Solveig und der Sachse
Es ist ein wunderschöner Julitag, ungewöhnlich warm selbst für diese Jahreszeit. Die Sonne steht an einem klaren, blauen Himmel, nicht ein einziges Wölkchen ist zu sehen. Markttag in Birka. Alle haben sich herausgeputzt, Fibeln und Brustschmuck glänzen in der Helligkeit, die kräftigen Farben der Stoffe und Stickereien leuchten mit ihnen um die Wette.
Eine Familie bewegt sich mit dem Strom durch die kleinen Stände, die Frau befühlt hier einen Stoff, schaut sich dort einen geschnitzten Knochenkamm an. Der Mann und die beiden Söhne sehen eher nach Waffen und Messern. „Mutter, sieh nur, diese Klinge!“ ruft der Jüngere und weist auf ein damasziertes Essmesser.
Sein blondes Haar leuchtet, ebenso die tiefblauen Augen. Die Frau dreht sich stolz lächelnd zu ihm um. „Nimm es nur, Thoralf. Du kannst ein neues brauchen“, sagt sie und hat dabei selbst ein belustigtes Glitzern in den grünen Augen. „Solveig! Lass dem Jungen nicht immer alles durchgehen!“ wird sie von dem weiter vorn gehenden Mann scherzhaft zurechtgewiesen. Der ältere Sohn achtet nicht auf die Kabbeleien sondern sieht in einer Ecke des Marktplatzes einen Tumult entstehen. „Der Sklavenhändler“ bricht es aus ihm heraus und er läuft los. „Hallfred!“ Der Mutter Ruf bleibt ungehört. Hallfred ist mittlerweile in einem Alter, in dem ein Junge nicht mehr auf die Mutter hört – glaubt er. Nun läuft der Vater hinter ihm her, Solveig und Thoralf folgen langsamer.
***
An der Ecke angekommen, an der der Sklavenhändler seine menschliche Ware zum Verkauf anpreist sieht Solveig ihren Gefährten schon in Verhandlungen. Ein hoch aufgeschossener Mann scheint Alriks Interesse auf sich gezogen zu haben.
Um seinen Hals hängt ein deutlich sichtbares Taufkreuz, grobe Wolle bedeckt den schlanken Körper. Die kurzen Haare und der schmale Schnitt des angenehmen Gesichtes strahlen Selbstsicherheit aus, ebenso seine gerade Haltung. Die einfache Kleidung trägt er einem Herrschermantel gleich und scheint völlig unbeeindruckt von seinem Schicksal.
Solveig freut sich, als ihr Gefährte und der Händler sich einig werden. Mit einem Handschlag besiegeln sie ihr Geschäft, darauf gibt Alrik dem Händler einen breiten, gedrehten Silberarmreifen als Bezahlung. „Er kann Hallfred und Thoralf lesen und schreiben lehren. Und getauft ist er auch, der Sachse.“
Am Ende des Markttages werden sämtliche Einkäufe auf den Wagen geladen und die Familie macht sich mit ihrem neuen Hausgenossen auf den Weg in den heimischen Fjord.
***
„Müssen die Jungen wirklich schon mit? Hallfred ist fünfzehn, Thoralf vierzehn. Sie sind noch so jung“, versucht Solveig Alrik zu überzeugen. Der aber schüttelt nur den hellen Schopf.
„Jung? Denke daran, dass Du in Thoralfs Alter schon zweimal Mutter warst. Du kommst hier sicher allein zurecht. Und der Sachse ist ja auch noch da. Gib ihm ein Messer wenn ich fort bin, das bindet ihn an den Hof. Die Jungen nehme ich mit auf Handelsfahrt, sie werden sonst nur verzärtelt, sie müssen sich auch beweisen können. Das ist mein letztes Wort.“
Alriks Tonfall lässt kein weiteres Aufbegehren zu. Er stapft durch den Wohnraum des Langhauses, umrundet die Feuerstelle und schultert seine Kiste.
„Wir sind in einem halben Jahr wieder hier. Und ich bringe Dir auch was Schönes aus Nowgorod mit“, versucht der kräftige Schwede seine Gefährtin zu beschwichtigen.
Solveig steht noch lange in der Tür und schaut mit Tränen in den Augen den längst am Horizont verschwundenen Schiffen nach. Nowgorod. So weit will er fahren.
***
Die Schafschur ist im vollen Gang, es ist Frühjahr. Mehr als sieben Monate sind vergangen, seit Alrik mit den Jungen zur Handelsfahrt ins ferne Land der Rus aufbrach.
