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Sie sehen mich anders an

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28.12.2009
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Sie sehen mich anders an

Wir sitzen auf der verrosteten Hollywoodschaukel hinterm Haus. Aus dem Küchenfenster zieht Zigarettenrauch. Onkel Harry raucht Kette. Ich höre ihn lachen. Er lacht oft.
Melissas Haare berühren mein Knie. Sie hat die Arme um ihre Beine geschlungen. Wir haben noch nicht viel gesprochen. Sie sagt, sie sei müde von der Fahrt und müsse sich ausruhen. Drei Stunden im Auto. Und dann die Hitze. Seit letztem Jahr ist sie nicht gewachsen. Immer noch einen Kopf kleiner als ich. Sie öffnet ein Auge und fragt: „Was ist mit den Feldern?“
„Standen unter Wasser.“
Eine Fliege setzt sich auf ihren Oberschenkel. Auf der hellen Haut sieht sie aus wie ein Leberfleck.
„Bei uns haben wir ja keinen Fluss“, sagt sie.
„Dafür habt ihr Wald.“
„Sind die Jungs wieder da?“ Sie öffnet auch das andere Auge und zupft sich an der Nase.
„Welche Jungs?“
„Weißt du ganz genau.“
„Hab’n ja nix anderes zu tun.“
„Der eine war süß. Mit den blonden Haaren der.“
Ich nicke. „Ist aber in die Stadt gezogen.“
Sie seufzt.
„Gibt ja noch andere.“
„Ja.“ Melissa streicht über ihre rot lackierten Fingernägel. „Aber der war wirklich süß.“
Kühe stehen auf dem Feld gegenüber. Sie sehen uns aus feucht glänzenden Augen an. Meine Mutter öffnet die Tür zum Garten und hält sich mit beiden Händen am Treppengeländer fest. „Alles gut?“
Melissa dreht den Kopf zur Seite weg.
„Ja“, sage ich. „Und bei euch?“
Meine Mutter sieht Pappelsamen hinterher – gräuliche Flocken, die durch die Luft gleiten und hinter der Hecke verschwinden. Dann lächelt sie und sagt: „Gleich gibt’s Essen.“
Als sie geht, lässt sie die Tür offen. Leise Musik dringt aus dem Wohnzimmer.
„Echt immer noch?“, fragt Melissa und legt ihre Füße auf den Plastiktisch.
Ich sehe auf ihre Fußnägel, die auch rot lackiert sind, aber es ist ein anderes Rot, heller. „Nicht mehr so viel“, sage ich, ich spreche leise, und sie zupft wieder an ihrer Nase. „War sie deswegen nicht mal weg letztes Jahr, in irgend so einer Anstalt?“
„Nicht deswegen.“
„Weswegen dann?“
Ich sehe ihr Lächeln, während sie das fragt. „‘ne Kur, wegen ihren Nerven.“
Melissa schüttelt den Kopf und will noch etwas sagen, aber ich starre sie an, bis sie so tut, als würde die Sonne sie blenden.
„Ich hab‘ keinen Hunger“, sage ich nach einer Weile.
„Immer wenn wir hier sind, gibt‘s das Gleiche.“ Melissa hält ihre Augen geschlossen, während sie spricht.
„Ich mag Hühnchen“, sage ich. „Den Knorpel vom Bein zerbeiße ich als Erstes.“
„Ekelhaft.“ Sie steckt sich den Zeigefinger in den Mund und macht Kotzgeräusche. Dann öffnet sie ihre Augen und sieht mich an. „Aber du hast ja auch geschluckt.“
„Nein“, sage ich. „Hab‘ ich nicht.“
„Du hast geschluckt.“ Sie lehnt sich zurück, die Scharniere quietschen so laut, dass es mir in den Ohren wehtut.
„Woher willst du das wissen?“
„Hab’s gesehen“, sagt sie und schnalzt mit der Zunge. „An der Buhne habt ihr gelegen.“
Melissa. Einen Kopf kleiner als ich. Meine Mutter ruft durchs gekippte Fenster: „Kommt ihr jetzt?“
„Ja, ist gut“, sage ich und stehe von der Hollywoodschaukel auf. Erst an der Treppe drehe ich mich um. Melissa sitzt noch da, ein Fuß auf dem Tisch, die Hände auf ihren Schenkeln.

Drinnen ist es stickig und warm. Ich gehe durch den schmalen Flur ins Wohnzimmer. Es riecht nach gebratenem Fleisch. Vater lehnt am Fensterrahmen, die Gardinen sind zur Seite geschoben, dahinter die blassgrüne Hecke. Er nimmt eine Flasche Wein vom Sims und wendet sich an meine Mutter. „Brauchst du Hilfe?“, fragt er und schaut in den Flaschenhals.
„Mit dem Römer vielleicht, ja?“ Sie wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und bleibt mitten im Raum stehen. Vater stellt den Wein auf den Tisch. Sie lässt ihre Hand an seiner Schulter herabgleiten und folgt ihm in die Küche. Das Tuch lässt sie auf der Couchlehne liegen.
Onkel Harry sitzt auf dem niedrigen Ledersessel vorm Fenster. Sein Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Auf der Lehne steht ein voller Aschenbecher. Ich rieche den kalten Rauch.
„Wo is’n Melissa?“
„Noch draußen.“
„Ja“, sagt er. „Die ist gerne draußen.“
Ich nicke, und er grinst und zündet sich eine Zigarette an. „Geht ihr noch an den Fluss?“
„Später vielleicht.“
„Bei uns haben wir doch keinen Fluss.“
„Ja, ich weiß.“
„Nur Wald.“
„Ich war schon mal bei euch …“
Er zieht an der Zigarette. Die Glut leuchtet auf. „Nächstes Mal seid ihr wieder dran.“
Ich schweige.
„Hast ja bestimmt auch von der Sache mit der Marion gehört … aber na ja, jetzt ist’s auch okay. Kommt wieder alles in Ordnung.“ Er leckt sich mit der Zungenspitze über die Lippen und schiebt die Zigarette in den Mundwinkel.

Später sitzen wir am Tisch in der Küche. Melissa sieht an mir vorbei aus dem Fenster. Auf ihrem Teller liegt ein Hähnchenflügel, von dem sie mit der Gabel das Fleisch abgezogen hat. Die faserigen Streifen sind so hell wie ihre Haut. Meine Mutter trinkt das zweite oder dritte Glas Wein. Onkel Harry zeigt auf den Römertopf, der in der Mitte des Tisches steht und sagt: „Bei Industriefleisch, da sin‘ Abszesse drin, die sehen die bei der Beschau meistens gar nich‘, das is‘ richtig tief drin in‘ Knochen, da suppt der Eiter nur so raus.“
„Ja“, sagt mein Vater. Er hört mit dem Kauen auf. „Hast ja auch mal beim Rasting gearbeitet …“
Meine Mutter schaut auf den letzten Schluck Wein und legt ihre Fingerspitzen auf den Rand des Glases. „Wie der Papa.“
„Aber der Papa war doch ganz woanders, der is‘ ja zuerst mitter‘ Èlektrozange an die ran, und dann … sssst“, er macht die Halsabschneidegeste und sieht zu mir herüber, „nach jedem Viech musste der sich mit `nem Schlauch ersma‘ das warme Blut vonner Schürze wegmachen.“
Ich öffne den Mund. Das Fleisch zwischen meinen Lippen ist warm und fettig. Der Knorpel ist weich. Ich löse ihn vom Knochen ab und schiebe ihn an der wulstigen Rückseite der Zähne vorbei in die Mitte des Gaumens. Melissa sieht mich an, und ich warte einen Moment und schlucke dann alles herunter. Sie legt ihre Gabel neben den Teller und sagt: „Ich habe keinen Hunger mehr.“

