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Sol Invictus
Der Tag verschwindet, hinterlässt unter dem Nebel etwas Rosa, dann Rot, schließlich Schwarz. Akulina blickt aus dem Fenster. Er könnte so schön sein, der Abend. Frühling liegt in der Luft. Über die Straßen streunen Katzen und Hunde zwischen den Patrouillen, sonst niemand. Grollen und Zischen, Poltern und Beben überziehen die Stadt, mal näher, mal ferner. Lichtblitze steigen zum Himmel auf, leuchten, verglühen, ein unablässiges Feuerwerk.
Zeit aufzubrechen, bevor die besten Plätze belegt sind. Akulina wäscht sich die Hände, aber der Staub sitzt überall, ein Film, der sich über die Haut zieht. Sie schultert den Rucksack mit dem Wichtigsten, Papieren, Wasser, Schokolade, Buchweizen für den Notfall. Dann ruft sie ihre Tochter. Natalias presst ihre Puppe fest an sich. Sie hat sie Nadeschda getauft. Eine blonde Haarsträhne legt sich über ihr linkes Auge. Es ist sinnlos, in den Keller zu gehen, ruft Nadeschda, aber niemand hört sie. Im vierten Stock ist es nicht sicher, nirgendwo über der Erde ist es sicher. Im Treppenhaus hallen die Schritte. Das Geheul ebbt auf und ab. Die Bewohner sammeln sich. Jeder trägt die eigene Last. Mutter und Tochter halten sich aneinander fest. Der Vater ist irgendwo da draußen und schickt jeden Tag Fotos, auf denen er sich zu lächeln bemüht.
Zwei Stockwerke unter der Erde. Das Haus ist alt, solide gebaut. Die Sirenen tönen hier milder, gedämpfter.
Vor der eisernen Tür wartet der Hausmeister, hat die Arme verschränkt und steht breitbeinig auf dem Betonboden. Er begrüßt Akulina und Natalia mit einem Nicken und streicht über Nadeschdas Puppengesicht. Unter seiner Schiebermütze lugt schütteres Haar hervor, ein alter Mann, der Schlüsselträger des Wohnkomplexes. Boris hebt den Arm und weist den Weg: „Sucht euch einen Platz. Ihr seid bei den Ersten, habt die freie Wahl.“
Der Nachbarsjunge kommt mit seiner Mutter dazu. Sie stellen sich hinter Akulina und Natalia. Der Junge heißt Dmitri, sieben Jahre alt. Natalia erschrickt, als er schreit, man müsse alle Feinde töten. Boris schaut ihn verwirrt an und hält den Zeigefinger vor den Mund.
An den Wänden sind mächtige Rohre angebracht, Lüftung, Heizung, ein Weg nach draußen. Sie finden einen Platz in einer der Nischen zwischen den Abteilen, wo die Hausbewohner ihre Sachen lagern, alte Schränke, Gerümpel. Es gibt keine Stammplätze. Gestern verbrachten sie die Nacht auf dem schmalen Gang. Wer dort lagern muss, fühlt sich schutzloser. Die Mauern vibrieren. Auf dem nackten Boden liegen Sterne. Akulina fegt sie mit dem Handrücken beiseite. Das Paradies ist weit entfernt. Sie breitet die Iso-Matten aus, die sie für den Strand, für eine Sonnenwelt, gekauft hat, und legt die Decke darüber. Dann nimmt sie die Zeltstangen und baut den Unterschlupf, ein zusätzliches Dach für Natalia. Die Daunenjacken sind luftgepolstert, ein fadenscheiniger Schutz an der rauen Wand. Für einen Moment schließt sie die Augen, während ihre Tochter sich einrichtet, die Puppe platziert, die Vorräte aus dem Rucksack hinlegt. Die Nacht wird lang, aber irgendwann werden die Träume kommen, solche und solche.
Leo, der alte Mann aus der dritten Etage lässt sich an der Ecke zum Gang nieder. Er riecht nach Harz und Nadeln, als käme er aus einem Wald. Er trägt Kippa und hält ein Bündel in der Hand. Seit Akulina eingezogen ist, lebt er allein, wahrscheinlich war er schon da, als das Haus gebaut wurde.
