Mehrere User haben dich bereits darauf hingewiesen, dass ein statistisches Summieren der Lese- und Schreibfähigkeit von Sieben- bis Fünfundzwanzigjährigen zum Heraufbeschwören dieser von der SZ und dir (?) herbeigedachten Variable Quatsch ist.
Um dem Streit um die Prozentzahlen und die (Un)Korrektheit der Statistiken ein Ende zu machen: Fakt ist, dass wir 6,2 Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland haben, das sind 7,75 % der Bevölkerung, zu der bekanntlich auch Babies und Kleinkinder zählen, die naturgemäß noch gar nicht lesen können. Deswegen war es richtig, die funktionalen Analphabeten erst ab der 2. Grundschulklasse zu zählen, und noch richtiger wäre es, nicht beim 25 Lebensjahr halt zu machen, sondern alle Erwachsene mit einzubeziehen.
Die Stimme der meisten Wähler wird vermutlich auf Basis der knappen Werbeslogans (sei es nun mündlich oder auf Wahlplakat) abgegeben …
Nein, die meisten wissen zu unterscheiden zwischen den Parolen auf Wahlplakaten und dem, wofür eine Partei wirklich steht. Einem Slogan wie „Ein Männlein steht im Walde, ganz grün und dumm.“ – das hat die CSU mal gebracht, um die Grünen zu desavouieren – glaubt doch kein informierter Mensch, sondern nur einer, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat.
Die Medien verändern sich, E-Book-Reader, Tablets, Streaming-Dienste, YouTube etc. arbeiten Lesestoffe anders auf. Das muss per se nicht schlimm sein.
Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen einem Buch und einem Video: Das erste lässt Raum für die eigene Fantasie, das andere erfordert eine ständige Konzentration auf die Bilder, für eigenes Denken ist da kein Platz oder höchstens ganz am Ende, wo aber oft schon das nächste Video wartet. Videos sind zudem absichtlich so gemacht, dass man dran bleiben muss, weil schon nach einer Minute, in der „nichts“ geschieht, die Abbruchtaste droht. Netflix weiß davon und
versucht dagegen zu steuern.
Und wenn ich morgens in S-Bahn und Bus die Schüler beobachte, die häufig dicke Schinken mit gut 600 Seiten mit sich schleppen, dann spricht das nicht gegen ihre Konzentrationsfähigkeit.
Das habe ich auch schon gesehen und nie in Abrede gestellt. Aber es sind vor allem Mädchen und Frauen, die diese dicke Bücher lesen, was auch die Untersuchungen bestätigen: Sie sind lesekompetenter als Jungs und Männer.
Mich stört es vielmehr auf andere herabzuschauen, weil sie nicht Arte, sondern GNTM oder DSDS schauen, Rita Falk lesen und nicht Dostojewski.
Es liegt mir fern, auf irgendjemand herabzuschauen, habe doch in meiner Kindheit und Jugend selbst Abenteuerromane verschlungen und in der klassischen Musik ganz profan mit „Eine kleine Nachtmusik“ und „Divertimento K. 136“ von Mozart angefangen (die Platte, auf der die beiden Stücke drauf sind, habe ich immer noch, aber leider keinen Plattenspieler mehr).
Zum einen schließt das eine das andere nicht aus …
Ganz genau.
Und ehrlich gesagt, ich habe Leute gekannt (die meisten sind schon tot), die jeder Zeit wieder braun gewählt hätten, hätte es die Möglichkeit gegeben, auch nachdem sie Krieg, Leid, Tod und Holocaust am eigenen Leib erlebt haben. Das war kein Mangel an Bildung.
Klar. Hier spielt eher das Unvermögen eine Rolle, einen Fehler nicht zugeben zu können.
Es ist daher naiv zu denken, dass ein gebildeter Mensch nicht rechts oder gar braun wählen würde. Es gibt immer Personen, die von einem Unrechtsstaat profitieren und dafür alles andere in Kauf nehmen.
(…)
Politische Bildung ist wichtig, um solche Mentalitäten nicht erneut als Massenphänomen aufkeimen zu lassen.
Weil damals zu viele weggeschaut und geschwiegen haben, muss man sich zu Wort melden, wenn diese Hydra wieder den Kopf hebt, weil sie meint, es sei genug Zeit vergangen, um alles, was einst geschehen, vergessen zu lassen. Stichwort: Fliegenschiss der Geschichte.
In dieser Verantwortung sehe ich mich aber nicht unbedingt als Schriftstellerin. Da bietet die Politik eine viel bessere Plattform und nicht zuletzt die Familie, die in erster Linie für die Wertevermittlung verantwortlich ist, knapp gefolgt vom sozialen Umfeld, zu dem mitunter auch Schulen gehören.
Das ist natürlich richtig. Dennoch gebe ich dir zu bedenken: Wenn jeder auf andere zeigt, die es richten sollen, tut am Ende keiner was. Texte in der Rubrik Gesellschaft, die sich mit der augenblicklichen Lage in Deutschland und in der Welt auseinandersetzten, sind Mangelware. Meistens wird da menschliche Schwäche thematisiert, was fast automatisch jeden Fall als Einzelfall erscheinen lässt.
Der Rechtsruck aber ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das in den letzten Jahren schleichend Fahrt aufgenommen hat. Ich denke hier vor allem an Pegida und sog. Identitäre, die allesamt eine rassistische Ideologie vertreten: Deutschland und Europa hat weiß und christlich zu sein bzw. zu bleiben. Die AfD ist nur der nach außen sichtbare politische Arm dieser Bewegung, denn die anderen „arbeiten“ in Verbogenem.
Es gibt Listen, auf denen sog. unliebsamen Personen stehen (Politiker, Journalisten, Kulturschaffende), die im Fall einer Machtübernahme aus der Öffentlichkeit zu entfernen sind. Das sind eindeutig Parallelen zu den Nazis, die schon wenige Wochen nach der Machtübernahme politische Gegner in KZs einsperrten, wo ihnen jede rechtliche Hilfe untersagt blieb und wo politische Morde an der Tagesordnung waren.
Um zum Thema zurückzukehren: Noch größer als die Zahl der Analphabeten ist die Zahl derer, die des Lesens fähig sind, aber trotzdem keine Zeitungen und/oder keine Bücher lesen. Das sind jene, die mangels tiefergehender Informationen eher auf Parolen hereinfallen als andere. Wobei es natürlich auch unter den Lesekompetenten welche gibt, die rechts wählen. Aber das sind verhältnismäßig wenige, denn je höher der Bildungsgrad, desto kleiner ist die Gefahr, den Populisten Vertrauen zu schenken. Das zeigen die Analysen zur Landtagswahl in Thüringen eindeutig.
Lesen und das Gelesene verstehen zu können immunisiert gewissermaßen vor Gefahren, die in einfachen Lösungen für komplizierte Probleme stecken. Ein Lesender weiß, dass die Welt nicht nur schwarz oder weiß, sondern bunt ist. Selbst in sogenannter Trivialliteratur erfährt man von dieser Buntheit und davon, dass es nicht nur gute und böse Menschen gibt, sondern dass beides in uns allen steckt, und dass Zufälle des Lebens es sind, die einen mehr in die eine oder in die andere Richtung tendieren lassen.
Wer aber fast nur Gleichgesinnte kennt und von Andersgesinnten nur negative Bilder geliefert bekommt, der schmort im eigenen Saft bis er in einer Diktatur aufwacht – und sich auch hinterher keiner Schuld bewusst ist: Er hat nur getan, was auch andere getan.
Deshalb: Wehret den Anfängen!