Vater und Onkel Harry sitzen im Wohnzimmer, trinken Dosenbier und hören alte Schallplatten. Meine Mutter hat sich auf der Couch hingelegt, Kissen auf der Brust, einen Arm über den Augen. Melissa und ich gehen in mein Zimmer und schließen die Tür hinter uns ab. Ich schiebe die Vorhänge zur Seite. Der Himmel verfärbt sich orange. Die Luft wird kühler. Melissa setzt sich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch.
„Soll ich dir die Nägel lackieren?“ Sie nimmt einen Bleistift aus dem Behälter und schlägt mit dem Ende gegen die Schublade.
„Welche Farben hast du?“
„Rot natürlich“, sagt sie und kratzt sich mit dem Bleistift hinterm Ohr. „Also willst du jetzt?“
„Ich weiß nicht …“
„Stell dich nicht so an.“ Sie atmet aus und legt den Stift auf die Unterlage. „Mir ist langweilig.“
„Fang mit dem kleinen Finger an, ja?“
Sie runzelt die Stirn. „Warum das?“
„Weil ich erst sehen will, ob’s überhaupt zu mir passt.“
Sie schiebt die Unterlage bis zum Rand der Tischplatte. „Hier ist das Licht besser.“
Ich setze mich auf die Bettkante, und sie nimmt meine Hände, betrachtet die Finger, tippt mit dem Stift gegen jeden einzelnen Nagel. „Du hast schöne Hände“, sagt sie und streichelt dabei über meine Handfläche. „Mochtest du den Blonden?“
„Welchen Blonden meinst du?“
Sie lässt meine Hände los und greift in ihre Tasche, die auf dem Schreibtisch steht. „Tu nich‘ so.“
„Ich weiß nich‘“, sage ich.
Melissa stellt die Nagellackfläschchen nebeneinander auf den Tisch. „Kannst dich nicht mehr erinnern?“ Da ist wieder ihr Lächeln.
„Klar kann ich mich erinnern.“ Ich beuge mich nach vorne und zeige auf eines der Fläschchen.
„Das?“, fragt sie. Ich nicke. Es ist ein dunkles Rot.
Sie nimmt das Fläschchen, schüttelt es und stellt es zurück auf die Unterlage.
„Was denkst du eigentlich von mir?“
Sie schraubt den Deckel ab und zuckt mit den Schultern.
„Gib mir einfach deine Hand.“
Meine Hand sieht schmutzig auf ihrem Schenkel aus. Die Musik im Wohnzimmer wird lauter.
„Rot mag ich auch am liebsten.“ Melissa schraubt das Fläschchen auf und taucht den Pinsel hinein. Dann spreizt sie meinen kleinen Finger ab und macht langsame Bewegungen. Der Lack wird zu einer glänzenden Fläche.
„Lass es trocknen“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Machen wir die ganze Hand?“
„Nein“, sage ich. „Der kleine Finger reicht erstmal.“
Sie schraubt das Fläschchen zu und stellt es zurück auf den Tisch. „Du bist komisch“, sagt sie und lehnt ihren Kopf an meine Schulter.
„Was ist eigentlich mit deiner Mutter?“
„Ach“, macht sie, ich kann ihren Atem auf meinem Unterarm spüren. „Wohnt jetzt in der Stadt.“
„Wie lange schon?“
„‘n paar Monate glaub‘ ich.“
Ich folge ihrem Mittelscheitel mit meinen Fingerspitzen, berühre dabei die weiße Kopfhaut. „Wird alles wieder.“
„Die Mama kommt nicht mehr zurück.“
„Woher willst du das wissen?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Ist doch egal.“
Wir sitzen schweigend da, hören das dumpfe Dröhnen der Musik, hören Onkel Harrys Lachen.
„Komm, gehen wir zum Fluss.“ Ich stehe auf und umfasse ihre Handgelenke. Sie ist schmal, so schmal, dass ich sie zerbrechen könnte.
„Aber ist schon spät, oder?“
„Kriegen die gar nicht mit“, sage ich und nicke Richtung Fenster. „Ich schließ‘ die Tür immer von innen ab.“

Vom Fluss her weht ein dumpfer, modriger Geruch herüber. Wir folgen dem Kiesweg, der bis zur Straße führt. In den meisten Wohnzimmern leuchtet das blaue Licht der Fernseher. Schatten bewegen sich über kahle Wände. Im letzten Haus der Gasse steht das Küchenfenster offen. Ein Radio läuft im Hintergrund. Ich nehme Melissas Hand, lege sie auf meine Hüfte, dann ziehe ich ihren Körper an mich heran. Ihre Brust ist noch ganz flach.
„Der Blonde“, sagt sie, ihre Stimme zittert, „was hat der mit dir gemacht?“
Ich vergrabe meine Nase in ihrem Haar und lasse meine Hand über den Po zwischen ihre Beine gleiten. Sie zuckt, und ich kann sehen, dass sie dabei lächelt. Diesmal ist es ein anderes Lächeln.
„Warte“, sagt sie, als ich die Hand wegnehmen will, dann stehen wir da, eng umschlungen, und ich kann ihre feuchte Hitze an meinen Fingern spüren. Das Scheppern der Motoren unten im Tal zerreißt die Stille, zerreißt den Moment. In fünf Minuten werden sie da sein, ich kenne den Platz, eine Lichtung an der Groov, dort treffen sie sich, dort treffen sie sich immer.
„Lass uns gehen“, sage ich schließlich und löse mich aus der Umarmung. Schritte im Kies, der Geruch ihrer Haare noch in meiner Nase, süß wie der ein kleinen Kinds.
Die Stufen hinunter sind schmal. Unten das Rauschen des Wassers, die Stimmen der alten Männer, die am Fluss spazieren gehen. Sie gehen jeden Abend den gleichen Weg. Über den Kanal zu den Schleusen und wieder zurück. Melissa bleibt hinter mir stehen. Ihre Haare wehen im Wind, streichen über meinen Nacken. Ich folge den Stimmen. Melissa folgt mir. Der Fluss stinkt hier nach Öl und Benzin. Ein Schlepper fährt unter der Brücke hindurch, und die Stimmen werden leiser, bis sie verschwunden sind. Auf der anderen Seite des Kanals liegt die Groov, eine lange, flache Wiese, die sich zum Ufer hin absenkt. Das Gras ist braun und platt getreten, an den Pflanzenkübeln aus Beton hängen Reste von Plastiktüten. Überall Glasscherben.
Ich bleibe in der Mitte der Brücke stehen und lehne mich über die Brüstung. Das Wasser hat einen Grünstich. Kälte steigt auf und legt sich über mein Gesicht. Als ich die Augen wieder öffne, steht Melissa neben mir. Sie hält sich an einem Metallstreben fest, den anderen Arm hat sie weit von sich gestreckt, ihre Hand baumelt im Nichts. Ich gehe ohne sie weiter und bleibe am Ende der Brücke stehen.
Die Jungs lehnen an den Kübeln. Ihre Mofas stehen hinter einer Reihe Silberpappeln. Das Mädchen sitzt auf einem verbeulten Helm und blickt auf den in der Dämmerung glitzernden Fluss hinunter. Sie hält den Kopf dabei ganz gerade, und das Haar fällt ihr weich über die Schultern. Es ist lang wie das von Melissa. Einer der Jungs drückt ihr ein Bier in die Hand. Ihre Finger umschließen den Flaschenhals. Sie nimmt einen tiefen Schluck. Die Jungs lachen.
Melissa berührt mich am Arm. „Der Blonde ist auch da.“
„Ja“, sage ich. Das Mädchen streicht ihm über die Haare. Ich suche ihre Augen, aber sie sieht nur in sein Gesicht. Ich glaube, es sind dunkle Augen.
Als wir wieder an der Brücke sind, höre ich den Aufprall. „Was war das?“, fragt Melissa und blickt zurück in die Dunkelheit.
Der Stein bleibt neben mir am Boden liegen. Er ist so groß wie meine Faust. „Nichts“, sage ich. „Geh einfach weiter.“
Ich hebe ihn auf und fahre mit den Fingern die scharfen Kanten nach. Dann lasse ich ihn ins Wasser fallen, und es gibt ein kurzes Gluckern, danach ist wieder Stille. Ich drehe mich nicht mehr um.

Im Zimmer ist es dunkel und ruhig. Ich sitze am Schreibtisch und kratze den Rest Nagellack von meinem kleinen Finger. Melissa schläft seit einer Stunde. Sie liegt da wie tot. Ich ziehe die Bettdecke zur Seite und lege meine Hand auf ihren Bauch. Auf und Ab, immer wieder diese Bewegung, und dann ihr Atmen, leise und ganz gleichmäßig.
Draußen brennt noch Licht. Der Schein fällt durch das Küchenfenster auf den Fußboden im Flur. Ich lehne die Zimmertür an und setze ein Fuß vor den anderen, rolle die Ferse auf dem Linoleum ab.
Der Himmel ist sternenlos. Mücken schwirren um die Glühbirne, die an einem Verlängerungskabel von der Regenrinne hängt. Ich sehe die Glut seiner Zigarette, dann das Gesicht im Halbschatten. Er sitzt auf der Hollywoodschaukel, die sich nicht bewegt, die stillsteht. Ich spüre das kurz geschnittene Gras unter meinen nackten Füßen. Er lächelt, als ich mich neben ihn setze. Der Plastiküberzug der Kissen drückt sich kalt gegen meinen Rücken.
„Bist ja auch noch wach.“ Er dreht seinen Kopf zur Seite und spuckt ins Gebüsch. „Geht ihr also morgen zum Fluss, ja?“
Ich atme den Rauch seiner Zigarette ein. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. „Denke schon“, flüstere ich.
„Das ist gut“, sagt er und lässt den Kopf langsam auf die Brust sinken. „Das ist sehr gut.“
Die Glühbirne gibt ein leises Summen von sich, und irgendwo draußen in der Dunkelheit bellt ein Hund.

 

Hallo jimmisalaryman,

Irgendwie verwirrt mich deine Geschichte. Es scheint wohl eine Art Milieustudie zu sein? Lang wusste ich nicht, ob dein Erzähler nun männlich oder weiblich ist. Als es dann ums Nägel lackieren gegangen ist, tendierte ich eher zu einem Mädchen (junger Frau?). Da Onkel Harry offenbar zu Besuch ist, dachte ich, Melissa ist vielleicht die Cousine? Warum schießt einer der Jugendlichen einen Stein nach den Beiden? Ich nehme an, in der Schlussszene ist es Onkel Harry, der befummelt wird? Warum? Zuerst die Cousine dann der Onkel? Hab mir die Geschichte zweimal durchgelesen, da sie mir eigentlich ganz gut gefällt aber ein bisschen mehr Hinweise, die das Verhalten der Protagonistin erklären, wäre von meiner Seite her wünschenswert. Ich hoffe, du verstehst was ich meine.
Ansonsten kann ich nicht viel bemängeln, mir ist auf die Schnelle nur ein Fehler aufgefallen:
Sie öffnet beide Augen und zupft sich an derer Nase
Ich nehme an, ist soll "der Nase", heißen.

