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Sie ließen ihn nicht gehen
Seit Jahren schon hatte er kein Mädchen mehr angefasst. Obwohl er das gekonnt hätte! Ehrlich! Aber er wollte nicht, nie mehr wollte er ein Mädchen anfassen. Und dennoch ging er immer wieder hin, in diese Disco, einer Kleinstadt entsprechend Tanzcafé genannt. Ja, trotz seines Alters ging er hin, „Was will der Opa hier!“, das war das Harmloseste, was er dort zu hören bekam.
Er wollte dort nicht tanzen, er fand sich selbst ein bisschen zu alt dafür. Vielleicht war er auch zu fett, sein neues T-Shirt spannte jedenfalls unangenehm unter den Achseln. Sein Dreitagebart machte ihn intellektueller, für junge Mädchen anziehender. Dachte er zumindest. Er könnte deren Vater sein, freilich, aber einer mit Gel im Haar. Und einem coolen T-Shirt. Er war nicht wie ihre wirklichen Väter. Er war nicht die ewig kontrollierende und befehlende Autorität zu Hause und auch nicht der sich am Wochenende in Trainingshosen lächerlich machende Sportschauzuschauer, er war nur ihr Freund. Der gute, väterliche Freund. Ein Freund, dem sie sich anvertrauen konnten, der sie verstand. Der mit ihnen litt, wenn sie Liebeskummer hatten, und der mit ihnen froh war, wenn sie sich mit ihrer besten Freundin wieder vertrugen. Der … Nein, er war das alles nicht. Leider nicht. Aber er könnte es sein! Ehrlich!
Er war wie immer schon am frühen Abend da und besetzte die eine Nische an der Bar, wo er nicht weiter auffiel und von wo er doch dem Geschehen auf der Tanzfläche folgen konnte. Er lehnte an der Wand, trank seine Rum-Cola und war zufrieden. Er war immer zufrieden, wenn er jungen Mädchen zusehen konnte, das war er schon als Junge. Auch als Junge spielte er lieber bei den Mädchen mit. Er beneidete sie, für ihn waren sie schon damals das interessantere, schönere Geschlecht. Als er älter wurde, haben sie ihn allerdings weggejagt, alle, die jungen Mädchen und die Erwachsenen, wollten plötzlich nicht mehr auf seine Wünsche eingehen.
Stattdessen musste er Maurer lernen. Damit ein Mann aus ihm wird. Er ist einer geworden, wenn auch nur widerwillig. Und er hat geheiratet, auch das widerwillig. Eigentlich hat er das gar nicht getan, er wurde geheiratet. Aber wenigstens musste er der Frau kein Kind machen. Sie hatte schon eines. Ein Mädchen, da war er wieder zufrieden.
Er war ein guter Vater. Ein zu guter. Zu spät begriff er, dass da ein Unterschied existierte. Dabei wollte er nur mit seinem Kind spielen. Wie alle Kinder, wie alle Väter. Nicht, dass er sich deswegen schuldig fühlte, das nicht, aber er wusste nun, dass er von Mädchen die Finger lassen musste. Er hielt sich eisern daran, wie ein trockener Alkoholiker die Flasche, rührte auch er die ihm verbotene Frucht nicht an.
Doch sehen wollte er sie schon noch, die Frucht. Freitags und samstags. Am frühen Abend. Aber nun war es schon spät. Sehr spät, alle jungen Mädchen waren schon längst zu Hause und in ihren Betten. Auch er wollte ins Bett, schon vor Stunden, doch sie ließen ihn nicht gehen. Erst waren es zwei, dann drei, dann fünf. Sie standen an der Bar und tranken Bier. Friedlich. Das heißt, wenn ein Mädchen oder eine junge Frau an ihnen vorbei musste, versperrten sie ihr schon den Weg, grabschten auch mal spielerisch nach ihr, aber ließen sich von bittenden Blicken der Opfer regelmäßig erweichen, machten letztlich doch den Weg frei. Laut lachend.
Doch das Friedliche war bald dahin, das Lachende auch, jetzt grölten sie nur noch. Und grölend versperrten sie ihm den Weg. Sicher nicht absichtlich, und er wäre auch schon längst gegangen, wenn er bloß nicht solche Angst gehabt hätte. Angst vor Entdeckung. Denn einen von den fünfen kannte er, und der kannte ihn, ein Blick hatte genügt. So hielt er es für besser, in seiner Nische zu bleiben - nur nicht auffallen, früher oder später werden sie schon gehen. Aber sie gingen nicht. Stunde um Stunde verging und sie standen und tranken weiter, sie tranken und standen und versperrten ihm den Weg nach Hause, ins Bett, in seine Träume.
Es war, als ob sie das wüssten, als ob sie wüssten, dass er in seinen Träumen ein glücklicher Mensch würde. Denn glückliche Menschen konnten sie nicht ertragen, und einen, der allein vom Sehen satt wird, schon gar nicht. Alle mussten so sein wie sie, elend, frustriert, nichts zu ficken. Und da war einer, der das nicht brauchte, der sich aus Frauen nichts machte, der unempfindlich war für weibliche Reize wie ein Schwuler. Wie konnte so einer hier sein, mitten unter ihnen? Ein Kinderschänder, er, einer, den man bei Hitler sofort vergasen, ja selbst bei Honecker niemals so frei herumlaufen lassen würde. Die gerechten Bürger können sagen, was sie wollen, die gerechten Zeitungen können schreiben, was sie wollen, aber dieser Staat tat nichts, dieser Staat tat nie was, dieser Staat war nicht ihr Staat.
Als es gefährlich wurde, floh er. Er, der Maurer, bahnte sich seinen Weg nach draußen, denn draußen, kaum fünfzig Meter entfernt, war die Polizeiwache, dort draußen konnte ihm nichts mehr passieren. Aber sie holten ihn ein, erschlugen ihn, den hell erleuchteten Fenstern der Wache zum Trotz.
Später, am nächsten oder übernächsten Tag, wird einer genau hinter diesen Fenstern in die Mikrofone erklären, dass das junge Leute wären, die nicht wüssten, was sie angerichtet haben. Die gerechten Bürger und die gerechten Zeitungen hielten einen Augenblick inne, dann ging man wieder den Geschäften nach – nur ein Mann ist erschlagen worden, kein Kind.