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Seines Bruders Hüter

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14.10.2001
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Seines Bruders Hüter

Seines Bruders Hüter

Die Umstände waren für Gerrit ausgesprochen günstig.
Da war zum Beispiel der glückliche Zufall, dass sein Bruder Frank durch einen eingegipsten Fuß außer Gefecht gesetzt war. Dadurch würde es ihm kaum gelingen, rechtzeitig Hilfe zu holen. Dass er sich den Fuß ausgerechnet im Sommer gebrochen hatte, war ein weiterer Glücksfall.
Die Vorbereitungen waren denkbar einfach. Zunächst brauchte Gerrit ein starkes Schlafmittel. Kein Problem. Er hatte ein ganzes Arsenal davon in seinem Medizinschrank. Sein Arzt war beim Verschreiben von Medikamenten noch nie zimperlich gewesen.
Der Rest war ebenfalls ein Kinderspiel. Alles, was er noch benötigte, waren Gläser, eine Flasche Limonade, Bierdeckel und ein wenig Zucker.
Als er morgens aufwachte und sah, dass es ein warmer, sonniger Spätsommertag werden würde, beschloss er spontan, dass heute Franks letzter Lebenstag angebrochen war. Allzu lange konnte er sowieso nicht mehr warten, denn der Gips sollte schon bald abgenommen werden.
Es würde ein guter Tag werden, das spürte er, obwohl er sich nicht besonders fit fühlte. Seit gestern Abend kribbelte es schon in seiner Nase, und er hatte leichte Kopfschmerzen.
Egal. Heute war der Tag der Freiheit gekommen. Er würde endlich den ungeliebten Job in der Papierfabrik aufgeben und Pferde züchten können. Pferde waren seine Leidenschaft. Nur in der Welt der Rennställe und Rennbahnen fühlte er sich wirklich zu Hause.
Frank hatte nie Verständnis für diese Vorliebe gehabt, genauso wenig wie Vater. Die beiden waren immer ein Herz und eine Seele gewesen. Frank war es auch unverständlich, dass jemand sein ganzes Geld bei Pferdewetten verlieren konnte. Er selbst hatte im Laufe der Jahre seinen Anteil an dem Vermögen, das Vater ihnen hinterlassen hatte, vervielfacht.
Das Allerbeste jedoch war, dass Frank keine Erben hatte, außer ihm, seinem Bruder, natürlich!
Als er in Franks Villa im Grünen ankam, ruhte sein Bruder wie immer im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sein Handy hatte er neben sich auf den Tisch gelegt. Er trank Zitronentee, und in einem geeigneten Augenblick ließ Gerrit heimlich eine starke Schlaftablette in das gefüllte Teeglas fallen. Sie zerfiel sofort, und schon nach ein paar Schlucken schlief Frank ein, ohne etwas gemerkt zu haben. Er würde lange schlafen...
Schnell lief Gerrit in den Garten, aber nicht, ohne vorher Franks Krücken weit unter das breite Sofa gestoßen und das Handy ins Schlafzimmer neben das Bett gelegt zu haben. Dies würde der Polizei später sicher nicht verdächtig erscheinen.
Im hinteren Teil des Gartens packte er die Gläser und die Flasche aus, goss ein wenig Limonade in jedes Glas und wartete. Schon nach kurzer Zeit war eine große Wespe in das erste Glas hineingeflogen. Sie summte laut und böse, während sie über der klebrigen Flüssigkeit hin- und hertaumelte. Ein wahres Prachtexemplar! Ruhig deckte Gerrit das Glas mit einem Bierdeckel ab und wartete weiter.
Alles wäre perfekt, hätte er nur nicht diesen lästigen Schnupfen. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden, und seine Nase war inzwischen völlig verstopft.
Als er vier Wespen gefangen hatte, nahm er die Gläser und trug sie vorsichtig zurück ins Haus. Er grinste hämisch, als er an den letzten, den entscheidenden, den schicksalhaften Glücksfall dachte. Frank war nämlich allergisch gegen Wespengift. Sein letzter Wespenstich war ihm gar nicht gut bekommen. Der Arzt hatte ihn damals gewarnt. Bei einem weiteren Stich würde er in Lebensgefahr geraten. Einen anaphylaktischen Schock nannte man das. Ohne ärztliche Hilfe oder seine Notfallausrüstung war Frank verloren.
Als Gerrit ins Wohnzimmer trat, schlief sein Bruder bereits einen todesähnlichen Schlaf. Sein Unterkiefer hing herunter, und Speichel rann aus einem Mundwinkel auf das Kissen. Sein Schnarchen klang wie ein Röcheln.
Die dem Sofa am nächsten gelegene Tür schloss Gerrit vorsichtshalber ab und nahm den Schlüssel an sich. Es wäre doch zu schade, wenn Frank womöglich doch noch im letzten Augenblick entwischen könnte. Dann stellte er die Gläser auf dem Tisch neben dem Sofa ab und nahm die Bierdeckel hoch. Den Zucker, den er mitgebracht hatte, verteilte er rund um Franks Kopf auf dem Kissen.
Bald schon summten alle vier Wespen um seinen Bruder herum. Mit einer Zeitung versuchte Gerrit, sie wütend zu machen und am Wegfliegen zu hindern. Nur einmal stöhnte Frank kurz auf und bewegte sich unruhig im Schlaf.
Verdammt, die Erkältung wurde immer schlimmer. Wenn doch wenigstens seine Nase frei wäre! Sein Hals fühlte sich schon ganz wund an, weil er immer durch den geöffneten Mund atmen musste.
Aber was bedeutete das? Um Franks Kopf summten plötzlich nur noch drei Wespen. Gerrit schluckte und wusste im gleichen Augenblick, dass es ein Fehler war. Er würgte gegen einen Widerstand an und fühlte den stechenden Schmerz im Hals. Heiser schrie er auf.
Seine Gedanken rasten. Er brauchte Hilfe. Sofort! Aber vorher musste er die Wespen einfangen, nein, lieber nur die Gläser und Bierdeckel verstecken. Und den Zucker entfernen. Sonst war er geliefert. Er keuchte. Wie lange würde es dauern, bis sein Hals ganz zugeschwollen war?
Eine Wespe summte laut an Franks Ohr vorbei. Frank fuhr hoch. Verwirrt blickte er sich um. Es dauerte eine Weile, bis er die tödliche Gefahr erkannte, in der er und sein Bruder sich befanden. Aber dann war seine Schlaftrunkenheit mit einem Schlag wie weggewischt. Er wollte nach seinem Handy greifen, doch auf dem Tisch standen nur ein paar Gläser. Er versuchte, seine Krücken zu erreichen, doch sie lagen zu weit unter dem Sofa. Schließlich kroch er so schnell er konnte auf allen vieren zur nächsten Tür. Aber die war abgeschlossen.
Eine Wespe kam ihm gefährlich nah. Mit einem Griff riss Frank eine Wolldecke von einem Sessel, kauerte sich zusammen und hängte die Decke zum Schutz vor den Wespen über seinen Kopf.
In diesem Augenblick wurde Gerrit alles gleichgültig. Seine Beine trugen ihn kaum, als er aus dem Zimmer torkelte. Er wollte nur noch eins. Er wollte leben.