Liebe Grüße
Sabine

 

Hallo Sabine P,

Ich finde es interessant, wie der Erzähler wahrgenommen wird. Für mich handelt es sich immer ganz klar um ein junges Mädchen. Die Fragen, die du stellst, sind alle im Text implizit; sie schweben sozusagen in, neben und zwischen den Zeilen. Es wäre nicht gut, bzw würde es meinem ästhetischen Anspruch zuwiderlaufen, hier die Protagonisten mehr erklären zu lassen. Das ist ein minimalistischer Text, der eine Transferleistung des Lesers einfordert. Darauf muss man sich einlassen.

Danke für deine Zeit und deinen Kommentar.

Gruss, Jimmy

 
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Hi jimmysalaryman,

das war die erste Kurzgeschichte von dir, die ich gelesen habe.
Zweimal hab ich sie gelesen. Und mit Genuss. Bravo!

Ich hatte/habe definitiv ein anderes Bild vom Erzähler als Sabine P. (EDIT: und du!) Vor allem in Kombination mit dem Titel.

Das mit der erforderlichen Transferleistung des Lesers kann man so sehen.
Launisch wie ich heute drauf bin, sehe ich es sogar genauso wie du. Werfe ich dir die "Orientierungslosigkeit" nicht vor, obwohl ich das bei anderen Geschichten gerne tue, wenn ich es so empfinde, wenn es mich stört.

Was mir u.a. gut gefallen hat, war die Szene, wo sie Hühnchen essen.
Die Grausamkeit der Carnivoren.

Soweit mein kurzer Leseeindruck.

LG, Anne

 

Hallo Jimmy,

anfangs ging es mir ähnlich wie Sabine. Ich wusste zunächst nicht, wie ich den Erzähler/die Erzählerin einordnen sollte und dachte zunächst, es ginge um Vater und Tochter, weil betont wird, dass Melissa nicht mehr gewachsen sei.

Nun weiß ich, dass es sich um eine Erzählerin handelt, und nachdem ich mich mehrmals durch die Geschichte durchklamüsiert habe, um zu begreifen, wer wie zueinander steht, wage ich mich mal an eine Interpretation.

Für mich geht es hier um Missbrauch. Zunächst dachte ich, die Erzählerin wäre von dem Blonden missbraucht worden und weil sie nicht weiß, wie sie mit der Erfahrung umgehen soll, bietet sie praktisch jedem, der in Frage käme, ihren Körper an, versucht den Missbrauch dadurch zu verarbeiten, dass sie sich selbst nur noch über Sexualität wahrnimmt.

Sollte dem so sein, würde auch die Szene mit dem Stein passen, den offenbar der Blonde wirft, um klar zu machen, dass sie Dreck ist und genau so scheint sie sich auch wahrzunehmen, symbolisiert durch ihre eigene Hand, die sie als dreckig empfindet.

Dann dämmerte mir langsam, dass es offenbar um einen ganzen Familieninzest geht, denn irgendwie scheint keiner eine reine Weste zu haben, nur der Vater kam mir normal vor. Die Mutter hat psychische Probleme und trinkt, Melissa schaut weg, als sie herauskommt, also scheint da auch was im Argen zu liegen. Vielleicht hat Melissas Vater, Onkel Harry, seine Tochter negativ beeinflusst, irgendwas von seiner gestörten Schwester erzählt, weil er sie vielleicht auch missbraucht hat und sie deshalb so geworden ist. Dann liegt aber auch der Verdacht nahe, dass er seine Tochter ebenso missbraucht und das vielleicht einer der Gründe ist, weshalb sie nicht wächst.

So,wie er es genießt, dass seine Nichte ihm in den Schritt greift, scheint mir der alte Schmierlappen da grundsätzlich Gefallen dran zu finden. Also eine durch und durch gestörte Familie, alle missbrauchen sich gegenseitig und die Debatte über das Fleisch bestätigt nochmal meinen Verdacht, dass es hier um Fleischeslust geht.

Vielleicht liege ich damit auch vollkommen falsch, aber so würde ich es interpretieren.

Auf jeden Fall eine interessante Geschichte, deren Hintergrund sich nicht so offensichtluch erschließt und die man (ich) erstmal sacken lassen muss.

Eine Sache ist mir noch aufgefallen. Du hast an einer Stelle: "süß wie der ein kleinen Kinds" geschrieben, da müsste es "eines" heißen.

Das war's erstmal von mir.

Viele Grüße,

Chai

 
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Hallo Anne49,

danke für deine Zeit und deinen Kommentar.

Jeder Autor versucht, eine eigene Stimme zu erhalten, sich zu erarbeiten, einen eigenen Sound. Ich versuche es eben mit einer ganz verknappten, dichten und minimalistischen Sprache. Wir haben hier in der Vergangenheit schon heiß diskutiert, ob und wie und überhaupt. Wichtig ist nur, dass man andere Ansätze stehen lassen kann und sollte. Ich finde diesen Text überhaupt nicht "orientierungslos", der endet genau da, wo er enden soll, und alles was geschieht, tut dies nicht ohne Grund.

Chai

Deine Interpretation finde ich sehr gelungen. Den Erzähler bewertet jeder irgendwie anders, und da beginnt ja schon etwas, was man eine gewohnte Rezeption nennen könnte: man nimmt etwas an und dann ist man überrascht oder enttäuscht, wenn es anders kommt.

In diesem Text sind ja viele Spiegelungen, Motive die auftauchen und sich doppeln, etc. Die Erzählerin ist auf jeden Fall promiskutiv, sie hat mit dem Blonden geschlafen, sie belügt Melissa auch, es dräut etwas Sexuelles zwischen den beiden, was genau, weiß man nicht. Jedenfalls haben die Jungs, mit denen sie ja beim letzten Mal noch etwas zu tun hatten, jetzt eine neue Beschäftigung, ein neues Mädchen - die Erzählerin ist abgemeldet, alle haben sie durch, das korrespondiert auch mit dem Titel: Sie sehen mich anders an, nachdem sie mit mir geschlafen haben oder intim gewesen sind. Das Ende ist ja auch ein Beweis für die Erzählerin selbst, sie versucht, sich ihrem Onkel anzubieten, und der Leser erfährt nicht, wie diese Sache zuende geht. Wichtig war mir, dass sie aktiv wird, dass sie diejenige ist, die das scheinbar teilnahmslos erlebt, aber sie ist kein Opfer, sie hat diese Rolle nicht.

Ja, gute Gedanken zu diesem Text, Chai, auch die von Murdoc, dem ich allerdings morgen antworten werde.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Murdoc,

geiler Nick, erinnert mich an den Irren aus A-Team, was natürlich nichts heißen soll. :D

Du hast sehr viele gute Ideen und Gedanken zu dem Text. Ich kann da als Autor auch immer schlecht widersprechen, weil ich denke, oft haben Leser, die den Text frisch rezipieren, noch viel bessere, tiefere Gedanken als ich selbst sie habe, und können sie auch oft besser artikulieren. Das ist auch so eine Sache: für mich gibt es keine finale Wahrheit über einen Text. Oft wird das ja dem Autoren so ausgelegt, dass er sich selbst ein wenig hinter einer gewissen Substanzlosigkeit oder Beliebigkeit verschanzt, aber das ist natürlich nicht ganz richtig und auch zu einfach.

Ich glaube, ich werde das Ende noch einmal ändern, es subtiler gestalten. Die Lösung jetzt muss im Kopf des Lesers entstehen, er soll selbst über die Möglichkeiten verhandeln. Am Ende, das ist für mich Onkel Harry. Sie bietet sich ihm an, aus Frust, was weiß ich, das muss man ja auch nicht genau wissen, es soll nur zwischen den Zeilen oszillieren. Rezeption ist ja immer subjektiv; ich lese auch Texte mit einem autobiografischem Hintergrund, überprüfe das auf persönlich Erlebtes, oder auf Ästhetik - immer irgendwie subjektiv, da gibt es auch kein Richtung und Falsch.

Ja, Murdoc, finde ich gut, du hast recht reingehauen, ich hoffe, dir reicht meine Antwort.

Gruss, Jimmy

 

Lieber jimmysalaryman

ich musste ein bisschen kichern, als ich gestern (da hatte ich viel viel Zeit) deinen Text las und dann die Kommentare verfolgte.
Damit

Das ist ein minimalistischer Text, der eine Transferleistung des Lesers einfordert. Darauf muss man sich einlassen.
hast du ja richtig eine kleine Rätselratelawine losgetreten. :) Bei mir natürlich auch.
Also wenn du mal eine alternativen Werbefeldzug willst, dann benutzt du sowas bitte. :D

Aber mal zum Text.
Ich finde, er hat am Anfang einen schweren Ruckler drin. Da bist du mir einfach zu knapp. Oder bist irgendwie verrutscht. Aber dazu gleich.


