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Schokoladenbraun
Idun runzelte die Stirn, als der Mann seinen Kopf noch tiefer in den Gully steckte. Er sah aus, als suchte er etwas. War ihm etwas hineingefallen? Idun sah zu ihren Freundinnen Cora und Luise, die nichts bemerkt zu haben schienen. Dabei war der Mann doch ziemlich auffällig. Sie schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er sah irgendwie aus, wie ein in Obdachloser. In einer Großstadt keine Seltenheit. Neben dem Mann lagen zwei Taschen auf dem Rasen, vollgepackt mit all seinen Sachen, zumindest vermutete sie das. Die eine war groß und bunt bedruckt, die andere eher unauffälliger.
Idun sah wieder zu dem Mann, wie er da auf der Seite des Wegs lag, Arme und Kopf im Gully. Das Ganze sah irgendwie lustig aus, aber gleichzeitig auch unheimlich. Sie wollte ihre Freundinnen darauf aufmerksam machen, ließ es dann aber doch.
Was der Mann wohl da machte? Sie ließ ihrer Fantasie freien Lauf. Wahrscheinlich ist er gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen, wo er wegen einem Banküberfall gelandet ist, dachte Idun, und jetzt holt er seinen Anteil der Beute ab, den seine Kumpels hier versteckt haben. Sie musste über ihre Gedanken grinsen. Sie hatte wohl schon zu viele Krimis gelesen. Wahrscheinlich hatte der Mann einen ganz simplen Grund für sein Verhalten.
Sie wandte den Blick von ihm ab und lief etwas schneller, um ihre Freundinnen einzuholen, die vor ihr gingen. Sie war unbewusst langsamer gegangen, als sie den Mann beobachtet hatte. Cora und Luise sahen immer wieder zu einem Jungen, der vor ihnen den Weg entlang schlenderte. Idun schätzte ihn auf ein paar Jahre älter als sie, 16 oder 17 vielleicht, aber so genau konnte man das von hinten auch nicht erkennen.
„Mein Gott, was für einen knackigen Arsch der hat!“ Coras leise Stimme klang entzückt. Idun verdrehte die Augen. Das war so typisch für ihre Freundin. Luise schien es genauso zu sehen.
„Der ist doch sicher schon vergeben, Cora“, stöhnte sie. „Und außerdem ist er vielleicht ein klein wenig zu alt für dich.“ Doch Cora schien ihr gar nicht zuzuhören. Sie überlegte wohl, wie sie den Jungen am besten auf sich aufmerksam machen sollte. Idun stieß sie in die Seite.
„Hallo, Erde an Cora, bist du noch da?“, fragte sie und lachte. Auch Luise musste kichern, als Cora Idun ganz erschrocken ansah, als hätte sie bis dahin gar nicht bemerkt, dass ihre Freundinnen auch noch da waren. Sie schien in Gedanken wirklich weit weg gewesen zu sein.
Der Junge drehte sich zu ihnen um, wahrscheinlich, weil jetzt alle drei Mädchen kicherten. Als er ihrem Blick begegnete, hielt Idun den Atem an. Er war gar nicht so alt, wie sie ihn geschätzt hatte, eher so wie sie, vielleicht ein bisschen älter. 15 ungefähr.
Er sah gut aus, viel besser als andere Jungs in ihrem Alter. Irgendwie reifer, nicht so kindisch, obwohl man das wohl eher nicht aus dem Aussehen schließen konnte. Trotzdem war sich Idun ziemlich sicher, dass er nicht so war, wie die meisten Jungen, die sie kannte. Er hatte wunderschöne, schokobraune Augen, dunkle, wuschelige Haare, bei denen sie den Drang verspürte, sie zu berühren, und volle, geschwungene Lippen. Wie es sich wohl anfühlt, ihn zu küssen?, fragte sie sich und wurde rot. Sie sah zu Boden. Cora neben ihr zog zischend die Luft ein. Als Idun sich endlich traute, aufzusehen, hatte der Junge sich wieder umgewandt und war weitergegangen.
„Er hat mich angelächelt“, seufzte Cora glücklich und Idun spürte einen Stich von Eifersucht. Was war nur mit ihr los? Himmel, das war nur ein Junge!
