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So bin ich glücklich
Deliah räusperte sich.
Sie blickte sich im stillen Klassenraum um und bemerkte, dass ihre Klassenkameraden etwas schrieben. Der Lehrer hatte wahrscheinlich Stillarbeit verordnet, sie jedoch hatte heute keine Lust auf Unterricht. Sie war mit den Gedanken woanders, an einem Ort, an dem sie ungestört war. Wenn die anderen wüssten, was in ihrem Kopf vorging, würden sie Deliah eh nur verspotten.
Warum starrte Ekrem sie so an?
Seine dunkelbraunen Augen bohrten sich durch die dünne Schutzwand, die Deliah um sich aufgebaut hatte. Sie wollte niemanden an sich heranlassen. Denn niemand durfte ihr Geheimnis erfahren.
Ekrems Blick war immer noch auf sie gerichtet und er hatte ein höhnisches Grinsen im Gesicht. Er zwinkerte ihr zu, was ihr ziemlich unangenehm war. Als Antwort zeigte sie ihm den Mittelfinger, woraufhin er einen kleinen Schmollmund machte. Das sollte wohl witzig sein, aber sie fand es kindisch.
„Bin wieder da!“, rief Deliah erschöpft durch die Wohnung, als sie durch die Tür trat und hörte aus dem Wohnzimmer nur ein „psssst ...“ als Antwort. Stimmt ja, hatte sie vergessen. Ihr kleiner Bruder machte um diese Zeit Mittagsschlaf. Die Mutter saß im Wohnzimmer und trank schwarzen Tee, so wie alle türkischen Mütter und Väter es taten. Warum taten die das eigentlich?
„Wie war es in die Schule?“, fragte ihre Mutter sie mit dem bisschen deutsch, das sie konnte.
„Langweilig“, entgegnete Deliah ihr trocken, weil sie wusste, dass ihre Mutter aus reiner Routine fragte.
Was wäre wohl, wenn ihre Mutter davon wüsste?
Was würde sie sagen?
„Holst du deinen Bruder bitte gleich vom Kindergarten ab? Und dann musst du noch einkaufen gehen. Ich muss mich um deinen kleinen Bruder kümmern, das weißt du ja …“
erklärte ihre Mutter, dieses mal in der Muttersprache.
Jeden Tag dasselbe. Bruder abholen, Wäsche waschen, dann aufhängen und dazu noch andere Hausarbeiten. Und machte sie etwas falsch, kam es schon mal vor, dass ihr Vater ihr eine langte. Sie sollte eben perfekt sein. „Damit du mal eine gute Hausfrau wirst“, sagten ihre Eltern ihr ständig. Aber was, wenn sie gar keine Hausfrau werden wollte?
Die sagten das immer so bestimmt, so, als ob es selbstverständlich wäre, dass sie mal einen Mann heiraten und Kinder bekommen würde.
Was, wenn sie nicht heiratete?
Was würde ihr Vater dazu sagen?
Es wusste noch eine andere Person von ihrem Geheimnis, den Gedanken, für die sie sich so sehr schämte und von den verbotenen Dingen, die sie tat.
Celine.
Celine wusste nur aus dem Grund davon, weil sie selbst betroffen war.
Deliahs Gedanken galten nur ihr.
Wenn sie manchmal zusammen bei Celine zuhause saßen, stellte sie sich heimlich vor, wie es wohl wäre, einen Schritt weiter zu gehen. Die Grenzen zu überschreiten, es nicht nur bei einem intensiven Kuss zu belassen und sich weiter zu trauen? Aber es würde an Celine liegen, diesen Schritt zu machen, denn Deliah würde sich das nie im Leben trauen, das wäre undenkbar.
Auch die Vorstellung, mit Celine so richtig zusammen zu sein, als Pärchen, sie zu lieben oder sogar mit ihr zu ...Nein, an so was durfte sie nicht denken, das wäre eine Sünde.
Ohne die Religion, ihren streng gläubigen Eltern und ihrer Vorstellung vom perfekten Leben könnte alles so einfach sein. Doch das war es nicht.
Ihr Herz sagte ihr sündige, ihr Verstand wiederum tu es nicht.