Die Erzählerin ist eine sehr irritierende Figur. Dass sie übrigens ein Mädchen ist, fand ich recht klar, dieser Eindruck entstand durch das Gespräch zwischen Melissa und ihr. "Süße Jungs", so reden in der Regel Mädels oder junge Frauen.
Diese Irritation begann schon mit ihrem Blick auf Melissas Oberschenkel:

„Ja, der Fluss.“ Eine Fliege setzt sich auf ihren Oberschenkel. Ihre Haut ist ganz hell, die Fliege sieht darauf aus wie ein Leberfleck.
Das hatte durch das herausgehobensein etwas eigenartig Körperliches. Nicht der Blick der kleinen Pubertätsrivalin oder ein Blick der Anziehung. Nee, ich kann es nicht zuordnen, Ein innerliches "Huch".
"Ihre" ist übrigens fett markiert, weil die Zuordnung nicht stimmt und dadurch holpert es. "Ihre" bezieht sich auf Melissa. Aber der grammatlkalisch männliche Oberschenkel steht direkt davor, müsste also "seine" heißen, find ich also sprachlich ungenau - rucklig halt.

Danach kommt der Dialog, der inhaltlich zwar aussagekräftig ist, aber wenn ich nicht komplett bescheuert bin, hast du da die Reden durcheinandergebracht. Und da frag ich mich dann schon, warum du gar so minimalistisch sein musst. Das hat mich beim Lesen jedenfalls auf unschöne Weise rausgeworfen.
Ich hab mal den Dialog hierher zitiert und immer die Person, die es sagt, dahinter geschrieben.

Sie öffnet ein Auge und fragt: „Was ist mit den Feldern?“ Melissa
„Der Fluss ist über die Ufer getreten.“ Erzählerin
„Ja, der Fluss.“ Eine Fliege setzt sich auf ihren Oberschenkel. Ihre Haut ist ganz hell, die Fliege sieht darauf aus wie ein Leberfleck. Melissa
„Bei uns haben wir ja keinen Fluss.“ Erzählerin - Da bist du wohl in der Zeile verrutscht. Die Erzählerin hat doch gerade berichtet, dass der Fluss über die Ufer ... und jetzt hat sie keinen Fluss mehr? Das müsste M sagen. Auch der Rest passt dann nicht.
„Dafür habt ihr Wald.“ Melissa
„Sind die Jungs wieder da?“ Sie öffnet beide Augen und zupft sich an der Nase. Erzählerin - das müsste eigentlich die Erz sagen
„Welche Jungs?“ Melissa
„Weißt du ganz genau.“ Erzählerin
„Hab’n ja nix anderes zu tun.“ Melissa
„Der eine war süß. Mit den blonden Haaren der.“ Erzählerin
Ich nicke. „Ist aber in die Stadt gezogen.“ Melissa
Sie seufzt. Melissa - hier stimmts wieder
„Gibt ja noch andere.“ Erzählerin

Mal abgesehen von der Zeilenverrutschung (für die ich dich ein kleines bisschen hauen könnte, weils mich einfach viel viel Zeit gekostet hat, und ich echt drei- oder viermal lesen musste. Aber okay, vielleicht schieß ja auch ich gerade einen kapitalen Bock. Du wirst es aufklären) ist dies ein recht harmloses kleines Teenagergeratsche. Offensichtlich haben die beiden, als M. das letzte Mal da war mit ein paar Jungs geflirtet oder mehr. Und M zieht die Erzählerin ein bisschen damit auf.


Meine Mutter öffnet die Tür zum Garten und hält sich mit beiden Händen am Treppengeländer fest. „Alles gut?“
Melissa dreht den Kopf zur Seite weg.
Eieiei - die Mama hat wohl zu viel getankt? Und Melissa findets nicht so prickelnd.

„Ja“, sage ich. „Und bei euch?“
Coole Socke, die kleine Erzählerin. Gibt die Frage so locker zurück.

Meine Mutter sieht Pappelsamen hinterher – gräuliche Flocken, die durch die Luft gleiten und hinter der Hecke verschwinden. Dann lächelt sie und sagt: „Gleich gibt’s Essen.“
Als sie geht, lässt sie die Tür offen. Leise Musik dringt aus dem Wohnzimmer.
„Echt immer noch?“, fragt Melissa und legt ihre Füße auf den Plastiktisch.
Puhhh, das fand ich im zweiten Teil echt knapp charakterisiert (ich meine das Betrunkensein) die Mutter ist zwischendrin ja wieder ganz normal. Pappelsamen sieht man schließlich auch hinterher, wenn man einfach entspannt und gut drauf ist und ein lecker Essen gekocht hat. Dadurch hab ich zunächst gedacht, ich hab mich getäuscht und Mama hat doch nicht getankt und ich hab Melissas Frage dadurch erstmal nicht kapiert. Warum musst du denn sooooo minimalistisch sein? Also ich hätt sie irgendwie nochmal kurz schwanken lassen oder so.
Danach aber (und im weiteren Verlauf auch) war es dann sehr klar und deutlich. Und interessant, wie die Erz den Entzug der Mama durch eine Nervensache tarnt (und vielleicht auch vor sich selbst). Und die Kusine oder was M ist, einfach niederstarrt, wenn sie nicht mehr darüberreden will. Ich sags ja, das Mädchen mit den irritierenden Blicken.


„Ich mag Hühnchen“, sage ich. „Den Knorpel vom Bein zerbeiße ich als Erstes.“
Puhh, das Mädchen ist echt schräg drauf.

„Ekelhaft.“ Sie steckt sich den Zeigefinger in den Mund und macht Kotzgeräusche. Dann öffnet sie ihre Augen und sieht mich an. „Aber du hast ja auch geschluckt.“
Und M ist auch ein Biest. Okay, also da war deutlich mehr mit dem Blonden. Eieiei. Und jetzt ist er weg.

Melissa. Einen Kopf kleiner als ich.
Das mochte ich sehr in dem Zusammenhang. Da hast du einen guten Haken gesetzt. denn trotz allen Niederstarrens, trotz der (gespielten) Coolness, irgendwie weiß man in der Beziehung der beiden manchmal nicht genau, wer da jetzt wem über ist. Das geht so ein bisschen hin und her. Und hier jedenfalls fällt es der Erz auf, dass die kleine M ganz schön hartnäckig insisitieren kann.
Das fabnd ich schön gemacht, weil jetzt ist klar, da passiert noch was.

Vater lehnt am Fensterrahmen, die Gardinen sind zur Seite geschoben, dahinter die blassgrüne Hecke. Er nimmt eine leere Flasche Wein vom Sims und wendet sich an meine Mutter. „Brauchst du Hilfe?“, fragt er und schaut in den Flaschenhals.
:D
Nee, kann Mama ganz alleine.


Vater stellt den Wein auf den Tisch. Sie lässt ihre Hand an seiner Schulter herabgleiten und folgt ihm in die Küche. Das Tuch lässt sie auf der Couchlehne liegen.
Eigentümlich verhuscht, ziellos in ihren Bewegungen ist die Mama. Vielleicht nicht nur durch den Alkohol? Der Bezug zum Gatten - schattenhaft, sie fängt an, beendet aber gar nicht richtig.

Auch der Onkel Harry ist ein komischer Vogel, jedenfalls wie du ihn charakterisierst mit seinem Anlecken der Zigarette. Klar, man macht das so, wenn man raucht und selbst dreht, aber irgendwie hat das immer was Sexualisiertes. Oder bin ich jetzt gedanklich versaut? :D Aber später stellts sich ja auch raus, dass Onkel Harry kein netter Onkel Harry ist.

Auch hier - in dem Gespräch mit dem Onkel fällt mir an der Erzählerin das Knappe, das Lakonische, der sezierende Blick auf alle und alles auf. Das hat was Trauriges. Man weiß nicht, welche Erfahrungen sie in der Vergangenheit gemacht hat, aber es waren jedenfalls ein paar recht ungute dabei. An Inzest oder Missbrauch mag ich gar nicht denken dabei, weil die Initiative hier in der Geschichte immer von dem Mädchen aus geht. Auch bei die Schmierlappe von Onkel Harry ist ja sie es, die ihn anfasst, auch wenn Onkel Harry sich das recht gern gefallen lässt.
Vielleicht ist das Taxierende, Abschätzende ihrer Blicke durch die Co-Abhängigkeit (Mutter) entstanden? So wie sie es auch gelernt hat, sich eine Antwort auf sich selbst, eine Not, ein Bedrängnis immer durch Sex zu holen.
Die Erz hat es sich angewöhnt, gelernt, alles genau zu beobachten, zu taxieren, das ist ein eigentümlich genauer und gleichzeitig lebloser und wenig Anteil nehmender Blick. Sie taxiert, schätzt ab und ein. Und reagiert mit ihrem Körper, um sich des Einflusses auf den anderen zu vergewissern.
Mir kommt das so vor, als würde die Erz mit diesen Erf so umgehen, dass sie das vielleicht sogar nur vermittels ihres Körpers kann. Beim Blonden war das vielleicht noch nicht so, da hat sie sich schlicht und einfach verliebt - vermute ich mal. Aber auch - dass sie dem Blonden einen bläst, geht für so ein junges Mädchen schon ganz schön weit. oder? So ein erstes Mal will doch romantisch sein? Jedenfalls versichert sie sich ihrer Macht oder ihres Einflusses auf die kecke Melissa auch durch diesen kleinen Teenagerexzess. Oder in der Anbahnung durch die Fleischschluckerei in der Essszene. Und dann auf Onkel Harry.

