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Schwarzer Vogel
Eines Tages begegnete der kleine Zwerg einem schwarzen Vogel. "Schwarzer Vogel!" sprach er, und betrachtete das Tier neugierig von unten. Um den großen gelben Schnabel zu sehen, mußte er den kleinen Kopf ganz weit in den Nacken zurückbeugen. "Schwarzer Vogel! Sag, was weißt Du von der Welt?". Der schwarze Vogel senkte ganz ruhig das Haupt und schaute den kleinen Wicht mit seinen klugen Augen an. Lange standen sie stumm. Der Zwerg sah das Gefieder des schönen Tieres im warmen Sonnenlicht glänzen. Um sie war der Duft des Waldes und das zarte Säuseln des Windes. Endlich öffnete der schwarze Vogel den Schnabel. Neugierig blickte der Zwerg ihn an. Fast beiläufig senkte das Tier den Kopf zur Brust und riß sich eine der schönen Federn heraus. Behutsam legte er sie dem Zwerg vor die Füße. Dann schnappte er erneut zu, entriß sich eine zweite Feder und legte auch diese vor den kleinen Mann. Dann eine dritte, eine vierte, eine fünfte, eine sechste ... immer schneller, immer verzweifelter, immer weiter. Auf der Brust des Tieres breiteten sich bald große kahle Stellen aus. Schwarz und rauh zeigte sich die nackte Haut. Und der Vogel zerrte weiter an seinem Gefieder, griff nun auch die langen Federn der Flügel und des Schwanzes und rupfte sie eilig und grob wie eine Bäuerin, die ein Huhn rupft. Erschrocken schaute der Zwerg ihn an. Er sah deutlich den Schmerz und die Furcht in den Augen des einst so edlen, nun aber jämmerlich zerstörten Tieres. "Schwarzer Vogel!" seine Stimme war ein ersticktes Flüstern, auf das der Angesporochene nicht reagierte. Endlich legte er die letzte seiner Federn auf den großen Haufen, der sich zwischen den beiden gebildet hatte.
Nocheinmal schaute er den Zwerg an. Wieder lag sanfte Ruhe und eine tiefe Klugheit in seinem Blick. Dann wandte er sich um und verschwand mit stolzen Schritten im nahen Unterholz.