Als Boris die Tür doppelt verschlossen hat, ballt Akulina eine Faust. Natalia schmiegt sich an sie. Ihre Mutter öffnet die Hand wieder und streicht über die feinen Haare ihrer Tochter. Akulina erinnert sich nicht, Leos Stimme je gehört zu haben. Aber heute fängt er an zu sprechen, aus dem Bauch heraus.
„Guten Abend, ihr drei. Darf ich euch und deiner Puppe eine Geschichte erzählen?“
„Nadeschda mag Geschichten“, antwortet Natalia.
„Du hast der Puppe einen guten Namen gegeben.“
„Findest du?“
„Oh ja. надеяться bedeutet Hoffnung.“
„Etwas Schönes“, sagt Akulina.
Leo nickt: und lächelt: „Der Name meiner Mutter war Ruth Baruch. Sie ist vor einigen Jahren gestorben. Hier in der Stadt hat sie zuletzt gelebt. Ruth ist ein jüdischer Vorname, schön, wohlklingend, jedenfalls in meinen Ohren. Namen tragen etwas in sich, ein Geheimnis, ein Zeichen, malenkaya, deshalb hast du deine Puppe auch Nadeschda getauft. Wenn ich die Augen schließe und an meine Mutter denke, höre ich ihre feine Stimme. Immer wieder dieselbe Geschichte hat sie erzählt, immer nur diese eine, wahrscheinlich, damit ich sie nie vergesse, vielleicht auch, weil sie sonst überhaupt nichts aus ihrem Leben erzählt hat, mag sein, sie wollte, mag sein, sie konnte es nicht. Sie flüstert ein wenig, aber hör ihr einfach zu.“
Zu dritt waren wir, drei Freundinnen. Wir stapelten Wäsche, sortierten die Kleider der Angekommenen. Manches roch nach Angst, anderes nach Kernseife und manchmal fanden wir Blusen, die nach Lavendel oder Kölnisch Wasser dufteten. Ein Stapel mit Hosen, einer mit Röcken, einer mit Kleidern, einer mit Jacken, einer mit Oberbekleidung, getrennt in Blusen und Pullover, ein Haufen mit Schuhen. Die Unterkleidung legten wir extra. Damit war nichts anzufangen, sagten die Kapos. Ab und zu fanden wir Spitzenwäsche. Dann stellte ich mir vor, wie zart sie sich auf der Haut anfühlte. Vieles war noch warm von den Leibern der Frauen, die sie kurz zuvor noch getragen hatten. Oder wir bildeten es uns ein.
Wir wagten es nicht, etwas zu stehlen. Das Lager, in dem wir arbeiteten, war riesig, so viel Platz nur für Kleidungsstücke. Berge türmten sich auf. Wir brachten zurück, was wir uns für die Nacht geliehen hatten. Ganz selten geschah es, dass wir zwischen den Sachen Perlen fanden. Oft zupften wir die Haare ab, die sich auf der Wolle verfangen hatte. So verbrachten wir unsere Tage, unterbrochen von Suppe, Wasser, Kartoffeln.
Aber wenn wir zu unserer Schlafstatt kamen, richteten wir uns ein, so gemütlich es ging, bauten uns eine eine Burg. Und all die Menschen, denen die Sachen gehört, die sich im Spiegel angeschaut, ihre eigene Silhouette begutachtet hatten, sich fragten, ob es ihnen stünde, was sie trugen, waren dann bei uns. Ihre Seelen, ihre Geister sprachen mit uns. Wir hörten ihnen zu, weil sonst nichts mehr anderes blieb. Wir lagen eng, aber wir lagen zusammen, Rahel und Sofia und ich. In einem schmalen Bett in der dritten Etage, die man uns als Nachtlager zugewiesen hatte. Wir bauten uns eine Höhle, so weitläufig, so tief, dass keiner uns finden konnte. Wir sangen die Lieder der Kindheit, sodass die Töne in die Höhe stiegen, der weiße Rauch unserer Herzen. Wir hielten uns aneinander fest und erzählten einander vom Frühling und Sommer, was wir von Schmetterlingen und Vögeln wussten, von Kaninchen und Rehkitzen.