 

Der Schluß hat mir nicht so zugesagt, aber der Anfang und die Mitte ist echt klasse!!! Ich weiß nicht, was ich am Ende erwartet habe, aber irgendwie ging's mir ein bißchen zu schnell... :(
Ansonsten finde ich die Story wirklich klasse - toll geschrieben und auch von der Idee her richtig gut! Kompliment!

Grizze
stephy

 

Ich finde es sehr nett von dir, dass du dir wieder die Mühe gemacht hast, eine Kritik zu schreiben.
Vielleicht kannst du mir noch sagen, wo deiner Meinung nach das Ende beginnt. Meinst du nur den letzten Abschnitt? Ich hatte ihn extra so knapp gehalten, um zu verdeutlichen, dass plötzlich alles andere aus Gerrits Bewusstsein ausgeschaltet ist und nur das Überleben zählt. Findest du, dass dieses Ende wegen seiner Kürze unverständlich bleibt?
Oder beziehst du dich auf einen längeren Abschnitt?
Herzliche Grüße!

 

Slü Jakobe!

Mir hat deine Geschichte auch gut gefallen. Das Ende war vielleicht etwas zu knapp gehalten, doch vielleicht ist es auch besser so...Schwer zu sagen.
Wie bist du auf den Titel gestossen?

Maurizius

 

Hallo, Maurizius!
Danke für deine Reaktion!
Du bist schon der zweite, der das Ende zu knapp findet. Ich glaube, wenn ich diese Geschichte wieder überarbeite, werde ich den Schluss etwas ausführlicher darstellen.
Der Titel gefällt mir auch nicht besonders, aber mir ist kein besserer eingefallen. Er ist im Hinblick auf Gerrit ironisch gemeint, denn Gerrit ist ja alles andere als ein Hüter seines Bruders. Im Hinblick auf Frank trifft er eher zu, denn Frank versucht am Ende ja, auch seinen Bruder zu retten.
Gruß!
Jakobe

 

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