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So Gott will
»Machst du heute ein bisschen früher Schluss?«, hatte ihm seine Frau morgens aus der Küche zugerufen, kurz bevor er losgehen wollte. Sie war in den Flur getreten und trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Später kommen die Kinder. Ich mache Kuru Fasulye. Ich weiß doch, Bohneneintopf ist dein Leibgericht.« Er hatte an der offenen Tür gestanden, den Herbstmantel schon angezogen. »Ich versuche es, aber ich habe heute einen Termin mit einem Verlagsvertreter. Außerdem ist so viel zu tun«, hatte er ihr schnell geantwortet und sich dabei schlecht gefühlt. Er war froh gewesen, ihr den Rücken zugewandt zu haben.
Die Beine in eine zerschlissene Decke gewickelt, sitzt er auf einem Holzstuhl und wartet. Vor ihm, auf dem kleinen Tisch, liegt auf einem Tellerchen ein Stück Weißbrot mit Oliven und Schafskäse. Neben der Registrierkasse steht ein Glas Tee. Die braune Flüssigkeit dampft noch. Die beiden Zuckerwürfel, die er hinein fallen lässt, lösen sich langsam auf, während sie auf den Grund des Glases sinken. Bevor er den ersten Schluck nimmt, rührt er den Tee mit einem kleinen Löffel um und bringt die Zuckerkristalle zum Tanzen. Sein Blick ist auf die Bali Paşa Caddesi gerichtet, die wie ausgestorben daliegt. Trotz der Kälte dieses Oktobernachmittages, steht die Tür seines Ladens wie immer offen. Er denkt an die erste Kundin heute. Sie stammt nicht aus seinem Viertel, das hatten ihre Aufmachung und ihr suchender Blick sofort verraten. Sie war zuerst an seinem Geschäft vorbeigegangen – die Absätze ihrer Wildlederstiefel bearbeiteten das Pflaster wie kleine Hämmer – als sie, Gott weiß warum, kehrtmachte und mit einem Kopfnicken eintrat. Er war sofort aufgestanden.
»Kann ich etwas für Sie tun?«
Sie bedankte sich und sagte, sie wolle sich einfach umschauen.
»Bitte, gerne«, hatte er geantwortet und sich wieder gesetzt.
Sie würde nichts kaufen. Er beobachtete, wie sie an den Regalen vorbeiging und, den dunklen Lockenkopf schräggelegt, mal das eine, mal das andere Buch herausnahm, darin blätterte und es wieder zurückstellte. Das war es dann gewesen. Sie hatte sich mit einem gemurmelten Gruß verabschiedet und er fühlte sich sofort noch miserabler.
Seitdem sind vier Stunden vergangen. Er seufzt, steht langsam auf, presst die rechte Hand auf die schmerzende Stelle seines Knies und streckt den Kopf aus der Tür. Keine Menschenseele zu sehen. Auf dem Bürgersteig gegenüber versuchen zwei graue Hunde an den Inhalt eines Müllsacks zu kommen. Schließlich gelingt es ihnen, ein Loch in den Sack zu beißen. Fleischreste kommen zum Vorschein. Volltreffer. Angewidert beobachtet er, wie sich ihre angespannten, mageren Körper darüber hermachen. Vielleicht sollte er heute früher nachhause gehen. Endlich mit seiner Frau reden. Andererseits… Was, wenn ausgerechnet dann jemand käme? Und er nicht da wäre? Er schüttelt den Kopf. Nein, das kann er nicht riskieren. Im ganzen Viertel würde sich herumsprechen, dass der Karakush sich nachmittags lieber von seiner Frau bedienen lässt und die Füße hochlegt, als Bücher zu verkaufen. Oder noch schlimmer: Der Karakush geht nachhause, weil ihm die Kunden wegbleiben. Eine Schmach wäre das! Seine Frau macht ihm regelmäßig Vorwürfe, dass er zu viel arbeitet: »Komm doch mal früher heim, du hast dir eine Pause verdient!« Er weiß, dass sie es nur gut meint. Trotzdem ärgert ihn ihre Fürsorge. Er mag es nicht, wenn sie sich in seine geschäftlichen Angelegenheiten einmischt. Was weiß sie denn schon darüber, wie man eine Buchhandlung führt? Immerhin macht er seine Arbeit nicht erst seit gestern! Es wird auch wieder besser werden!