Auf was sollte sie hören?
Und warum dachte sie überhaupt an so was?
Sicher war es nur die Pubertät, so sagten das doch die Erwachsenen immer.
Aber sie schämte sich so unendlich.
Nachdem sie ihre Hausarbeiten erledigt hatte, fragte sie ihre Mutter um Erlaubnis, Celine zu besuchen. „Komm aber nicht zu spät zum Beten“, hatte diese geantwortet und Deliah verschwand mit einem kurzen Nicken durch die Tür. Fünfmal am Tag betete sie, wofür sie sogar einen Betraum hatten. Diesen durfte sie nur verdeckt, also in Kopftuch und Rock, betreten. Zu gut, dass niemand sie so sehen konnte. Sie liebte und ehrte ihren Gott zwar, wollte aber nicht von fremden Personen so gesehen werden. Sie wollte ihre langen schwarzen Haare nicht mit einem Tuch bedecken, oder ihre Jeanshose gegen einen Rock umtauschen. Mit ihrer Figur und ihrem Aussehen war Deliah eigentlich recht zufrieden.
Der Himmel war leicht bewölkt, und sie hoffte, dass es auf dem Rückweg nicht regnen würde. Gleich würde sie bei Celine sein.
Deliah hatte zwar Sehnsucht nach ihr, hätte sich aber niemals träumen lassen, dies als Liebe zu bezeichnen. Endlich erreichte sie Celines Haus am Ende der Straße.
Bevor sie klingeln konnte, wurde die Haustür geöffnet und Celine trat aus.
„Hi!“, sagte sie überrascht. „Ich wollte gerade zu dir kommen!“
Deliah murmelte auch eine kleine Begrüßung und fragte sich, warum Celine eigentlich immer so fröhlich war.
Sie hatte kurze, blondierte Haare und war wirklich hübsch.
Deliah fand sie sehr attraktiv, und musste oft über Celines schönen Körper nachdenken, über die zierliche Figur und die helle Haut, die auch in der Sonne nicht braun zu werden schien. Über die kleinen Grübchen, die sich beim Lachen in ihren Wangen bildeten, ihre weichen Hände, ihre Brüste. Alles an ihr ließ Deliahs Herz schneller schlagen.
Aber es war keine Liebe. Sie würde es eher als eine Art Neugier bezeichnen. Etwas Unbekanntes, das sie erforschen wollte. Und wenn es ihr gefiel, dann ...was wäre dann?
Was empfand Celine wohl für sie?
Dachte sie auch so wie Deliah?
In Celines Zimmer fühlte sich Deliah wie zu hause. Ob es die Wärme, die sie darin verspürte, war, oder die verbotenen Küsse und Umarmungen, die hier drin ihren Lauf genommen hatten, wusste sie nicht. Aber sie wusste, dass Celine der einzige Mensch war, dem sie sich wirklich öffnete, anstatt sich, wie sie es gegenüber anderen tat, zu verschließen.
„Warte, ich hol uns eben was zu trinken und dann muss ich dir was voll witziges erzählen!“, berichtete sie aufgeregt und kicherte beim Verlassen des Zimmers noch vor sich hin.
Deliah bemerkte, dass sie schmunzelte, was selten vorkam.
„Also, ich bin ja froh, dass du kein Kopftuch tragen musst und keinen Rock! Weil ich dann immer voll neugierig wäre, wie du ohne aussiehst!“, hörte Deliah ihre Freundin aus der Küche brüllen.
„Und ich würde gerne mal wissen, wie DU mit aussiehst!“, entgegnete Deliah ihr lachend und stand auf, um sich Celines neue DVD´s anzusehen.
Sie hörte das Gelächter ihrer Freundin, das lauter wurde und schließlich betrat sie, mit zwei großen Coca-Cola Gläsern in der Hand, das Zimmer.
Deliah warf einen Blick hinter sich zu Celine, die nun nicht mehr lachte, sondern die Gläser auf ihrem Nachttisch abstellte und auf Deliah zukam.
Diese drehte sich um und starrte verlegen auf den Boden.