Wir weinten, das schon, auch die Verzweiflung überfiel uns an vielen Tagen wie Eisregen, aber niemals vergaßen wir, dass das Leben aus Innen und Außen besteht, dass das Paradies ganz nahe ist, dass niemand die Seele an sich zu reißen vermag. Deshalb ritzten wir einen Spruch ins Holz, den ich aus meiner Schulzeit kannte: Sol Invictus. Denn die Sonne besiegt an jedem einzelnen Morgen die Nacht.
Damals war unser Paradies hinter Stacheldraht, zwischen zwei- und vierbeinigen Hunden, die ihre Zähne fletschten, Stöcke, Gewehre und steinerne Gesichter trugen. Aber wir hatten uns. Wir waren unbesiegbar. Keiner konnte uns etwas antun. Rahel und Sofia sind nicht verloren gegangen, auch wenn ich sie nie wieder gesehen habe, nach all dem, trage ich die beiden bei mir, so wie du die Geschichte von Ruth Baruch bei dir tragen wirst.
Während Leo spricht, zittern unentwegt Wände, dumpfer Donner, Knallgeräusche schwellen an, ebben ab, Menschengeflüster breitet sich aus, verstummt. Natalja schließt irgendwann die Augen, umklammert Nadeschda. Akulina kauert vor dem Eingang, starrt ins Leere, bis Stille einkehrt, nichts die milchige Luft erfüllt.
Am Morgen sind Leo und Nadeschda weg. Wohin Akulina auch blickt, sie findet weder den alten Mann noch die Puppe. Verschwunden wie Geister, die durch verschlossene Stahltüren nach draußen schweben und von nichts und niemandem aufgehalten werden können. Natalia weint. Die Mutter drückt sie an sich.
Boris gibt schließlich das Signal, indem er gegen einen blechernen Eimer trommelt. Er steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht zweimal.
Sie folgen den anderen nach draußen. Kalte Luft schlägt ihnen entgegen, durchsetzt von Ruß und Gummi. Wind setzt ein und weht den fremden Geruch weg. Ein grauer Himmel kündigt vorsichtig den Tag an. In der Ferne pulsieren Motorsägen, kratzen über Metall und Beton und Stein. Die Stadt ächzt. Ein paar Fahnen hängen aus den Löchern, die zuvor Balkone, ganze Wohnungen waren, hellblau oben, gelb unten.
Aus der Dunkelheit schält sich ein merkwürdiges Gebilde heraus. Es liegt dort, wo zuvor Bäume die Straße gesäumt haben, vom Himmel gestürzt, ein lebloses Nichts, verdreht, die Kanten an einzelnen Stellen gerade, an anderen abgerundet, das Metall geschmolzen, von Zufall oder Schöpfer zu bizarren Figuren zerschmolzen, als wüsste der Urheber nicht, welche Form das Gebilde annehmen solle, als wäre es nicht geschaffen für die Welt, auf die es stürzte, ein Engel, ein Stern, der mitten in der Stadt verglühte. Geschundenes Metall riecht nach den kalten Fängen des Winters, schmeckt nach dem bitteren Hunger der Tage, an denen Gott fern, Teufel und Tod nahe sind. Akulina spürt Hitze auf der Haut, wendet sich ab und zieht ihre Tochter mit sich fort.
Leo steht gleich daneben, birgt Nadeschda so vorsichtig im Arm, als wolle er sie nicht zerbrechen. In der Hand hält er ein Buch. Natalia rennt zu ihm.
"Ich habe auf sie aufgepasst, musste nur was aus der Wohnung holen."
Er gibt Natalia die Puppe. Sie wischt die Tränen ab.
"Und wenn du mal groß bist, lies dieses Buch."
Leo reicht es Akulina. Auf dem Cover ist eine Frau zu sehen, die auf dem Besen über einer Stadt reitet. Im Hintergrund sieht man die Zwiebeltürme des Kreml.
"Bulgakov, gut.."
"Ich muss los", sagt Leo und wendet sich ab. Er hat die Kopfbedeckung gewechselt, trägt nun eine dunkelblaue mit weißen Verzierungen am Rande, wie es Mütter für ihre Söhne häkeln.
Am Horizont wird die Nacht vertrieben. Ein Glutball steigt nach oben und wandelt dabei die Farbe. Aus Rot wird Rosa, aus Rosa gelb, bis über dem zarten hellblauen Himmel eine gelbe Sonne das Firmament bestimmt.