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Stark gekürzt und überarbeitet - 2. Chance
Schnee, Blut, Holz
Ich begann mein Eheleben in der tiefschwarzen Stunde vor dem Morgengrauen, zitternd vor Kälte. So hatte es mein Gemahl verlangt. Und meine Eltern hatten genickt. So wie sie nur genickt hatten, als mein Mann sie mit dem Brautgeld in einem Leinensack vor den Toren der Burg wegschickte – mein Vater mit unnahbarem Gesicht, meine Mutter mit roten, feuchten Augen.
Nun fielen die eisenbewehrten Tore hinter mir zu und setzten krachend einen Schlusspunkt hinter mein bisheriges Leben. Ich schluckte trocken. Ich würde lernen müssen, diesen Ort zu lieben. Welche Wahl hatte ich denn?
Obwohl Fackeln Pfützen aus Licht in den Burghof warfen und Musikanten an mehreren hohen Feuern spielten, wirkten die Menschen, die rundum tanzten, seltsam freudlos. Die Schatten zwischen den Feuern und Fackeln lagen wie unüberwindbare Gräben zwischen den Tänzern. Nur mein Gemahl und ich schritten gleichermaßen durch Licht und Dunkelheit.
Schon bald führte mein Mann mich fort von diesem schalen Fest und hin zu seiner Wohnstatt. Hinter dem schwarzen Portal des Wohnhauses herrschte Stille. Außer uns wohnte dort nur seine Tochter, eine blasse, junge Frau, die ich nach der Zeremonie nicht mehr gesehen hatte.
„Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Sie schläft tief und fest, und der Morgen graut schon bald“, sagte mein Mann. Ich war dankbar für diese Worte, denn angesichts der Hochzeitsnacht fühlte ich mich schüchtern und befangen. Mein Mann war stattlich, gutaussehend, aber beinahe zwanzig Jahre älter als ich, und seine Schläfen begannen sich silbern zu färben. Und während ich unerfahren war, hatte er bereits mehrere Ehen hinter sich: Ich war bereits seine dritte Gemahlin. Die Erste, die Mutter seiner Tochter, hatte das Kindbett nicht überlebt, die Zweite war an der Schwindsucht gestorben.
Jetzt führte er mich zu seiner Schlafkammer, hob mich über die Türschwelle, drehte sich dann nochmals um, wie um in die Stille in den Fluren zu lauschen. Verlegen setzte ich mich aufs Bett. Das Blut rauschte in meinen Ohren, und meine Kehle war zu eng für meinen heißen Atem. Mein Mann lächelte, setzte sich zu mir und streichelte mir sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann hauchte er die Kerze aus.
Am nächsten Tag hängten die Diener unser Laken aus dem Fenster. Der Blutfleck auf dem Laken war weithin sichtbar. Mehr Blut, als ich erwartet hatte, doch der Schmerz war harmlos gewesen. Trotzdem schämte ich mich ein wenig, dass mein Mann meine Entjungferung so schamlos zur Schau stellte.
Am Frühstückstisch sah er zufrieden aus.
Ich sah mich nach seiner – unserer – Tochter um. Gestern bei der Hochzeit hatte sie mich mit einer Mischung aus distanziertem Interesse und Mitleid angesehen. Angesichts ihrer kühlen Anmut stolperte ich über meine Kleider ebenso wie über meine Worte. Meine verworrenen Sätze waren an ihrer steinernen Mine abgeperlt, meine nach ihr ausgestreckten Hände hatte sie ignoriert. Aber sie war jetzt meine Tochter, und ich wollte keine schlechte Stiefmutter sein. Also fasste ich mir ein Herz und fragte meinen Mann nach ihr. „Wird sie uns zum Frühstück nicht Gesellschaft leisten?“ Ein lautes Scheppern entband ihn von einer Antwort: Einer Dienerin war ein Teller aus der Hand gefallen. Hektisch bückte sie sich nach den Scherben, ein Schleier aus blondem Haar vor dem geröteten Gesicht. So ungelenk stellte sich das arme Mädchen in ihrer Verlegenheit an, dass sie sich an den Scherben schnitt. Blut tropfte auf den Boden und sammelte sich dort zu einer kleinen Pfütze. Mein Mann tätschelte meine Hand und versicherte mir mit gelassener Stimme, dass die Abwesenheit seiner Tochter nichts Ungewöhnliches sei.
