- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Sinner - Im Regen stehen
Sag mir nur, dass du mich liebst, bitte…
Im Regen stehen... Damit hatte Dorian Coralis die letzten zwanzig Jahre so seine Erfahrungen gesammelt: Bei Regen war er ihr zum ersten Mal begegnet, im Regen hatte er sie das letzte Mal gesehen und nun standen sie wieder an demselben scheinbar gottverlassenen Ort, wo es auf sie einprasselte, als stünde eine zweite Sinnflut bevor. Er war von Kopf bis Fuß durchnässt und sich ziemlich sicher einen erbärmlichen Eindruck zu machen, während sie wie eh und je bezaubernd war. Aber vielleicht täuschten ihn da bloß seine Sinne, denn wie seinem ewig jung bleibenden Namensvetter Dorian Gray, nach dem ihn seine Mutter benannt hatte, war auch ihm die Zeit kaum anzusehen. Er glich seinem siebzehnjährigen Ich bis aufs Haar. Nichts, gar nichts hatte sich an ihm verändert. Isa hingegen hatte Falten bekommen, Gewicht angesetzt, der Glanz in ihren Augen war verschwunden. Als sie ihn auf der Lichtung erkannt hatte, war sie in Entsetzen ausgebrochen. Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie hielt sich mit beiden Händen ungläubig den Mund. Keiner sagte etwas, eine Ewigkeit passierte nichts."Isa", flüsterte er ihren Namen. Mit den Fingerspitzen berührte Dorian kaum ihre Wange. Sie sträubte sich nicht, aber dennoch hatte sie Angst. Angst, wovor? Fürchtete sie, er würde sie dafür verurteilen, dass sie ihn hatte stehen lassen? Nein, er war nicht wütend, nicht enttäuscht, nur froh und glücklich der einzigen Frau, die er je geliebt hatte, wieder zu begegnen. Weinte sie, oder war es bloß der Regen?
"Dorian, was machst du hier?", fragte sie leise.
"Hmm." Er dachte nach. "Ich denke ich warte."
"Aber worauf!", ihre Stimme wurde schriller, lauter.
"Darauf, dass du zu mir kommst."
Entsetzen, nichts als Entsetzen."
"Bitte", raunte sie. Bitte, wofür? "Bitte, lass mich gehen!"
Er berührte sie nicht mehr.
"Warum lässt du mich bloß wieder hier im Regen stehen?", fragte er traurig und müde. "Was habe ich dir getan, dass du mich zurückstößt? Sag mir nur, dass du mich liebst... Flehte er?
Isa sank zu Boden. Sie blickte in den dunklen Himmel, als könnte er ihr alle Antworten geben. "Weißt du es denn nicht, hast du vergessen was hier auf der Lichtung geschah?"
Was meinte sie? Sie wussten es doch beide.
"Du hast meine Liebe abgelehnt."
"Nein!", Isa schrie. Nein?
"Isa, was ist nur los mit dir? Ich mache mir Sorgen."
Sie lachte glockenklar. "Oh, Dorian mein Liebster, mein Freund, mein Engel, die Sorgen hättest du dir um dich selbst machen sollen."
Was meinte sie?
"Lässt du mich gehen, lässt du mich?", fragte sie erneut.
"Was immer du willst." Er resignierte und lies den Kopf hängen.
"Ich werde bei Zeiten kommen, Dorian, versprochen", sagte sie.
"Du lässt mich wieder allein", korrigierte er.
"Nein", Isa schüttelte den Kopf. "Nicht ich lasse dich allein, du hast mich alleine gelassen." Isa weinte, der Himmel weinte für sie beide.