„Hey, was ist los?“, fragte Celine mit einer weichen Stimme und Deliah war diese Frage peinlich. Was war denn los? Was sollte sie denn antworten? Sie wusste es doch selbst nicht.
Ihre Freundin kam noch ein Stück näher und streichelte behutsam mit ihrem Handrücken über Deliahs Wange.
„Ich….“, Weiter konnte sie nicht sprechen, denn Celine legte ihren Zeigefinger auf Deliahs Lippen und versuchte ihr klar zu machen, dass es okay sei.
„Weißt du, wenn ich in deine dunklen Augen sehe, sehe ich einen tiefen Krater, der viele Geheimnisse in sich trägt. Ein paar dieser Geheimnisse kenne ich schon, doch du vertraust mir noch nicht genug, Deli! Ich will alle deine Geheimnisse kennen, auch wenn dir manche davon peinlich vorkommen. Aber ich kann sie nur erfahren, wenn du das auch willst.“ Ihre Stimme klang ruhig und sie flüsterte schon fast.
Nur Celine durfte sie Deli nennen, taten andere das, wurde sie wütend.
Wie nah Celines Gesicht an ihrem war. Diese Augen waren so voller Geborgenheit, voll von Verständnis und Vertrauen. Glaubte sie etwa, dass Deliah ihr nicht vertraute?
„Also, willst du das?“, Wollte sie das?
Wollte sie, dass jetzt doch jemand ihre Gedanken erfährt?
Wollte sie eine Antwort auf diese Frage geben?
„Willst du das?“, hakte Celine wiederholt nach, doch Deliah hielt diese unerreichbare Nähe nicht mehr aus.
Sie zog ihre Freundin zu sich und küsste sie. Sie wusste, dass Gott dagegen war, doch sie konnte sich nicht mehr halten. Der Kuss wurde von Celines warmen Lippen erwidert, doch Deliah wünschte sich so viel mehr als das. Mehr als nur das besänftigende Gefühl von Celines Mund auf ihrem, mehr als nur die Leidenschaft, die sie miteinander verband. Sie wollte viel mehr.
Doch sie tat nichts. Dazu war sie nicht mutig genug. Und Celines Frage blieb unbeantwortet.
Ob Celine dachte, dass Deliah sie Liebe?
Liebte Deliah sie denn nicht?
Am nächsten Tag wurde Deliah in der Schule von Ekrem angesprochen, der offensichtlich ernsthaft in sie verliebt war.
„Komm schon, nur einmal!“, drängte er, doch Deliah sah verlegen weg, zu den anderen, die weiter weg standen, und wusste keine Antwort.
„Ich hab im Moment keine Zeit, wegen Schule und so…“, brachte sie doch schließlich schüchtern raus. Im ersten Moment wirkte Ekrem erleichtert darüber , dass sie endlich eine Antwort auf seine Frage gegeben hatte. Doch im zweiten konnte er sich das Lachen über die Antwort selbst nicht verkneifen.
„Komm schon, du bist in der neunten Klasse, da wird es schon nicht so schlimm sein, wenn du einmal keine Hausaufgaben machst! Außerdem ist es ja nur eine Pizza, da hast du später noch Zeit!“, bettelte er, doch Deliah wollte nicht. Direkt ins Gesicht sagen konnte sie ihm das natürlich nicht. Schließlich hatte Ekrem eine große Schwester, die nicht besser war als er. Und sollte Deliah seinen Stolz verletzen, würde das garantiert nicht gut ausgehen. Eigentlich sah er ja ganz gut aus, aber jemand anders war es, zu dem sie sich hingezogen fühlte.
„Ich werd´s mir überlegen“, antwortete sie nachgebend, doch das reichte ihm nicht.
„Die Mädchen fallen dir doch alle zu Füßen, warum dann ich?“, fragte sie noch.
„Wir reden nach der Schule darüber. Ich gehe noch schnell eine rauchen, bevor die Pause zu Ende ist“. Nachdem er diesen Satz beendet hatte, verschwand er in die Richtung von ein paar Möchtegern-Machos aus ihrer Klasse.
Unweigerlich musste sie wieder an SIE denken.