Zu meiner Scham war ich erleichtert, dass sie meinem Hochzeitsfrühstück nicht beiwohnen würde. Dankbar wies ich die Dienerin an, einen Teller mit Frühstück für meine Stieftochter bereitzumachen und zu ihr zu bringen. Die Magd sah mich flehend, beinahe verzweifelt an. „Herrin, ich …“ Sie verstummte. Mein Gesicht wurde heiß. Reichte es nicht, dass meine Stieftochter mich abweisend behandelte? Würde selbst die Magd sich mir widersetzen, mich bloßstellen? Doch mein Mann lächelte gequält und nickte der Dienerin zu. „Mach, was deine Herrin verlangt“, sagte er streng. “Meine Tochter wird sich stärken wollen nach dem Trubel der letzten Nacht.“ Und die Dienerin gehorchte, die verletzte Hand an ihren Körper gepresst. Tränen liefen über ihr Gesicht.
Später, es dämmerte bereits, kam mein Mann in mein Gemach. Er hatte ein Brautgeschenk für mich dabei – einen silberverzierten Spiegel aus blankem Kupfer, so groß wie er selbst. Er ließ ihn von zwei Knechten so aufstellen, dass er die Tür zu meinen Gemächern reflektierte. Der Rahmen des Spiegels war kunstvoll gefertigt: Blumen, Sterne und seltsame Tiere verflossen ineinander und machten mich ganz schwindelig im Kopf. Ich bedankte mich herzlich. Der Spiegel musste ein Vermögen wert sein. „Sieh nur zu, dass er immer auf die Tür zeigt“, sagte er. „So kann er dir etwas über jeden verraten, der bei dir ein und aus geht.“ Die Mine meines Mannes sah dabei so düster aus, dass mir bang ums Herz wurde. Ich hob das Kinn und schob das Unbehagen energisch zur Seite. Was für eine alberne Gans ich war! Ich würde mein neues Leben lieben lernen. Also sagte ich meinem Mann, dass der Spiegel mir zeigte, dass mein Ehemann stattlich war und wir ein schönes Paar, und dass er mich küssen könne, wenn er wolle. Mein Mann blieb noch ein Weilchen.
Ehe er mich später wieder verließ, mahnte er mich noch, niemals jemanden über die Kammerschwelle zu bitten, wenn er nicht dabei sei. Ich versprach es, und erneut ließen mich seine Worte und mehr noch sein bedeutungsschwangerer Blick frösteln. Und wieder musste ich mich zur Ordnung rufen, dieses Gefühl streng zur Seite schieben. Ich würde mir keine Angst einjagen lassen. Dieses neue Leben war meinWeg heraus aus der Armut meines elterlichen Haushaltes, und ich würde es nach meinem Willen formen!
Ich setzte mich an ein Fenster und blickte in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Wie herrlich rot sie hinter den Bergen versank! Eine ganze Kette aus weichen Hängen mit schroffen, karstigen Felsenkronen zog sich über den Horizont. Ich versuchte mir die Namen ihrer sieben Gipfel ins Gedächtnis zu rufen. Hinter diesen Bergen lebten Wilde. Kleinwüchsige, hässliche, bärtige Leute, sagte man, mit einem Hang zu schwarzer Magie. Mir schauderte wohlig, während der Himmel sich schwarz färbte und die ersten Sterne aufblinkten.