Und dann war sie weg. Ihre Gestalt nur ein dunkler Fleck in der Ferne.Lange blickte Dorian diesem Fleck nach, bis auch er verschwunden war. Nun, dachte er, könnte er zum Klassentreffen gehen. Der Abend war in einiger Hinsicht gelaufen, aber er hatte nicht häufig die Gelegenheit auszugehen.Also würde er das Beste daraus machen. Isa liebte ihn nicht, war bloß ein Gespenst, dass ihn heimsuchte, eine Spinnerei, die er nicht los wurde. Je näher er dem alten Schulgebäude kam, desto lauter wurde die Musik. Gemäß ihres Jahrgangs wurden alte 80er Hits gespielt. Er erkannte den Beat von Eurythmics "Sweat Dreams." Draußen standen einige Grüppchen, meist Männer, die eine rauchten und sich unterhielten, einige wenige Frauen kokettierten mit ihnen.
Dorian wunderte sich wie wenig sich verändert hatte. In einer Ecke stand Anton Geber, von allen nur Toni genannt, auch er war seinem Stil treu geblieben, war aus den Lederklamotten über die Jahre hinweg anscheinend nicht heraus zu kriegen. Die ehemaligen Mädchen, nun gestandene Frauen, wetteiferten immer noch um seine Gunst."Oh, Toni, Toni bitte blick mich an!", schien jeder einzelne der fünf Damen um ihn zu schreien. Anton wirkte leicht genervt, seine Züge hatten einen harten Ausdruck. Ganz Gentleman lies er sich aber nur wenig anmerken. Stattdessen lächelte er gequält, gab hier und da ein Kompliment, ging nur soweit aufs Flirten ein, dass er sich wieder aus dem Strick befreien konnte, dem man ihm zu drehen versuchte. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Als Toni entdeckte, wer ihn beobachtete, lächelte er Dorian verschwörerisch zu und erhob kaum merklich den rechten Daumen. Sie waren nie Freunde gewesen, vielleicht flüchtige Bekannte, die übereinander das nötigste wussten. Auf einem Klassentreffen war alles möglich, da lebten plötzlich der coolste und der unscheinbarste Junge der Schule nicht mehr in zwei Paralleluniversen nebeneinander, sondern spielten in der gleichen Liga. Dorian erwiderte Tonis Geste mit einem Zwinkern, dann grüßte er hier und da, winkte dort und hier und trat schließlich in die Halle, wo er schlagartig in die Vergangenheit versetzt wurde. Sie alle waren da: Tamara und Jörk, ein ehemaliges Traumpaar, Torben, Andreas, Armin, Luka, David, die alten Torhüter, Samuel und Natascha... aber wo war Isa? Sie war bestimmt noch zum Klassentreffen gegangen. Dorian wollte sie vergessen. Es gelang ihm nicht. Er hatte sich ihr lang ersehntes Treffen anders ausgemalt. Seine Träume waren alle zerschlagen. Sein Herz erneut gebrochen. Und doch, ganz gleich wie oft sie ihn zurück lies, es war als stünde er immer noch an der Lichtung und wartete. Isa sag mir nur, dass du mich liebst... Er wanderte weiter durch den Saal, blieb aber eher unentdeckt. Der ein oder andere stieß gegen ihn, mehr als einen leeren Blick bekam Dorian nicht ab. Irgendwann stand er wieder in einer Ecke wie zur Schulzeit, der unsichere Junge der er war. Angeblich war er gern alleine, angeblich! Er marschierte die Wand entlang, Auszeichnungen der Schule hingen aus. Bilder von Lehrern, die lebten, oder nicht mehr da waren, Bilder von Schulvertretern, Bilder von... Dorian? Er fand ein Foto von sich, das im vorletzten Schuljahr gemacht worden war, typisch aufgehübscht mit glatt gegelten Haaren, Anzug und Krawatte. Ganz grässlich. Dorian wusste nicht warum ihm diese Ehre zuteil wurde. Er war nie Teilnehmer irgendwelcher schulischen Aktivitäten gewesen, nach Möglichkeit hatte er sich rar gemacht. Er fokussierte das Foto direkt neben seinem: Ruprecht Asmusen. Dorian wusste nicht viel über ihn, aber wenn er sich richtig erinnerte war Ruprecht an einer Lungenentzündung gestorben, die anderen beiden neben ihm kannte er nicht.Als er fasst glaubte, ein Mädchen mit rotblonden Haaren wieder zuerkennen, schrien die Menschen hinter ihm auf. In wenigen Sekunden brach Panik aus. Der Großteil stürmte zum Ausgang. Was war geschehen?