Später sitzen wir am Tisch in der Küche. Melissa sieht an mir vorbei aus dem Fenster. Auf ihrem Teller liegt ein Hähnchenflügel, von dem sie mit der Gabel das Fleisch abgezogen hat. Die faserigen Streifen sind so hell wie ihre Haut.
Mann, wie die Erz guckt. Und was sie da sieht und welche Bezüge sie herstellt. Das ist beängstigend.

Meine Mutter trinkt das zweite oder dritte Glas Wein. Onkel Harry zeigt auf den Römertopf, der in der Mitte des Tisches steht und sagt: „Bei Industriefleisch, da sin‘ Abszesse drin, die sehen die bei der Beschau meistens gar nich‘, das is‘ richtig tief drin in‘ Knochen, da suppt der Eiter nur so raus.“
Ich liebe Onkel Harry. Und wie er danach die Schlachteszene auswalzt und die Erzählerin dabei anschaut. echt, die Adamsfamily ist nix dagegen.

Ich öffne den Mund. Das Fleisch zwischen meinen Lippen ist warm und fettig. Der Knorpel ist weich. Ich löse ihn vom Knochen ab und schiebe ihn an der wulstigen Rückseite der Zähne vorbei in die Mitte des Gaumens.
Puhh


Sie schiebt die Unterlage bis zum Rand der Tischplatte. „Hier ist das Licht besser.“
Ich setze mich auf die Bettkante, und sie nimmt meine Hände, betrachtet die Finger, tippt mit dem Stift gegen jeden einzelnen Nagel. „Du hast schöne Hände“, sagt sie und streichelt dabei über meine Handfläche. „Mochtest du den Blonden?“
„Welchen Blonden meinst du?“
Sie lässt meine Hände los und greift in ihre Tasche, die auf dem Schreibtisch steht. „Tu nich‘ so.“
„Ich weiß nich‘“, sage ich.
Auch diese Stelle gefiel mir, weil du so ein bisschen was Schwülstiges (Intimes) zwischen ihnen aufbaust einerseits, andererseits setzt die kleine M der Erz ganz schön zu mit ihren Fragen zum Blonden.

„Was denkst du eigentlich von mir?“
Sie schraubt den Deckel ab und zuckt mit den Schultern.
„Gib mir einfach deine Hand.“
Meine Hand sieht schmutzig auf ihrem Schenkel aus.
Ja. Die Erz kommt mir verzweifelt selbstunsicher vor trotz all ihrer vorgetragenen Coolness. Aber da sind so viele Fingerzeige, die ihre Bedürftigkeit zeigen. Das macht einen beim Lesen ein bisschen traurig. Sie will sich nur einen Finger anmalen lassen, weil sie glaubt, dass es nicht zu ihr passe, empfindet ihre Hand als schmutzig, im Vergleich zu Ms Haut. Sie wirkt schon ziemlich allein.
Auch wenn in dieser Szene mit M Vertrautheit entsteht, als die Erz M nach deren Mutter fragt (das war also die Marion, von der Onkel Harry erzählt hat). M legt sogar den Kopf an ihre Schulter wie eine kleine Schwester.
Ich folge ihrem Mittelscheitel mit meinen Fingerspitzen, berühre dabei die weiße Kopfhaut. „Wird alles wieder.“
„Die Mama kommt nicht mehr zurück.“
Oder hier zum Beispiel. Das ist berührend, wie die der M da Halt geben mag, Gleichzeitig ist das alles immer ein bisschen aufgeladen mit Zweideutigkeit. Als wäre alles Vertraute Liebevolle gleichzeitig mögliche sexuelle Anbahnung: der Kopf an ihrer Schulter, Melissas Atem auf ihrem Arm, obwohl es Melissa hier mit Sicherheit anders gemeint hat.

Und irgendwie wirkt die kleine Sexszene mit M vor diesem Hintergrund noch einmal anders. Nicht mehr nur so, dass die Erz es gewohnt ist, alle Reaktionen ihrer Umwelt zu bemerken, und sich ihrer selbst durch Sex versichern will, sondern dass sie den Sex auch als Trost einsetzt, weil sie M nicht nur als Konkurrenz empfindet oder als lästige kleine Fragerin, sondern eben auch als die Kleinere, die Beschützenswerte. Hier zum Beispiel:

Schritte im Kies, der Geruch ihrer Haare noch in meiner Nase, süß wie der ein kleinen Kinds.

Und dann reagiert sie wieder völlig cool, als M da irgendwo auf der Brücke rumhängt, was irgendwie gefährlich klang. Irgendwie verfahren.

„Ja“, sage ich. Das Mädchen streicht ihm über die Haare. Ich suche ihre Augen, aber sie sieht nur in sein Gesicht. Ich glaube, es sind dunkle Augen.
Das fand ich auch spannend. Sie sucht nicht die Augen des Blonden. Sondern die des Mädchens. Interessant.

Und dann der Stein. Es muss furchtbar sein, da zu so einer Vorstadtschlampe gemacht zu werden. Denn irgendwie scheint ihr das mit ihrer Neigung zu Körperlichkeit, passiert zu sein. Der Typ, in den sie sich vielleicht zum allerersten Mal in ihrem Leben verliebt hat, schmeißt ihr einen Stein hinterher.
Und es passiert wohl nicht zum ersten Mal, sonst würde sie das Treffen der Jungen nicht so beschreiben, wie sie es tut.

Ja, ein ziemlich erbarmungsloser Umgang mit einem Mädchen, das es mit sich und der Welt nicht einfach hat. Die den Sex zum Trost und zur Kontrolle braucht und zum Trost verschenkt.


Bis auf den kleinen Ärger über die wörtliche Rede zu Beginn ein wunderbarer, einfühlsamer und sehr sensibler Blick auf ein einsames junges Mädchen.


Viele Grüße von Novak

 

Hallo nochmal,

der Opferstatus leuchtet mir noch nicht so ganz ein. Es ist natürlich Deine Geschichte und Du hast Dir etwas dabei gedacht, die Erzählerin so zu zeichnen, wie Du es getan hast. Sie nimmt sich selbst nicht als Opfer wahr, aber ist sie es nicht trotzdem? Ich meine, dass sie mit der gesamten Mannschaft schläft, könnte man vielleicht noch unter jugendlichem Leichtsinn abtun, aber Cousine und Onkel anzubaggern, hat schon was hochgradig Gestörtes ( wobei ich die Cousine vielleicht auch noch als Erfahrung abtun würde, aber den schmierigen Onkel?)

Irgendwas muss passiert sein, dem sie zum Opfer gefallen ist, auch wenn ihr das vielleicht nicht bewusst ist. Ansonsten würde sie sich mMn nicht so extrem verhalten.

Nachdenkliche Grüße,

Chai

 

Hallo Novak,

verdammt, danke für deine Mühe, du hast mich voll erwischt: Der Dialog ist tatsächlich verschoben, und somit ändert sich auch die Aussage. Und das mit dem Schenkel und der Fliege - klar, ich hau mir den Locher auf'n Kopp, so ist ja der Schenkel der Fliege gemeint! SO genau sieht sie also ja auch wieder nicht hin, haha.

Ich finde die Erzählerin auch irritierend. Am Anfang war der Text länger, hat auch mehr Introspektive, aber dann kam so der Kjell Askildsen Effekt und ich habe alles ausgemerzt, weil es irgendwie besser passte, dieses Karge und Unheimliche.

Die Familie tritt ja bewusst etwas in den Hintergrund, die Mutter hat noch am meisten Charakter, aber es sollte schon uneindeutig werden. Du hast da aber sehr viel herausgelesen - siehst du, man muss da nicht rästeln, es sind doch einfach nur diese narrativen Spitzen nötig, der Rest ist da, man muss nur hingucken und lesen. Du bist übrigens auch die Erste, die die Schluck-Szene erwähnt, für mich ist die ja fast zentral im Text. Alles kann man von da aus ableiten. Wir wissen auch nicht, wie alt die genau sind, 13, 14, 15, da geht ja alles. Für mich spielt das in dem Kontext aber nicht so die große Rolle, weil ich denke, etwas anderes ist viel elementarer, und zwar, das etwas explizit Sexuelles so nebenbei verhandelt wird. Das mit dem Hühnchen und wie sie den Knorpel zerkaut, auch das mit Fingernagel, da schwebt ja immer so eine untergründige sexuelle Anspannung mit, die sich aber nie entlädt. Melissa funktioniert hier so ein wenig wie das Konzept des Anderen, also erst durch die Andersartigkeit einer anderen Person wird der Kontrast der eigenen Person, das Subjekt, sichtbar. Die Erzählerin begreift sich durch Melissa als sich selbst.

Der Stein ist ja die Strafe. Sie hat sich hingegeben, weibliche Sexualität, wenn sie freizügig ist, muss immer bestraft werden, Frauen gelten als Schlampen, Männer als tolle Hechte. So ist das. Der Stein ist ja ein Beweise dafür - sie hatte alle, jetzt kann sie gehen, ein neues Mädchen, ein neues Spielzeug ist an ihre Stelle getreten. Die Erzählerin weiß dass auch, sie belügt ja Melissa wegen dem blonden Jungen, und das einzige Mal wo so etwas wie Leben, Emotion und Stimmung in ihre Sprache kommt, ist da, wo sie die Mofas hört und sich den Platz wieder ins Gedächtnis ruft. Im Grunde macht sie sich ja selbst zur Schlampe, aber sie hat dafür, für ihr Verhalten, im Grunde keine Parameter, sie kann das selbst nicht überprüfen. Melissa ist auch neugierig und bedrängt sie, und auch hier, in diesem Mikrokosmos, ist die Währung ein Vorsprung an sexueller Erfahrung, an Sexus - mehr kann sie damit nicht anfangen, sie benutzt es als Abgrenzung, als Mittel zum Zweck.