Ein kalter Wind fuhr aus der Dunkelheit in meine Kammer. Gerade wollte ich die Fensterläden schließen, als ich eine schlanke Gestalt unten im Hof über die Mauer schauen sah. Das musste meine Stieftochter sein. Ich beschloss, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und vor dem Abendbrot ein paar freundliche Worte mit ihr zu wechseln. Und ich hatte Glück: Als ich unten im Hof ankam, stand sie noch immer da, im Schein der eben angezündeten Fackeln. Ich trat zu ihr. Sie war von einer strengen, edlen Schönheit, die mir einen eifersüchtigen Stich versetzte: Ihr ebenholzschwarzes Haar fiel wie ein glänzender Wasserfall bis zu ihren sanft geschwungenen Hüften hinab. Ihre Stirn und Wangen schimmerten wie frischgefallener Schnee, und ihre vollen Lippen waren rot behaucht auf ihrer mondhellen Haut. „Wie schön du bist!“ platzte es aus mir heraus. Ihre Augen funkelten amüsiert. „Danke für das Frühstück, Stiefmutter“ sagte sie. Ihre Zunge flitzte kurz rot und glänzend über ihre prallen Lippen. Der Anblick ließ meinen Atem stocken, und wie bei meiner Hochzeit purzelten meine Worte ungelenk übereinander. „Das … gerne, natürlich“, druckste ich schließlich. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht wie ein Schatten über den Mond. Sie sah mich so unverwandt an, dass ich errötete. Verlegen suchte ich nach weiteren Worten, doch ihr Blick hatte sich abgewandt. Sie sah hinauf auf das Laken, das noch immer aus dem Hochzeitsgemach hing. Sie sog scharf die Luft ein, als wäre ihr ein Duft in die Nase gestiegen. Dann biss sie sich sanft auf die Lippen, zwinkerte mir zu, und ging zum Haus zurück.
Fröstelnd folgte ich ihr ins Haus und zur Halle, in der bereits das Abendessen serviert wurde. Ich setze mich zu meinem Mann. Eine mir noch unbekannte Magd servierte das Essen. „Das Mädchen vom Frühstück kommt heute wohl nicht wieder?“ Niemand antwortete mir. Mein Mann wich meinem Blick aus. „Ich meine das arme Mädchen, das sich verletzt hat?“ versuchte ich es nochmal. Meine Stieftochter kam mir unerwartet zu Hilfe: „Gute Magd, weißt du, was mit dem Mädchen geschehen ist? Nimmst du nun ihren Platz ein?“ fragte sie das Mädchen lächelnd, ihre Augen groß und schwarz wie die Nacht. Die Magd wich meinem Blick aus, der Kiefer trotzig gereckt. Ihre Knöchel waren weiß um den Henkel der Karaffe, aus der sie meiner Stieftochter einen Becher mit Rotwein befüllte. Doch ehe sie antworten konnte, winkte mein Mann das Thema ungeduldig ab und warf mir einen tadelnden Blick zu. Der Wein war schwarz und ölig im Licht der Kerzen. Ich war froh, dass die Dienerin es versäumte, mir einen Becher anzubieten.
Einige Wochen strichen ins Land, in denen ich mich langsam in meiner neuen Rolle einfand. Mein Mann kam regelmäßig in meine Kammer, und ich begann seine Besuche zu genießen. Er erzählte mir viel, war liebevoll in seinen Pflichten. Nur über seine Tochter sprach er nie. Ich selbst sah meine Stieftochter selten, nur dann und wann zum Abendessen. Sie aß wenig und trank viel von ihrem öligen, dunklen Wein, den sie nie jemand anderem anbot. Ich selbst wurde nervös, wenn ich sie traf, und konnte mein klopfendes Herz kaum wieder unter Kontrolle bringen, wenn sie mich musterte. Wie konnte ein so schönes Mädchen solch bange Gefühle in mir auslösen? Ich sagte mir, dass ich mich einfach nicht reif genug fühlte, ihre Stiefmutter zu sein. Denn ohne Frage war sie sehr viel weltgewandter als ich.
Dann kam der Tag, an dem ein Stallmädchen verschwand. Sie war auf dem regennassen Kopfsteinpflaster gestürzt, und hatte sich eine blutende Platzwunde zugezogen. Sie wollte sich zu Bett begeben. Am nächsten Tag war ihre Kammer leer.
An diesem Abend wartete ich lange vergeblich auf meinen Mann, und ich konnte nicht schlafen. Als ich kurz vor Mitternacht endlich ein Klopfen an meiner Kammertür vernahm, war ich erleichtert – mein Mann würde meine Ängste sicher vertreiben können! Doch als ich die Tür öffnete, stand nicht mein Gemahl vor mir, sondern seine Tochter.
„Stiefmutter“ sagte sie, und ich war gefangen vom Rot ihrer Lippen, ihren rabenschwarzen Haaren, die in sanften Wellen um ihr weißes Gesicht wogten. So anmutig war sie, dass ich am liebsten ihre schlanke Taille umfasst und sie an mich gedrückt hätte. Ich verschränkte meine plötzlich schweißfeuchten Hände vor meinem Bauch. Meine Stieftochter folgte der Bewegung meiner Hände mit einem amüsierten Blick. Mir schoss das Blut den Hals hinauf in die Wangen.
