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Selbstversunkenheit
Der Regen, sich zusammensetzend aus feinästrigen, langgezogenen Tropfen, die langsam an der Außenseite des Fensters herunter liefen und sich an das glatte und abweisende Glas schmiegten, welches sie jedoch ohne Erbarmen abprallen und zu Boden fallen ließ, schien auch heute und im Laufe der nächsten Tage nicht mehr aufhören zu wollen, so entschlossen und unaufhörlich fiel er auf die Erde hernieder und ließ keinen Flecken derselbigen unberührt.
Die großen und rundlich wirkenden Regentropfen schienen die Zeit in sich gefangen zu halten, sie einzukerkern in einer gläsernen Zelle, um somit die Macht über sie zu erlangen. Und tatsächlich, alles wies darauf hin, dass dies dem Regen wirklich gelang, denn es gab keine Veränderung zu entdecken, kein sich entwickelnder Prozess, die den Nachweis für die ständige Präsens der Zeit hätten erbringen können.
Johann hatte seinen Stuhl so nahe ans Fenster gerückt, dass er die Vorgänge in der Natur – diese ständig auftauchenden und wieder verschwindenden Wunder, derer man so selten gewahr wurde aufgrund der Häufigkeit und Regelmäßigkeit, in der sie sich unserem Auge offenbarten - zum einzigen Inhalt seines Sichtfeldes machte. Völlig losgelöst von den Zwängen der Zeit und den Begrenzungen des Raums war Johann versunken in das Spiel des Regens und erfreute sich vor allem an den Einzelheiten des Weges, den die Tropfen nahmen, wenn sie gegen das Fenster prallten.
Für Johann verlor alles an Bedeutung, was ihm zuvor noch so wichtig erschienen war. Seine Sorgen, seine Probleme, eigentlich sein ganzes Leben existierten nur in Zeit und Raum; das Verschwinden der beiden Größen machte jenes zur fast schon lächerlich wirkenden Nichtigkeit. Immer tiefer sank Johann in die Kontemplation, aller Gefühle ledig und sich dessen bewusst, das alles was ihn umgab - sein Zimmer, der Stuhl, auf dem er saß, das Fenster - nur aufgrund von etwas existieren konnten, dass auch er in sich hatte und dem er gerade immer näher kam, je weiter er sich von seinem individuellen Dasein entfernte.
Eine Zufriedenheit, die nicht mit der verglichen werden kann, die man empfindet, wenn ein Wunsch (und sei es auch ein großer) in Erfüllung geht, breitete sich in Johann aus und es war weniger ein Gefühl als eine Gewissheit, dass er gerade im Begriff war, sich von einem Denken zu befreien, dass nur darauf beschränkt ist, von einer kurzfristigen Befriedigung zur nächsten zu hetzen und deswegen dem Leid mehr zuspricht als der Freude.
Johann schloss die Augen und verlor endgültig jeglichen Bezug zu sich und dem Zimmer, in dem mittlerweile nur noch sein Körper, gleich einer leeren Hülle, auf dem Stuhl saß, denn er hatte den selbigen verlassen und sich somit über die unsere Welt beherrschende Kausalität hinweg gesetzt. Wieder offenbarte sich ihm eine Gewissheit, ohne das er seine zu der verlassenen Welt gehörige Vernunft benutzen brauchte: So unterschiedlich alle Erscheinungen, der Mensch dazugerechnet, in ihrer äußeren Form auch sein mochten, so vollkommen gleich waren sie am Punkte ihrer tiefsten Existenz miteinander verbunden, ähnlich Inseln, die an der Wasseroberfläche weit auseinander liegen, aber unter Wasser aus dem gleichen Material erwachsen.
„Johann!“ Das Gefühl der allumfassenden Zufriedenheit, die unabhängig von jeglichem Bezug auf Subjekt oder Objekt für eine kurze Zeit in Johann angedauert hatte, war durch die Störung so schnell wieder verschwunden, wie es sich angekündigt hatte. Sofort merkte Johann, dass alles so war wie immer und auch Zeit und Raum ihre ursprüngliche Bedeutung zurück gewonnen hatten, doch trotzdem blieb er noch weiterhin im Gefühle des Ausklingens sitzen und war zutiefst beeindruckt von der Intensität seiner Erfahrung, die er so schnell wie möglich wieder herbeiführen wollte. Noch ein Mal hörte er die Stimme seiner Mutter, die ihn mittlerweile etwas ungeduldig aufforderte, ihr bei der Zubereitung des Essens zu helfen. Langsam stand Johann auf und nahm sich vor, seiner Mutter ausnahmsweise freundlich zu begegnen, denn jedes negative Verhalten würde sich der Erfahrung gemäß gegen ihn selbst richten. Kurz bevor er sein Zimmer verließ, zuckte noch ein Mal ein Gedanke durch seinen Kopf, den er irgendwo gelesen zu haben schien und der durch sein kontemplatives Erlebnis zu neuem Leben erweckt worden war:
„Die letzten Grundgeheimnisse trägt der Mensch in seinem Innern, und dies ist ihm am unmittelbarsten zugänglich; daher er nur hier den Schlüssel zum Rätsel der Welt zu finden und das Wesen aller Dinge an einem Faden zu erfassen hoffen darf.“