Novak, toller Kommentar, sehr aufschlussreich für mich, einige Gedanken muss ich mir noch machen, das ist sehr viel, was du hier verhandelst, mir platzt gleich der Kopf, vor allem bezüglich der Mutter und der Darstellung, das kann ich nicht so übers Knie brechen, ich hoffe, du hast da Verständnis für. Ich habe mich jedenfalls wirklich sehr über deinen Kommentar gefreut!

Gruss, Jimmy

 

Rezeption ist ja (…) - immer irgendwie subjektiv, da gibt es auch kein Richtung und Falsch.
Richtung? Eine Freudsche Fehlleistung? Soll wohl Richtig heißen, oder? :D

Natürlich ist die Rezeption eines Textes immer subjektiv, aber die Beliebigkeit in der Textinterpretation, die den bisherigen Kommentaren zu entnehmen ist, widerspricht eklatant der Absicht eines Textes, etwas Bestimmtes erzählen zu wollen: Ein literarischer Text, in den alles und nichts hineininterpretiert werden kann, braucht niemand – außer vielleicht Leser, die sich in der Rolle des Interpreten gefallen, so nach dem Motto, je fantasievoller meine Auslegung des Textes, desto höher mein Renommee als Kritiker.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich habe nichts gegen Versuche, in einem Text Verborgenes entdecken zu wollen. Gerade gute Literatur bietet oft eine auf den ersten Blick nicht sichtbare zweite oder eine dritte Ebene an. Auch offenbaren Texte manchmal tiefenpsychologische Prozesse im Autor, die dem Autor beim Schreiben möglicherweise gar nicht bewusst waren.

Aber dieser Text hier gefällt sich in seiner Unbestimmtheit. Die spärlichen Hinweise sind Methode, sind Aufforderung an den Leser, sich was – fast egal was! – daraus zusammenzuzimmern. Das wird Transferleistung des Lesers genannt, auf die er sich gefälligst einzulassen hat.

Aber nicht mit mir, mein lieber Jimmy, denn das Ganze ist in meinen Augen nichts anderes als ambitionierte Scheiße, nur dazu geeignet, Aufmerksamkeit zu erregen.

PS: Dieser Text steht unter Gesellschaft, seltsam und sonstige - stünde er unter Experimente, hätte ich das alles nicht gesagt.

 

Chai, ich melde mich gleich.

Hallo Dion,

Aber nicht mit mir, mein lieber Jimmy, denn das Ganze ist in meinen Augen nichts anderes als ambitionierte Scheiße, nur dazu geeignet, Aufmerksamkeit zu erregen.

Wenigstens ambitioniert!

Nein, mal im Ernst: Was ich meinte, ist, dass ich natürlich eine Lesart habe, von der ich auch glaube, dass sie im Text selbst implementiert ist. Siehe den Komm von Novak - da bleibt kein Auge trocken. Ich habe nicht gesagt: Hey, rätselt euch das mal selbst zusammen. Ich sage nur: Wie jemand einen Text rezipiert, kann ich als Autor nicht festlegen. Oder nicht zu 100%. Da steht ja auch, dass man das als Beliebigkeit auslegen KANN. Nicht, dass ich mir das wünsche.

Aber, siehst du, ich kann auch nichts dagegen sagen, wenn du dem Text vorwirfst, ambitionierte Scheiße zu sein - das ist eben deine Meinung, da kann ich nix gegen machen. So hast du den Text rezipiert.

Gruss, Jimmy

 

Wie jemand einen Text rezipiert, kann ich als Autor nicht festlegen.
Natürlich nicht, aber als Autor kann ich schon festlegen, in welche Richtung* gedacht werden soll. Du hast bewusst darauf verzichtet und so ist bzw. war Vieles möglich.

* Vielleicht hast du in deinem Kommentar deswegen „kein Richtung“ statt „kein Richtig“ geschrieben?

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey jimmy,

ich habe den Text jetzt frisch gelesen und glaub, was Dir als Autor vielleicht am bedeutsamsten ist, ist was die Sätze/Szenen beim Leser so auslösen. Was sie erreichen und was nicht. Weil es so viele Lücken gibt, Andeutungen ... was machen die? Deshalb schreib ich Dir das jetzt schön brav auf. Ist der Zweite Durchgang, hab also schon einen Vorsprung vom ersten.

Wir sitzen auf der verrosteten Hollywoodschaukel hinterm Haus. Aus dem Küchenfenster zieht Zigarettenrauch. Onkel Harry raucht Kette. Ich höre ihn lachen. Er lacht oft.
Melissas Haare berühren mein Knie. Sie hat die Arme um ihre Beine geschlungen. Wir haben noch nicht viel miteinander gesprochen. Sie sagt, sie sei müde von der Fahrt und müsse sich ausruhen. Drei Stunden im Auto. Und dann die Hitze. Seit letztem Jahr ist sie nicht gewachsen. Immer noch einen Kopf kleiner als ich.

Wegen des Settings ploppte bei mir sofort meine Geschichte "Fluchtwege" auf. Wo zwei Außenseitermädchen den Sommer zusammen verbringen, weil sie sonst niemanden haben. Eine Zwangsgemeinschaft sozusagen, und die eine ihre erste sexuelle Erfahrung machte, und in dieser zum ersten Mal sich selbst fühlte und dann voll auf Sex abfuhr, weil es ihr ein "gutes Gefühl" verschaffte. Und eigentlich verschwinden solche Parallelen wieder, wenn die andere Geschichte einen neuen Verlauf nimmt. Hier blieb sie. Was ich damit sagen will, ich bin vorbelastet was Außenseiter und Sex betrifft in die Geschichte gegangen.

Seit letztem Jahr ist sie nicht gewachsen. - Sie hätte also wachsen sollen. Hat es aber nicht getan. Wachstumsstopp ist ein Zeichen für Trauma. Kann, muss nicht, hab ich aber als Möglichkeit mit in den Text genommen.

„Sind die Jungs wieder da?“ Sie öffnet beide Augen und zupft sich an der Nase.
„Welche Jungs?“
„Weißt du ganz genau.“
„Hab’n ja nix anderes zu tun.“
„Der eine war süß. Mit den blonden Haaren der.“
Ich nicke. „Ist aber in die Stadt gezogen.“
Sie seufzt.
„Gibt ja noch andere.“

Teenagermädchen. Wobei die eine gespielt gleichgültig tut. Gespielt daher, weil Mädchen in diesem Alter es einfach nicht sind.

Meine Mutter öffnet die Tür zum Garten und hält sich mit beiden Händen am Treppengeländer fest. „Alles gut?“
Melissa dreht den Kopf zur Seite weg.
...
„Echt immer noch?“, fragt Melissa und legt ihre Füße auf den Plastiktisch.
... „Nicht mehr so viel“, sage ich, ich spreche leise, und sie zupft wieder an ihrer Nase.
„War sie deswegen nicht mal weg letztes Jahr, in irgend so einer Anstalt?“
„Nicht deswegen.“ ... „‘ne Kur, wegen ihren Nerven.“

Mutter hat also ein Alkoholproblem. 'ne Fahne die man gut riechen kann. Und noch was anderes, mit den Nerven. Das heißt, die Protagonisten wird es schwer mit ihrer Mutter haben, also da wird nicht viel Mutter sein, weil die wahrscheinlich mit sich selber genug zu tun hat.

„Ich mag Hühnchen“, sage ich. „Den Knorpel vom Bein zerbeiße ich als Erstes.“
„Ekelhaft.“ Sie steckt sich den Zeigefinger in den Mund und macht Kotzgeräusche. Dann öffnet sie ihre Augen und sieht mich an. „Aber du hast ja auch geschluckt.“
„Nein“, sage ich. „Hab‘ ich nicht.“
„Du hast geschluckt.“ Sie lehnt sich zurück, die Scharniere quietschen so laut, dass es mir in den Ohren wehtut. „An der Buhne habt ihr gelegen, ich hab's doch gesehen.“

Oh, ha. Die eine mag Knorpel und schluckt, Melissa beobachtet sie beim Sex. Die hatten da letztes Jahr einen aufregenden Sommer, würde ich mal sagen.

Vater stellt den Wein auf den Tisch.

Die leere Flasche vom Fenstersims? Ich bin verwirrt.

„Wo is’n Melissa?“
„Noch draußen.“
„Ja“, sagt er. „Die ist gerne draußen.“

Melissa hält es zu Hause also auch nicht so recht aus. Harry auch nicht so optimal als Vater, schätz ich mal.

„Hast ja bestimmt auch von der Sache mit der Marion gehört … aber na ja, jetzt ist’s auch okay. Kommt wieder alles in Ordnung.“ Er leckt sich mit der Zungenspitze über die Lippen und schiebt die Zigarette in den Mundwinkel.

Mit Melissas Mutter ist also auch was so gar nicht okay.