Aber nicht irgendein Junge, dachte sie und sah wieder sein Gesicht vor ihr. Die schokoladenbraunen Augen, mit denen er ihr in die Seele geguckt hatte, so fühlte es sich zumindest an. Die schönen Lippen, die in ihr den Drang geweckt hatten, ihn zu küssen. Nein, das war nicht irgendein Junge. Aber Luise hatte Recht, wer so aussah, war sicher längst vergeben. Idun stellte sich eine attraktive Blondine vor, die mit ihm durch die Stadt schlenderte. Rasch schob sie den Gedanken von sich. Was war nur los mit ihr? Dieser Junge schien sie verhext zu haben.
Den ganzen Tag lang war sie nicht richtig bei der Sache. Ihre Freundinnen schleppten sie mit in tausende von Läden und schienen ihre Abwesenheit gar nicht richtig wahrzunehmen. Erst als sie abends zu Luise nach Hause gingen, bemerkte Cora, dass Idun in Gedanken ganz weit weg war.
„Ist alles in Ordnung, Süße?“, erkundigte sie sich. Auch Luise sah sie jetzt fragend an.
„Ja, alles okay“, beeilte Idun sich zu sagen. „Ich bin nur müde.“ Das stimmte, obwohl es nicht der Hauptgrund war. Zum Glück bohrte weder Cora noch Luise weiter nach.
Bei Luise machten sie es sich auf dem Sofa gemütlich und sahen einen Film. Luises Mutter machte Popcorn für sie und die Mädchen hatten einen schönen Abend. Endlich gelang es Idun, den Jungen aus dem Park für eine Weile zu vergessen. Auch Cora erwähnte ihn zum Glück nicht mehr, sie schien ihn schon wieder vergessen zu haben. Typisch.
Als Idun spät abends schließlich nach Hause ging, wanderten ihre Gedanken wieder zu dem Jungen und dem komischen Mann, den sie im Park gesehen hatte. Eigentlich interessierte sie sich nur für den Jungen. Diese Gefühle waren neu für sie, noch nie hatte sie so etwas für einen Jungen empfunden.
In ihrem Zimmer sah sie in den Spiegel und versuchte abzuschätzen, wie sie auf einen Jungen wirkte. War sie hübsch? Sie betrachtete ihre dunkelbraunen Haare, die ihr leicht gewellt über den Rücken fielen, ungefähr bis zur Taille. Ihre waldgrünen Augen, die in dem wenigen Licht im Zimmer irgendwie geheimnisvoll wirkten. Ihre langen, dunklen Wimpern, die sie nie zu tuschen brauchte. Ihre vollen, roten Lippen.
Schön war sie vielleicht nicht, aber ganz hübsch vielleicht schon. Nichts im Vergleich zu Cora natürlich, mit ihren blonden Locken und den blauen Augen. Sie hatte etwas an sich, das alle Jungs immer ganz verrückt nach ihr waren. Ob sie bei dem Jungen wohl eine Chance hatte? Du bist so dumm, Idun, dachte sie, warum sollte er sich ausgerechnet für dich interessieren? Außerdem wusste sie gar nicht, ob sie ihn je wiedersehen würde. Es war wohl besser, sie vergaß ihn. Wenn sie das konnte.
Gedankenverloren schlenderte Idun an den Geschäften entlang, besah sich ein paar der Schaufenster und beobachtete die Leute, die an ihr vorbeiliefen. Sie hatte es nicht eilig, denn der Film, den sie sich mit Cora und Luise anschauen wollte, kam erst in einer halben Stunde. Ihre Freundinnen waren bestimmt noch nicht da und sie mochte es nicht, als erste im Kino zu sein und dann dumm herumstehen zu müssen.
Den Mann, der vor dem einen der Geschäfte stand, bemerkte sie erst zu spät und so stieß sie mit ihm zusammen.
„Oh, entschuldigen Sie bitte“, sagte Idun erschrocken und ging ein paar Schritte zurück. Der Mann drehte sich um und sie hatte schwer dabei, ihre Überraschung zu verbergen. Das war der Mann aus dem Park! Sie war sich ganz sicher. Nur, dass er gar nicht mehr wie ein Obdachloser wirkte.
„Immer langsam junges Fräulein.“ Seine Stimme klang belustigt. Sie atmete aus. Glück gehabt, er war ihr nicht böse. Sie hatte es schon oft erlebt, dass jemand sie anschrie, wenn sie denjenigen ausversehen angestoßen hatte. So etwas konnte sie gar nicht ab.
Jetzt kam ein Junge hinter dem Mann aus dem Geschäft und Idun stockte der Atem. Das war der Junge aus dem Park! Er bemerkte sie erst gar nicht, sondern wandte sich an den Mann.