Weil das momentan jeder so macht, hat er vor einigen Wochen sogar Kochbücher angeschafft. Er könnte das Regal neu sortieren. Er könnte den Inhalt aber auch einfach in den Müllcontainer befördern. Eine blödsinnige Idee war die Sache mit den Kochbüchern gewesen. Eine zu teure Investition obendrein. Sind Kochbücher vielleicht Literatur? »Nein, aber Kochbücher sind modern«, hatte sein Freund Mustafa mit hochgezogenen Augenbrauen erklärt. »Du wirst sehen, die Leute kaufen sowas!« Er hatte also einen Teil der religiösen Bücher – die wunderschönen Koran-Ausgaben und Hadith-Sammlungen waren geblieben, wo sie waren – ein Stückchen weiter nach hinten geräumt, um Platz zu schaffen. Von den Kochbüchern hatte er trotzdem kein einziges verkauft. Er weiß, was das bedeutet. Er darf gar nicht an den jämmerlichen Umsatz der letzten Monate denken. Dabei hatte ihm Mustafas Meinung eingeleuchtet: Anstatt ihren jungen Töchtern ordentlich kochen beizubringen, treffen sich die Mütter heutzutage lieber in der Stadt zum ›Shoppen‹, oder wie das heißt. Sie schleppen abends haufenweise neue Kleidung nachhause und die Töchter müssen zusehen, wo sie bleiben. Falls sie schließlich verheiratet sind – ja, falls! – bleibt ihnen doch gar nichts anderes übrig, als in die Buchhandlungen zu spazieren, um aus neumodischen Kochbüchern die alten Rezepte ihrer Mütter zu lernen. Er denkt an seine jüngste Tochter. Sie ist – Gott sei Dank! – schon einige Zeit verheiratet. Sie ist schön und kann kochen. Aber seine Frau geht ja auch nicht shoppen. Trotzdem wartet die ganze Familie seit Ewigkeiten auf das Enkelkind. Seine Tochter, stur wie ein Ochse, lässt nicht mit sich reden. Auch deshalb wird er mit seiner Frau sprechen müssen.
Er humpelt zum Regal, nimmt die Bücher heraus und stapelt sie neben sich auf dem Boden. Bei jedem Bücken schmerzt sein Knie. Die Jahre auf dem Bau waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. »Verschleißerscheinungen!«, hatte der Arzt gesagt und mit den Schultern gezuckt. Unverrichteter Dinge war er wieder nachhause gefahren. Er wusste das schon vorher. Nur seiner Frau zuliebe hatte er sich auf den Weg nach Beyoğlu gemacht. Weil die Ablageflächen staubig sind, holt er aus dem kleinen Nebenzimmer einen Eimer mit Wasser und einen Lappen. Er wischt, bis das Wasser so schmutzig und grau ist, dass er den Boden des Eimers nicht mehr sehen kann. Das hat er sich von seiner Frau abgeguckt. »Erst dann ist es wirklich sauber«. Wenn sie ihn so sehen würde… Schließlich sortiert er die Bücher neu ein – gut sichtbar platziert er die Veröffentlichungen der angesagten Fernsehköche. Er tritt ein paar Schritte zurück, fasst sich an den Schnurrbart, betrachtet sein Werk. Ja, das könnte gehen. Er stellt den Eimer weg und geht zu seinem Platz. Er räumt das leere Glas und sein Mittagessen ab, das er nicht einmal angerührt hat.
Als er seinen Laden abschließt, taucht die Dämmerung die Stadt in fahles, bläuliches Licht. Die beiden Hunde sind längst verschwunden. Wahrscheinlich versuchen sie ihr Glück anderswo. Zuhause umarmt ihn seine Frau zur Begrüßung. »Du hattest einen anstrengenden Tag…« Sie riecht nach Bohneneintopf. Er hört Gelächter aus dem Esszimmer. Die anderen sind also schon da. Er lächelt müde und deutet ein Kopfnicken an. Morgen würde bestimmt Kundschaft kommen. Ja, wenn er darüber nachdenkt, ist er sich sicher, dass er morgen etwas verkaufen wird. Morgen würde er zuversichtlicher sein und am Abend würde er seiner Frau alles erzählen... So Gott will.