Sie holte einen Krug Wein hinter ihrem Rücken hervor. „Wollen wir nicht auf unsere Verwandtschaft trinken, du und ich … Mutter?“ Mein Puls schlug schneller und dröhnte in meinen Ohren. Törichte Gans, dachte ich einmal wieder, sie ist deine Tochter vor dem Herrn, das ist ein Friedensangebot, es gibt keinen Grund für all diese Aufregung. Aber mein Körper war weit klüger als ich: meine Kehle war wie zusammengeschnürt, und ein Teil von mir wollte wegrennen vor dieser jungen Frau mit den glühenden Augen.
Aber ich würde nicht die böse Stiefmutter sein! Mein Leben würde nicht überschattet werden von diesem seltsamen, unheimlichen Mädchen! Ich ballte die Hände zu Fäusten, atmete tief aus, öffnete den Mund, um sie hereinzubitten, und warf dabei einen schnellen Blick in meine Kammer – brannte das Feuer noch, würde es behaglich sein?
Da sah ich aus den Augenwinkeln meinen neuen Spiegel, darin mich selbst, die Türöffnung – und sonst nichts. Ich fuhr herum zu meiner Besucherin. Sie stand da wie zuvor: ein verführerisches Lächeln auf den roten Lippen, das Gesicht hell leuchtend in der Dunkelheit des Flurs, die Haare ein tanzender schwarzer Schatten. Verwirrt sah ich zurück zum Spiegel: Nur mein eigenes Gesicht blickte mir entgegen.
Ein Schauer strich mir mit seinen kalten Fingern über den Rücken. „Du bist so wunderschön“, flüsterte ich in meiner Verwirrung, „aber der Spiegel sagt, du bist nicht hier!“
Das Gesicht meiner Stieftochter veränderte sich kaum merklich. Ihre Schönheit wurde härter, raubtierhaft. Die Anmut eines majestätischen Wolfs, oder eines Falken im Angriff. Ihre Augen bohrten sich in meine. Ihre Lippen entblößten scharfe Reißzähne. Mit aller Kraft stieß ich die Tür zu meiner Kammer zu. Atemlos sank ich zu Boden.
Draußen hörte ich meine Stieftochter lachen, lachen, bis ihre Stimme in den Gängen verhallt war. Mein Blick fiel auf den Spiegel, der kühl und still hinter mir stand. Ich stand auf und betrachtete mich darin. Aber was für ein Wesen, welche höllische Gestalt, hatte kein Spiegelbild? Ich berührte den Spiegel mit meinen Fingerspitzen, fuhr die seltsamen Muster und Formen auf seinem Rahmen nach. „Du seltsamer Spiegel, stehst an der Wand und siehst ihre unendliche Schönheit nicht?“ Mir war klar, dass ich noch immer plapperte wie ein verschrecktes Kind. Endlich begann ich zu weinen. Ich wusste sehr genau, welche Ungeheuer kein Spiegelbild erzeugten. Oh, ich törichte, törichte Gans. Mit aller Gewalt hatte ich nicht verstehen wollen, weggedrängt, was ich seit dem ersten Treffen mit meiner Stieftochter wusste. Als ob ich die Gefahr bannen könnte, wenn ich sie nur leugnete.
Kaum, dass am Morgen der Hahn krähte, lief ich zur Kammer meines Mannes. Ich klopfte heftig an. Schaudernd sah ich dem Blut zu, wie es über meine geballten Fäuste lief und auf den Boden tropfte.
Mein Mann öffnete die Tür – ich hatte erwartet, dass er verschlafen aussehen würde. Stattdessen stand er angekleidet und müde, aber wach in der Tür. Er musterte mich mit blutunterlaufenen Augen. Sein fahriger Blick glitt über mein Gesicht, über meinen Hals. Sah auf meine Hände und das Blut, das an ihnen heruntertropfte. „Mädchen“, seufzte er dann, und er sah erleichtert aus. Er bat mich über die Schwelle und dirigierte mich in einen der hohen Sessel am Feuer. Er selbst blieb stehen, eine Schattengestalt vor dem Kamin. So sehr ich ihn hatte zur Rede stellen wollen, so wenig wollten mir nun die Worte über die Lippen kommen, die mich die ganze Nacht gemartert hatten. Was sollte ich sagen: Ob er wusste, was seine Tochter war? Natürlich wusste er es. „Der Spiegel wird dich warnen“, hatte er zu mir gesagt. Ich schwieg und starrte auf meine blutenden Knöchel.