„Sie können es leider nicht reparieren, Papa.“ Papa. Das Wort klang komisch aus seinem Mund. Die Bedeutung erfasste sie erst einige Sekunden später. Dieser komische Mann war sein Vater? Aber was hatte er dann da vor ein paar Tagen im Park gemacht?
Der Blick des Jungen wanderte zu Idun und wieder versank sie in seinen wunderschönen Schokoladenaugen.
„Hey“, sagte er. Idun blinzelte.
„Äh, hi“, erwiderte sie und wandte nur mühsam ihren Blick ab. Ihr Herz hüpfte wie wild in ihrer Brust, ihr Atem ging stockend. Der Junge wechselte einen Blick mit seinem Vater, dieser zwinkerte den beiden zu und ging dann weiter. Der Junge wandte sich wieder zu Idun. Er fuhr sich nervös durch die Haare. Oder bildete sie sich nur ein, dass er nervös war, weil sie selbst vor Aufregung kaum stillstehen konnte?
„Wie heißt du eigentlich?“ Er brach das langsam etwas unangenehme Schweigen zwischen ihnen. Seine Frage überraschte sie. Wollte er das wirklich wissen? In ihrem Bauch kribbelte es, und sie fragte sich, ob er wohl genauso fühlte.
„Idun“, sagte sie.
„Schöner Name.“ Er grinste. „Habe ich noch nie gehört, aber hübsch. Passt zu dir.“ Idun errötete leicht. Fand er das wirklich?
„Der Name kommt aus der nordischen Mythologie. Meine Eltern heißen Freya und Thore, und da in der Mythologie Idun die Tochter von Freya und Thor ist, haben sie mich so genannt, obwohl weder ich noch mein Vater rote Haare haben.“ Oh Gott, erzählte sie ihm das gerade wirklich? Er musste sie doch für einen totalen Streber halten, und selbst wenn nicht, wen interessierte das? Es war immer so; wenn sie nervös war, redete sie zu viel.
„Cool“, erwiderte er und schien es ehrlich zu meinen. „Ähm… Du hättest nicht zufällig Lust dazu, dich mal mit mir zu treffen?“ Er biss sich auf die Lippe und sah zu Boden. Meine Augen weiteten sich. Hatte er mich gerade nach einem Date gefragt? Mein Herz klopfte noch schneller, wenn das überhaupt möglich war.
„Doch, schon.“ Jetzt musste sie lächeln. Er mochte sie. Jetzt konnte sie sich sicher sein. Er hatte nicht Cora gefragt, sondern sie. Gut, Cora war gerade nicht dabei, aber trotzdem.
„Wirklich?“ Er sah sie wieder an und seine Augen blitzten. „Cool. Gibst du mir deine Nummer? Dann ruf ich dich an.“ Idun viel auf, dass er oft das Wort cool verwendete, doch es störte sie nicht. Sie schrieb ihm ihre Handynummer auf einen kleinen Zettel, den er zusammen mit einem Stift aus seiner Tasche gezaubert hatte.
„Ich muss jetzt leider los. Mach‘s gut, Idun“, sagte er und wandte sich um. Die Art, wie er ihren Namen aussprach, löste wieder ein Kribbeln in Iduns Bauch aus. Als er sich schon ein Stück von ihr entfernt hatte, fiel ihr ein, dass er ihr gar nicht seinen Namen gesagt hatte.
„Hey, warte mal“, rief sie und er drehte sich wieder zu ihr um. Sie lief zu ihm.
„Ja?“ Wieder dieses Grinsen, das ihr Herz hüpfen ließ.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Idun.
„Ach so, habe ich das noch gar nicht gesagt?“ Er lachte. Er hatte ein wunderschönes Lachen, fand sie. „Ich bin Lukas. Lukas West.“
„Okay.“ Sie lächelte. Dann rief Lukas‘ Vater nach ihm.
„Tschüss, Idun“, sagte er und lief dann zu seinem Vater. Sie sah ihm nach und lächelte wieder.
„Tschüss, Lukas“, flüsterte sie.
„Mein Gott, was soll ich nur anziehen?“ Iduns Stimme klang verzweifelt. Cora musste sich ein Lachen verkneifen, was ihr einen bösen Blick von Luise einbrachte. Idun hatte ihre Freundinnen um Hilfe gebeten. Gestern hatte Lukas sie endlich angerufen und sich entschuldigt, dass er erst so spät gemeldet hatte. Sie hatte schon gedacht, er hätte sie vergessen. Die beiden hatten sich für heute verabredet und nun stand Idun vor dem großen Problem, dass sie nicht wusste, was sie für ihr erstes Date anziehen sollte.