"Isa, Isa!", hörte Dorian. Auch er lief nach Draußen. Und da war sie, lag in Tonis Armen. Er hielt ihren blutenden Kopf gestützt, der seltsam verdreht schien. Auch ihre Kleidung war blutig, alles war blutig.
"Was ist mit ihr!", schrie die frühere Schulsprecherin.
"Ruft einen Krankenwagen!", forderte Toni. Er strich Isa die blutigen Haare aus dem Gesicht, sprach leise mit ihr. Dorian taumelte benommen zu ihnen. "Isa", sagte er verzweifelt. "Ist sie..."
"Tut mir leid Kumpel", antwortete Toni. Es war zu spät. Es regnete. Sie ließ ihn stehen. "Oh, Isa!" Er küsste sie, küsste ihren leblosen Mund. Hilflos sah Dorian mit an wie die einzige Frau, die er geliebt hatte, einfach nicht mehr ihre Augen aufschlagen wollte. Isa!
Ein Krankenwagen kam,transportierte die sterblichen Überreste. Er kam mit Leichensack. Hilflos sah Dorian mit an wie sie mit ihr davon fuhren, der einzigen Liebe die er kannte. "Komm Kumpel!" Toni schlug im auf die rechte Schulter. Der Tumult löste sich, es wurde spät. Sie setzten sich auf die Treppenstufen vor der Schule, rauchten. "Ich rauche nicht", sagte Dorian.
"Gut, denn ich auch nicht", Toni steckte sich erneut eine an.
"Was ist geschehen?"
"Sie ist tot."
"Wie?"
"Ein Auto hat sie erfasst, nur wenige Meter entfernt an der Lichtung."
"Wo? Da haben wir uns doch zuletzt gesehen! Das kann nicht sein."
"Da fand man sie aber."
"Trotzdem..." Isa schwirrte in Dorians benebeltem Kopf.
"Hätte sie eine Chance gehabt, wenn man sie früher gefunden hätte?"
"Nein, ihr Genick ist gebrochen, es war wenigstens schnell und schmerzlos."
"Wo ist der Fahrer."
"Weg, geflüchtet, irgendwo weit weg..."
"Das ist nicht fair!"
"So ist das Leben."
Sie schwiegen eine Weile.
"Was machst du hier Kumpel?", wollte Toni plötzlich wissen,
"Na, das gleiche, wie du, Klassentreffen."
"Bist du dir da sicher?"
"So ziemlich, ja."
"Hmm", machte Toni. "Es tut mir leid, dass der Abend so geendet hat."
"Mir auch. Ein Wiedersehen stellt man sich anders vor."
"Glaub mir Kumpel, die vergangenen zwanzig Jahre haben wir uns genug gesehen."
"Wie meinst du das?"
Toni atmete ein paar Mal tief ein und tief aus. "Ist dir nichts an diesem verdammten Abend aufgefallen?"
"Isa ist tot."
"Ja, ist sie. Und du hast sie geliebt stimmt’s? Nun, sie dich auch. Meinst du nicht, dass ist der Grund, warum du hergekommen bist?"
"Um sie sterben zu sehen!", rief Dorian empört aus.
"So könnte man es auch sagen", nickte Toni, was unverständlich war.
Dorian wurde wütend. "Ich liebe sie!"
"Das weiß ich doch und doch bist du hier, um sie abzuholen."
"Das geht jetzt nicht mehr!