„Weil ich erst sehen will, ob’s überhaupt zu mir passt.“
... „Mochtest du den Blonden?“
„Welchen Blonden meinst du?“
... „Tu nich‘ so.“
„Ich weiß nich‘“, sage ich.
... „Kannst dich nicht mehr erinnern?“ Da ist wieder ihr Lächeln.
„Klar kann ich mich erinnern.“

Das ist schräg. Die eine stellt ihre "Weiblichkeit" zur Schau, Nagellack und so, die andere (die Prot. ohne Namen) hat noch nie Nagellack aufgetragen, poppt aber (wahrscheinlich) - auf jeden Fall bläst sie.

„Was denkst du eigentlich von mir?“
Sie schraubt den Deckel ab und zuckt mit den Schultern.
„Gib mir einfach deine Hand.“

Keine Antwort ist auch eine. Aber sie ist in ihrem Verhalten nicht abweisend gegenüber ihrer Cousine.

„Du bist komisch“, sagt sie und lehnt ihren Kopf an meine Schulter.

Komisch, aber nicht unspannend. Na ja, wenn sie ihr zugeschaut hat, ist das sicher auch nicht unspannend.

"Was ist eigentlich mit deiner Mutter?“
„Ach“, macht sie, ich kann ihren Atem auf meinem Unterarm spüren. „Wohnt jetzt in der Stadt.“
„Wie lange schon?“
„‘n paar Monate glaub‘ ich.“

glaub' ich - klingt wie - ist mir nicht wichtig, sie war weg, und es hat sich nichts geändert, deswegen weiß ich das auch nicht so genau - oder sie spielt die Gleichgültige.

Sie zuckt mit den Schultern. „Ist doch egal.“

Ja, irgendwie spielen die beiden gleichgültig.

Ich nehme Melissas Hand, lege sie auf meine Hüfte, dann ziehe ich ihren Körper an mich heran. Ihre Brust ist noch ganz flach.
„Der Blonde“, sagt sie, ihre Stimme zittert, „was hat der mit dir gemacht?“
Ich vergrabe meine Nase in ihrem Haar und lasse meine Hand über den Po zwischen ihre Beine gleiten. Sie zuckt, und ich kann sehen, dass sie dabei lächelt. Diesmal ist es ein anderes Lächeln.
„Warte“, sagt sie, als ich die Hand wegnehmen will, dann stehen wir da, eng umschlungen, und ich kann ihre feuchte Hitze an meinen Fingern spüren.

Melissa ist klein, zart und will gern Frau sein. Melissa ahnt, das Sex irgendwas "Gutes" ist, wenn die Cousine das hat. Die sind ja in einer ähnlichen Situation. Sie will das auch. Und die Prot. gibt ihr eine Vorahnung. Die macht das einfach, als wäre es das normalste der Welt, die Cousine berühren.

„Lass uns gehen“, sage ich schließlich und löse mich aus der Umarmung. Schritte im Kies, der Geruch ihrer Haare noch in meiner Nase, süß wie der ein kleinen Kinds.

Die Unschuldigkeit von Melissa geht aber nicht so ganz an ihr vorbei. Weiß gar nicht, ob sie sich wirklich im "Vorteil" sieht.

Melissa berührt mich am Arm. „Der Blonde ist auch da.“
„Ja“, sage ich. Das Mädchen streicht ihm über die Haare.

Eine andere ist jetzt bei dem Blonden.

Als wir wieder an der Brücke sind, höre ich den Aufprall. „Was war das?“, fragt Melissa und blickt zurück in die Dunkelheit.
Der Stein bleibt neben mir am Boden liegen. Er ist so groß wie meine Faust. „Nichts“, sage ich. „Geh einfach weiter.“
Ich hebe ihn auf und fahre mit den Fingern die scharfen Kanten nach. Dann lasse ich ihn ins Wasser fallen, und es gibt ein kurzes Gluckern, danach ist wieder Stille. Ich drehe mich nicht mehr um.

Letztes Jahr war da noch Sex, jetzt wirft man mit Steinen nach ihr. Okay. Geächtet. Die Jungen hatten ihren Spaß, er ist vorbei.

„Bist ja auch noch wach.“ Er dreht seinen Kopf weg und spuckt ins Gebüsch. „Geht ihr also morgen zum Fluss, ja?“
Ich atme den Rauch seiner Zigarette ein. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. „Denke schon“, flüstere ich.
„Das ist gut“, sagt er und lässt den Kopf langsam auf die Brust sinken. „Das ist sehr gut.“

Ich atme den Rauch seiner Zigarette ein. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. - Oh ha. Was auch immer das wird, man weiß es nicht. Aber sie wird morgen wieder an den Fluß gehen. Sie wird wieder schauen, ob die Jungs da sind, und ob das Mädchen wieder bei ihnen ist, ob sie noch mit Steinen werfen.

Das ist schräg. Es zieht sie immer wieder an den Ort zurück. Die Demütigung scheint ihr nichts auszumachen. Sie erduldet sie geradezu stoisch. Aber sie hat jetzt auch ein neues Mädchen dabei. Vielleicht ihre Eintrittskarte zurück in deren Kreis. Sonst ist sie verdammt einsam. Melissa auch. Und wenn die Währung Sex ist, um dabei zu sein, dann ist dem so. Dann wird bezahlt. Ohne Reue. Krass!

So meine Lesart. Auf jeden Fall mag ich den Text, das stimmt traurig, das ist böse - ohne dass das Böse benannt wird, ohne dass die Mädels das selbst so empfinden. Das ist das grausamste an dem Ganzen. Scheiß Nagellack sag ich da nur. Melissa, hau ab, geh zurück in deinen Wald. Der hat keine Strudel, möchte man dem Mädchen zurufen. Und für die Prot. für die kann man ja kaum noch was machen. Ihr 'ne Decke und Kakao geben, und ihr über den Kopf streichen.

Starker Text!
Beste Grüße, Fliege

 

Murdoc,

ich wüsste jetzt nicht, wo du als Belehrer auftrittst?

Du kannst aus einem Text immer alles evozieren, auch falsche Interpretationen, du kannst ihn so lesen wie du willst. Das ist ja dem Leser überlassen. Da kannst du als Autor nichts machen. Ich hatte hier mal eine empfohlene Geschichte, nur drei Seiten, sie hieß: Neuware. Vordergründig ging es um ein Verkäufer und Paar, die ein Bett sich ansehen, aber eigentlich ging es um die schwangere Frau und das Kind, das wahrscheinlich niemals geboren wird. Das hat damals nur eine einzige Person (Fliege war's), beim ersten Mal so gelesen. Was ich sagen will: Was der Leser aus der Geschichte zieht, kann ich nicht wirklich beeinflussen. Und es ist ja nicht so, dass plötzlich Dinge vom Leser hineinerfunden werden, die eigentlich gar nicht da sind.

Wenn das so klar ist, warum wird das dann am Ende so verschleiert.
Onkel Harry ist der Einzige in der Geschichte, der raucht. Er ist der Einzige, der mehrfach nach dem Fluss fragt. Das ist einfach naheliegend. Oder siehst du das anders? Ich finde es ehrlich gesagt, überhaupt nicht verschleiert. Ich habe das Ende nochmal angepasst und verändert, um es subtiler zu gestalten. Du willst mir die ganze Zeit sagen, dass ich hier etwas deutlicher sagen bzw werden soll, weil es sonst unweigerlich zu falschen Interpretationen führt, aber ich werde diesen Stil nicht ändern, ich nehme in Kauf, dass manche diesen Text eben nicht decodieren. Und es ist ja nicht so, dass das hier so ein manieristischer Beckett-Text ist, den man im Pro-Seminar bespricht. Das ist ein minimalistischer Dirty Realism Text, der eben auf Adjektive und Einmischung des Autoren größtenteils verzichtet. Das ist eine Frage der Erzählhaltung.

Murdoc, nichts gegen dich, aber ich habe diese Diskussion hier beinahe unter jedem meiner Texte gehabt, ich habe keine Lust darauf, mich mit damit jedes Mal erneut auseinanderzusetzen. Wir können über den Text debattieren, am Text, gar kein Problem, aber nicht über den Stil. Ich habe diesen Stil, ich verfolge diesen Ansatz schon seit sehr langer Zeit, verfeinere ihn, und glaube mir, wenn ich dir sage, ich denke über jedes einzelne Wort sehr, sehr lange nach, nichts steht einfach nur so da.

Ich danke dir für deinen Kommentar.

Chai,

ich glaube, sie ist sich dieser Opferrolle nicht bewusst. Das ist ja auch ein wenig Erzähltaktik, der Leser weiß vielleicht mehr oder kann das besser einordnen, als die Erzählerin selbst, dann wirkt das krasser, es wirkt direkt, frontaler.

Danke dir für deine Rückmeldung.

 

Hallo Fliege,

natürlich habe ich deine KG im Kopf gehabt. Ich konnte mich sehr gut an sie erinnern. Ich denke, als Autor muss man da immer vorsichtig sein: Sommer, Fluss, das sind so Schlagworte, Tropen fast, die haben einen hohen Verbrauchswert. Kann man nur einmal im Jahr machen. :D Deswegen auch das so sehr Zurückgenommene, um da nicht reinzutappen, ich kann das sonst nicht so elegant lösen. Außerdem ist der Erzähler hier ein junges Mädchen, da ist man als alter Sack natürlich immer gespannt, wie die so ankommt beim anderen Geschlecht.