„Jetzt beruhig dich Mal, Süße“, sagte Luise. „Wir finden schon noch was.“ Sie und Cora durchwühlten weiter Iduns Kleiderschrank, während Idun sich auf ihr Bett fallen ließ und tief durchatmete. Sie war total nervös und hätte Lukas am liebsten abgesagt. Andererseits wollte sie ihn unbedingt wiedersehen. Sie seufzte leise. Verliebt sein war so kompliziert.
„Ich hab was gefunden!“, sagte Cora triumphierend. Sie hielt ein schlichtes dunkelgrünes Kleid in die Höhe. „Das ist genau richtig, meinst du nicht?“ Sie sah zu Idun und Luise. Idun schaute skeptisch, Luise jedoch nickte.
„Das ist super. Hübsch, aber schlicht. Lukas wird dich lieben“, sagte Luise. Idun wurde rot.
„Okay, ich zieh es mal an“, gab sie nach.
Cora und Luise hatten recht gehabt, das Kleid sah wirklich bezaubernd an ihr aus. Der weiche Stoff schmiegte sich an ihren Körper, der Tellerrock umspielte ihre Beine und die Farbe ließ ihre dunkelgrünen Augen leuchten. Idun zupfte das Kleid zurecht, als sie vor dem Spiegel stand und sich von allen Seiten genau betrachtete. Sie sah wirklich hübsch aus, das musste sie jetzt auch selbst zugeben.
„Ja, das Kleid nehme ich.“ Cora nickte zufrieden und fing dann an, Iduns Haare zu einem lockeren Zopf zu flechten, der ihr über die Schulter fiel. Ein paar Strähnen löste sie daraus und sie umrahmten in weichen Locken ihr Gesicht.
„Soll ich dich noch schminken?“, wollte Cora wissen. Idun schüttelte den Kopf. Sie wollte es nicht übertreiben.
„Würde ich auch nicht machen“, meinte Luise. „Komm, wir suchen noch ein paar passende Schuhe.“ Die Mädchen entschlossen sich schließlich für zierliche braune Riemchensandalen. Idun legte noch eine kleine, feingliedrige Kette um, an der ihr Glücksbringer hing, ein silbernes Kleeblatt, und befestigte dazu passende Ohrringe an ihren Ohrläppchen. Dann musste sie auch schon los, um nicht zu spät zu kommen. Sie wurde immer nervöser, was ihre Freundinnen natürlich bemerkten.
„Hey, du siehst wunderschön aus, Idun. Mach dir keine Gedanken, okay?“ Luise lächelte ihr aufmunternd zu. Cora drückte kurz ihre Hand.
Sie nahm ihre Handtasche, in die sie alles Wichtige gepackt hatte, umarmte ihre Freundinnen und machte sich auf den Weg.
Mit klopfendem Herzen betrat Idun das Café, in dem sie sich mit Lukas treffen wollte. Sie sah sich um. Es war wirklich gemütlich hier. Auf den kleinen Tischen lagen karierte Deckchen und darum herum standen verschiedene Sessel und kleine Sofas. Sie sah sich um und entdeckte Lukas an einem kleinen Tisch am Fenster. Er begegnete ihrem Blick, sie lächelte und er winkte sie zu sich herüber.
Sie ging zu Lukas und setzte sich ihm gegenüber. Er musterte sie kurz und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Seine schokoladenbraunen Augen blitzten. Idun errötete leicht. Er fand sie schön! Ihre Blicke verschränkten sich miteinander und sie versank in seinen Augen.
„Hey, Schatz, was darf es für euch sein?“ Idun zuckte zusammen. Ein hübsches Mädchen mit blonden Locken war an ihren Tisch getreten. Sie sah Lukas verführerisch unter ihren langen schwarzen Wimpern hervor an und schenkte auch Idun ein kurzes Lächeln.
„Hey Süße“, erwiderte Lukas zu Iduns Entsetzten. Er legte dem Mädchen seine Arme um die Hüfte, zog sie zu sich hinunter und küsste sie mitten auf den Mund.
Idun saß mit offenem Mund da. Erst langsam registrierte sie, was da gerade ablief. Ihr stiegen Tränen in die Augen, während sie aus dem Café stürzte. Nein. Nein, nein, nein, das konnte doch nicht wahr sein. Tränen verschleierten ihre Sicht. Warum? Wie konnte Cora ihr das nur antun?