"Doch gerade jetzt geht es. Zwanzig Jahre, zwanzig verfluchte Jahre."
"Was hat das denn damit zu tun?"
"Hast du nie in den Spiegel gesehen? Hast du dich nie gefragt warum du wie siebzehn aussiehst, hast du dich nie gefragt wo die zwanzig Jahre geblieben sind? Für dich existieren keine Erinnerungen in dieser Zeit. Für dich gibt es nur ein gestern, und das liegt in den 80gern."
"Und?"
"Und? Machst du Witze, Kumpel! Du hast mich zwanzig verfluchte Jahre verfolgt ohne das auch nur einmal zu hinterfragen?"
"Wir haben uns doch erst wieder gesehen", sagte Dorian. Er verstand nicht was Toni meinte. "Du warst immer da, hinter mir wie ein Schatten, klebtest an mir, hast mich nicht eine Nacht ruhig schlafen lassen, wir waren die letzten zwanzig Jahre zusammen!“, widersprach Toni. Plötzlich flackerten Bilder vor Dorians Augen. Dorian im Bad hinter Toni, im Spiegel sieht er sein zerschlagenes Gesicht als Toni sich bückt um sich die Zähne zu Putzen, Dorian wie er nachts neben Tonis Bett wacht und ihn minutiös anstarrt, sodass Toni keine Ruhe findet, Dorian wie er Toni auf Schritt und Tritt verfolgt. Sie gehen gemeinsam durch die Stadt, gehen zusammen etwas trinken, pinkeln, tun alles zusammen. Die Bilder schmerzen, denn sie eröffneten eine neue Realität. Die Wahrheit.
Die Erinnerung an einen verhängnisvollen Abend im späten Juli kam wieder. Es regnete und die Straßen waren rutschig. Dorian wollte Isa treffen, aber weiter als zur Lichtung kam er nie. Ein Wagen rauschte mit hundert km/h an, sah ihn zu spät und schleuderte Dorian 200 Meter weit weg, wo er hart mit dem Kopf auf dem Beton aufschlug, was ihm den halben Schädel zertrümmerte. Der Fahrer kam heraus gestürmt, rief abermals seinen Namen... Es war Anton Gebers. Anton, der auch Toni genannt wurde,Toni der Musiker, Toni Frauenheld. Er hatte getrunken, nicht viel, aber doch genug um unachtsam zu sein. Er schrie immer wieder Dorian, Dorian! Jedoch vergebens.
Dorians Licht war erloschen. Stücke seines Gehirns lagen überall auf dem Asphalt verstreut. Das hätte niemand überlebt. Isa hatte ihm keinen Korb gegeben, Isa hatte ihn nie getroffen. Sie kam vielleicht fünf Minuten nach dem Unfall. Sie hatten nie eine Zukunft, nie eine Chance. Als Dorian begriff, löste sich alles auf, alles.
Plötzlich legte jemand seine Hand auf Dorians rechte Schulter. Als er sich umdrehte, stand Isa hinter ihm. Sie machte nicht den Eindruck tot zu sein und lächelte ihn an.
„Ich habe doch gesagt bei Zeiten werde ich mit dir kommen. Lass uns gehen.“
„Aber vorher“, sagte Dorian. „Sag mir was deine Antwort gewesen wäre?“
Sie lachte auf ihre Isa-Art. „Du Dummerchen, sonst wäre ich nicht hier.“
Isa sprach ernst weiter, als lege sie einen Eid ab: „Ich liebe dich Dorian.“ Dorian erhob sich. Gemeinsam schlenderten sie die Straße zur Lichtung entlang.
Toni blieb einsam zurück. Er blickte ihnen lange nach. Seine Gespenster war er los, doch auch er würde diese Straße eines Tages entlang gehen, nämlich dann, wenn er dem Krebs in seiner Lunge erlag. Und wieder setzte der Regen ein.