Tja, soll sie doch. Mit ihr werde ich sowieso nicht darüber reden. Und richtig – da steht sie schon im Türrahmen."Mia?", fragt sie. "Mir war nicht gut.", erkläre ich ihr schnell. Und das ist noch nicht einmal geloegn, mir war ja wirklich nicht gut. Speiübel war mir, als ich gesehen habe, wie er ihr die Zunge in den Hals steckte! Als meine Mutter aus meinem Zimmer wieder draußen ist, drehe ich den Schlüssel im Schloß, drehe meine Stereoanlage voll auf und werfe mich auf mein Bett. Sein Foto hole ich unter meinem Kopfkissen hervor, wo es immer liegt. Und als ich wieder einmal in seine haselnussbraunen Augen blicke, kommen sie endlich, die Tränen. Und ich weine. Weine, bis ich keine Stimme mehr habe und auch keine Tränen mehr.
Dann schlafe ich ein.