Ich habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut. Du bist, wie Novak auch, eine sehr präzise und genaue Leserin, du hast die vermeintlichen Leerstellen mitgelesen, da passt wirklich alles. Dass da eine gewisse Empfindungslosigkeit ist, die sich durch den Text zieht, das ist hart, viel härter als wenn man da jetzt explizit wird; darin übe ich mich, das auch noch auf eine gewisse Wirkung hin zu schreiben, das man nur so eine Ahnung bekommt, eine vage Idee, aber dann in gewisser Weise alleine gelassen wird. Hier findet sich ja auch keine direkte Moral, wenn, dann nur aus den Figuren. Ich stelle das immer wieder fest, wie viele Leser Probleme damit haben, wenn der Autor nicht für sie eingreift und für sie wertet.

Ja, Fliege, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich möchte mich einfach nur bei dir für deinen Kommentar bedanken.

 

Murdoc schrieb:
Ich meinte nur du kannst mir ruhig klar sagen, wenn meine Interpretation falsch ist, anstatt die so als gute Idee abzunicken.

Sorry, wenn ich mich hier reinhänge und dazwischenquatsche. Aber das kann jimmy nicht. Er kann keinem Leser sagen, wie er eine Geschichte zu lesen oder zu verstehen hat. Es gibt kein richtig oder falsch. Für ihn ist spannend, was der Text beim Lesern hervorruft, egal was - selbst die totale Verwirrung ist okay. Und am Ende kann er gucken, welche Tendenzen das nimmt, was kommt der Intention nahe, was nicht - und dann kann er verändern oder auch nicht. Leser dürfen über einen Text alles sagen, Autoren dürfen ihn ganz allein bearbeiten. Der eine quatscht dem anderen nicht rein.

 

Murdoc,

siehst du, ich reiß die Klappe auf, dabei hast du natürlich total Recht! Deswegen dachte ich es gibt 'ne zweite Möglichkeit, weil die halt auch am Rauchen sind und dieser Blonde dabei ist. Alter, da siehst du die Kippen vor lauter Jack Daniels Pullen nicht mehr. Wird geändert!

 

Hallo Jimmy,

Eigentlich will ich die ganze Zeit noch etwas zu "Dunkels Gesetz" schreiben, aber jetzt stürze ich mich lieber auf diese Geschichte. Eine Mädchen-Geschichte nach Jimmy-Art.

Ich fange mit dem Ende an. Ich glaube vorher hattest du zwei Stellen mehr. Erst legte sie ihre Hand auf seinen Schenkel, später schob sie sie Richtung Schritt. Ich verstehe, dass du das subtiler wolltest und mir war das zuviel Lolita, aber jetzt habe ich mit dem folgenden Satz Probleme.

„Das ist gut“, sagt er und lässt den Kopf langsam auf die Brust sinken. „Das ist sehr gut.“

Jetzt wirkt es auf mich so, als ob er einschläft.

Ich atme den Rauch seiner Zigarette ein. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. „Denke schon“, flüstere ich.

Wunderbar. Da ist alles drin. Wie sie den Rauch einatmet, diese Mischung aus Hingabe und Selbstzerstörung, ihre körperliche Reaktion und das Flüstern, das hat etwas Ersticktes.

Es ist lang wie das von Melissa. Einer der Jungs drückt ihr ein Bier in die Hand. Ihre langen Finger umschließen den Flaschenhals. Sie nimmt einen langen Schluck.

Dreimal lang.

Das Verhältnis zwischen den Cousinen hat mich berührt. Das ist ein besonderes Verhältnis, man sieht sich von klein auf, hat gleiche Wurzeln, kriegt die Familiengeschichten der anderen mit, durchschaut aber noch nicht viel. Ich habe meine Cousine angehimmelt. Diese Neugierde, von der Älteren die wirklich interessanten Dinge zu erfahren, das hast du gut dargestellt.

Beim ersten Lesen habe ich lange gebraucht, um zu kapieren, dass die Erzählerin ein Mädchen ist, eigentlich war ich mir bis zu der Nagellackszene nicht sicher. Mir ist es lieber, wenn das von Anfang an klar ist.

„Bei Industriefleisch, da sin‘ Abszesse drin, die sehen die bei der Beschau meistens gar nich‘, das is‘ richtig tief drin in‘ Knochen, da suppt der Eiter nur so raus.“

Schon ein sehr spezielles Mädchen, dass hier so cool bleibt, abgesehen davon, dass auch die meisten Jungs hier zucken würden, innerlich natürlich.

„Aber der Papa war doch ganz woanders, der is‘ ja zuerst mitter‘ Èlektrozange an die ran, und dann … sssst“, er macht die Halsabschneidegeste und sieht zu mir herüber, „nach jedem Viech musste der sich mit `nem Schlauch ersma‘ das warme Blut vonner Schürze wegmachen.“

Ein kleiner Hinweis auf das besondere Verhältnis zwischen den beiden, er fordert sie irgendwie heraus und sie schluckt den Knorpel.

Schön, wie du immer wieder das Motiv des Flusses variierst. Der Fluss als Sehnsuchtsort für die Besucher der Familie. Und dann, als sie die Jungs treffen:

Der Fluss stinkt hier nach Öl und Benzin.
Das tut er inzwischen für deine Erzählerin.

Das Mädchen sitzt auf einem verbeulten Helm und blickt auf den in der Dämmerung glitzernden Fluss hinunter.
Für das Mädchen glitzert er noch.

Am Ende ist mir nicht klar, ob der Onkel von den Jungs am Fluss weiß, oder ob er damit einfach eine romantische Vorstellung verbindet.

„Das ist gut“, sagt er und lässt den Kopf langsam auf die Brust sinken. „Das ist sehr gut.“

Findet er es jetzt gut, dass sie zum Fluss gehen und wenn ja, warum, oder findet er gut, was sie gerade mit ihm macht? Und so lande ich wieder beim Ende und bin mir einfach nicht sicher, ob es mir nicht doch zuviele Fragezeichen sind.

Aber ich mag deinen knappen Stil, übrigens auch in deinem Roman, musste dort nur einige Stellen überspringen z.B. die mit dem Pferd.

Liebe Grüße von Chutney

 

Hi,

Manchmal habe ich das Gefühl, dass du bei Shortstories gerne mal ausprobierst, wie viel du kicken kannst, wie minimalistisch es geht. Bei einer deiner letzten Stories, als die drei Männer sich zum Mord verabreden, war mir das schon einen Zentimeter drüber, also nach meinem persönlichen Leseempfinden, aber hier passt es wieder total. Sehr karge, kurze Sätze, aber maximales Feeling. Zumindest ist das mein Leseempfinden. Mir war auch von der ersten Zeile klar, dass es sich hier um ein 12, 13, 14jähriges Mädchen handelt.
Das mit dem "Hineininterpretieren", was hier einige angesprochen haben ... für mich lässt der Text hier ehrlich gesagt überhaupt keine Fragen offen? Wenn man Hinweise zu sehr reduziert oder zu unklar für den Leser gestaltet im Text, merkt man das finde ich daran, dass die Leser verwirrt und unsicher sind, was denn nun passiert ist und wie Figuren und Ereignisse zueinander stehen. War hier bei mir echt nicht so, der Blowjob, der Junge, der Onkel, das ist für mich gut angerissen und ich wurde beim Lesen nie wirklich rausgeworfen, weil ich zu hart nachdenken musste. Solange sich das schön runterliest und man wo mitgenommen wird und dem Text alles glaubt und sich nach dem Lesen nicht das Gefühl einstellt, da müsste jetzt aber noch mehr auserzählt werden, machst du alles richtig. Für mich hat das wirklich sehr gut gepasst. Du bist ja ein großer Jayne Phillips-Fan, das merkt man, musste gleich an sie denken, im positiven Sinne. Krass, wie authentisch die Gespräche der jungen Mädchen wirken, ich meine, dass du das hinkriegst als Mann, selbst ich, der da alterstechnisch noch mal näher dran sein sollte, würde mir da sehr schwer tun, und das nicht so hinbekommen. Also chapeau, wirklich gelungen. Für mich ist das eine Story über Sexualität; man merkt, dass da irgendwas los ist, in der Prot, und es fühlt sich authentisch an und rund, ihr Konflikt. Das mit dem Stein war für mich auch klar, dass das vom Blonden kommt, der ihr praktisch noch mal so in die Fresse spuckt. Ja, diese ganze Übersexualität des Mädchens in Kombination mit der Welt zuhause, der Atmosphäre, man spürt, dass da was in der Luft liegt, dass sie den Druck irgendwie auch über ihr starkes sexuelles Verlangen "rauslässt", ohne dass ihr der Zusammenhang wahrscheinlich so bewusst ist, so zumindest mein Empfinden. Hat für mich wirklich gut geklappt, auch der Onkel, der schon weiß, was da abgeht am Fluss, das ist schräg alles aber doch sehr passend und fühlt sich rund und authentisch an. Für mich ist das ein Paradestück an Minimalismus, weil mir persönlich als Leser nichts fehlt, die Atmospähre ist sehr intensiv, und ich habe wirklich das Gefühl, dieses Mädchen mit ihren Eigenheiten ein gutes Stück kennengelernt zu haben. Sehr stark.

Gruß

 

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