Der Kuss gestern hatte auch nach Rauch geschmeckt, was Deliah zwar nicht gestört hatte, aber es war ein komischer Nachgeschmack gewesen, den sie auch auf dem Nachhauseweg noch hatte.
Im Unterricht redete der Lehrer über die Entstehung Europas, doch irgendwann hatte Deliah keine Lust mehr zuzuhören. Sie widmete sich lieber der Freiheit ihrer Gedanken, in denen sie keiner stören konnte. Niemand konnte ihr in ihren Träumen etwas nachstellen, sie beleidigen oder gar abweisen. Sie stellte sich vor, wie sie sich mit vielen Freundinnen einen gemütlichen Abend machte, stellte sich vor, wie es ist, viele Freunde zu haben und „dazugehören“, ohne sich die Haare blond färben zu müssen.
Sie malte sich aus, dass sie vor ihren "Freundinnen" mit Celine Händchen hielt, oder sie küsste.
Warum fühlte sich ihr Herz an, als müsste es zerspringen, wenn sie an Celine dachte?
Gestern war Celine noch einen Schritt weiter gegangen. Deliah wurde von ihr an einer Stelle berührt, wo sie nie zuvor von jemandem berührt worden war. Und sie hatte sich nicht zurückgezogen, denn es hatte sich gut angefühlt. Jetzt konnte sie kaum noch an etwas anderes denken, als daran, wie sie zum ersten mal einen Abschiedskuss von Celine bekommen hatte, so wie Pärchen das machten. Waren sie jetzt auch ein Pärchen?
„Ja“, dachte Deliah. „möglich wär´s. “
„Deli, warte!“, Hörte sie eine Jungenstimme hinter sich rufen. Deli? So durfte nur Celine Sie nennen. Und zum Warten hatte sie auch keine Zeit, denn Celine wollte sie heute mit dem Roller abholen. Das waren zwei gute Gründe, so zu tun, als hätte sie kein Rufen vernommen.
Doch dann spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und Ekrem tauchte neben ihr auf.
„Was ist mit meinem Angebot? Hast du drüber nachgedacht?“, fragte er neugierig.
Deliah blieb nicht stehen, sondern schritt weiter voran zum Parkplatz, wo sie Celine bereits entdeckt hatte. Wie es für ihre Art üblich war, winkte ihre Freundin energisch , damit sie auch ja nicht übersehen werden konnte. Den Helm hatte sie bereits abgesetzt, so dass Deliah schon von weitem ihr strahlendes Gesicht sehen konnte.
„Also erstens“, begann Deliah in einem scharfen Ton, „für dich immer noch DELIAH. Und zweitens NEIN, ich habe nicht darüber nachgedacht und das werde ich auch nicht.“ Sie konnte kaum glauben, dass sie das gerade gesagt hatte, doch sie fühlte sich jetzt gut. Das war gar nicht so schwer, wie sie geglaubt hatte, und wenn sie an den Nachmittag dachte, den sie mit Celine verbringen würde, ermutigte sie das noch etwas mehr.
„Warum nicht?“, fragte Ekrem ein wenig sauer, da er mit einer Zusage gerechnet hatte.
Mit dem Kopf wies Deliah auf ihre Freundin. „Ich unternehme lieber was mit ihr“, sagte sie und war jetzt auf dem Parkplatz. Celine kam auf sie zugelaufen, umarmte sie und küsste sie kurz auf den Mund. Deliah war das nicht peinlich. Sie waren Mädchen und bei den Mädchen in ihrer Klasse kam so etwas ständig vor. Doch Ekrem schien begriffen zu haben. Er murmelte eine fiese Beleidigung und schlenderte gekränkt, die Hände in den Hosentaschen, davon.
Sicher würde er dafür sorgen, dass ihre Eltern davon erfuhren, doch im Moment war ihr das völlig egal.
„Ja“, sagte Deliah.
„Was, ja?“, fragte Celine lachend und verstand nicht.
„Ja ist die Antwort auf deine Frage gestern. Ich will es, Celine.“
„Sagen meine Eltern mir nicht ständig, dass sie mich lieb haben, und wollen, dass ich glücklich werde?
So bin ich glücklich.“