Schließlich erlöste mein Mann mich. Er sprach, ohne sich vom Feuer abzuwenden. „Ich dachte, du wüsstest es, als ich dich geheiratet habe. Ich dachte, deine Eltern hätten es dir gesagt.“
Ich fuhr auf: „Meine Eltern wussten davon? Dass hier im Haus ein Monster sein Unwesen treibt?“ Dieser Schock saß tiefer als alles, was bisher geschehen war. Mein Mann antwortete nicht. Natürlich hatten sie es gewusst. Deshalb hatte meine Mutter geweint, als wir uns nach der Zeremonie verabschiedet hatten. Und deshalb hatte sie mir geraten, nur das erfreuliche im Auge zu behalten, um nur ja nicht zu bemerken, was hier lauerte. „Sie dachte, Unwissenheit würde mich schützen“, hauchte ich, erschlagen von dieser Erkenntnis. Ich schluckte und rieb wütend eine Träne aus meinem Gesicht. Mein Mann sah endlich auf. „Ich habe ihnen gesagt, ich würde dich vor allem Unbill schützen, und das werde ich auch. Wenn du tust, was ich dir sage, wird dir nichts geschehen. Lass niemanden über die Schwelle, den du nicht im Spiegel geprüft hast. Verlasse deine Kammer nicht nach Sonnenuntergang, wenn du ohne mich bist. Dann kann dir nichts geschehen. Sie wird dir nichts weiter tun.“ Ich war wütend, aber ich war auch erleichtert: Endlich konnte ich, nein, zwang ich mich, klar zu sehen.
„Sie ist ein Vampir, deine Tochter. Sie muss sterben, ehe sie mit ihrer Schönheit noch weitere Opfer einwickelt und umbringt.“
Mein Mann ließ den Kopf hängen. Ich stand auf und sah auf meinen Mann herunter. Zum Ersten Mal erlaubte ich mir, sein Alter wirklich wahrzunehmen – die Krähenfüße um seine Augen und die Sorgenfalten auf seiner hohen Stirn, das Grau in seinen Bartstoppeln, die Wangen, die zu hängen begannen. Er war kaum jünger als mein Vater. Und er war hilfloser, als ich es je von einem erwachsenen Mann angenommen hätte. Ich betrachtete ihn mit einer Mischung aus Mitleid, Verachtung und einer knospenden Gewissheit: Er konnte diesem Ungeheuer, seiner Tochter, nicht Herr werden. Er hatte sie geschaffen, und sie war alles, was ihm von seiner geliebten ersten Ehefrau geblieben war. Er war ein gebrochener Mann, und er wollte und konnte nicht tun, was getan werden musste. Aber ich, ich konnte das. Ich konnte mein Leben nun tatsächlich selbst formen. Ich musste nicht länger verdrängen, was mir Angst machte. Ich war nicht länger ein verschüchtertes junges Mädchen, sondern eine Ehefrau, und eine Burgherrin, und ich konnte meinen schwächlichen, alternden Mann, unseren Haushalt und die Menschen unten in der Stadt schützen.
Ich strich meinem Mann eine Haarsträhne aus dem Gesicht, wie er es getan hatte in unserer Hochzeitsnacht. Ich würde tun, was nötig war, damit dieses Monster, weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz, kein Unheil mehr anrichten konnte. Und der Name meiner blutrünstigen Tochter nicht mehr als ein Schrecken, den man kleinen Kindern einjagte, damit sie artig waren. „Das Schneewittchen“, würden alte Ammen sagen, „kommt dich holen, wenn du nachts Unbekannte über die Schwelle bittest“. Und alle wüssten, dass ich sie vor dem Blutsauger gerettet hatte.
Ich wandte mich von meinen Gram gebeugten Mann ab und ließ den Jäger rufen.