Auf dem Hof haben alle Bewohner die Hände voll zu tun, sie scheren, kardieren, spinnen, weben, färben, walken oder nähen aus dem fertigen Stoff. Überall ertönen Lieder, nach deren Takt die Arbeit verrichtet wird.
Das warme, weiche Gewebe und die fertigen Gewänder wird Alrik entweder auf die nächste Handelsfahrt mitnehmen oder sie an fahrende Händler verkaufen. Auch die Arbeiter, die Mägde und Knechte auf dem Hof, die Sklaven und die unfreien Bauern sind versorgt. Sie bekommen mindestens jedes zweite Jahr ein Stück ungefärbten Wollstoff, groß genug für Hemd und Hose oder ein Kleid. Färben können sie es selbst, wenn sie wollen.
Jede Familie kann sich behelfen, die kleineren Kinder spinnen, die größeren sammeln Kardendisteln oder stehen am Gewichtswebstuhl, die Erwachsenen übernehmen das Färben, Walken und Nähen. Manchmal finden sich die Mädchen mit einer der älteren Frauen zusammen, die ihnen die Feinheiten der Faserverarbeitung beibringt. Die Handhaltung beim Spinnen, das Benutzen des großen Gewichtswebstuhles, später auch das Weben mit Brettchen oder Kämmen.
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Wann sie wohl endlich wiederkommen, die drei Schiffe … Solveig ist in Gedanken versunken. Sie spinnt feine Wolle, die sie zu einem Festgewand für Alrik verweben will. Mägde hätte sie genug aber dieses Hemd soll etwas ganz besonderes werden.
Nur der Sachse trägt noch immer das eine Gewand, fällt ihr dabei auf. Das grobe Wollzeug, in dem sie ihn gekauft haben. Diesen Gedanken im Kopf ruft sie eine ihrer Mägde heran. Zwar kann der Sachse auch nähen, er flickt die Löcher und Risse in seinen Hemden selbst, doch sie möchte ihm eine Freude machen und bittet Alfhild, ihm Hemd und Beinlinge zu nähen.
Er macht nicht viele Worte, ist ihr aber schon zu einem wichtigen Hausgenossen geworden, sie schätzt ihn, auch wenn sie noch immer seinen Namen nicht kennt. Sie nennt ihn, wie alle anderen auch, nur den Sachsen. Vielleicht sollte sie …
Sie wird aus ihren Gedanken aufgerüttelt als ein Bote gehetzt auf den Hof läuft. „Solveig? Solveig Ulfgangsdottír?“ ruft er fragend über den gestampften Platz. „Ja, hier bin ich“, antwortet die Hausherrin.
Der Bote kommt auf sie zu. „Es waren nur noch Bruchstücke“, keucht er. „Ich komme von Birka her. Snorri hat mich mitgenommen auf seinem Wagen“, der Mann kommt kaum zu Atem. Solveig bittet ihn ins Haus, heißt ihn Platz nehmen und bietet ihm Brot und Met.
Der Bote isst hungrig, trinkt, und berichtet dann. Alrik, Hallfred und Thoralf waren erfolgreich auf ihrer Handelsfahrt, die Jungen hatten sich als gute Menschenkenner herausgestellt. Auf dem Rückweg lagen die drei Schiffe nur flach im Wasser, so viel ihrer Waren hatten sie verkauft.
„Ein Sturm kam auf, kurz bevor wir durchs Kattegatt gefahren sind.“
Die Auswirkungen dieses Sturmes waren sogar in dem kleinen Fjord noch zu spüren gewesen. Nur gut, dass sie genug Hände zur Hilfe gehabt hatten seufzt Solveig in Gedanken auf. Doch dann wendet sie sich wieder dem Boten zu, ein unangenehmes Kribbeln läuft über ihr Rückgrat.
„Was ist mit dem Sturm gewesen?“ fragt sie ungeduldig.
Der Bote wiegt den Kopf. „Es hat sie bei voller Besegelung getroffen. Die anderen beiden Schiffe waren zu leicht ohne die Ladung. Sie haben mit den Wellen getanzt, so lange sie konnten. Nur waren zu viele Wellen da und zu wenig Gewicht.“
Er ist nun ruhiger, weiß, dass er seine traurige Pflicht fast erfüllt hat.
„Alrik und die Jungen haben bis zuletzt versucht, das Schiff zu halten. Und gestern haben wir dann die Bruchstücke ihrer Schilde und die Wetterfahne gefunden.“ Tränen treten in seine Augen wie auch in die der Frau. „Es tut mir Leid“, sagt der Bote schlicht, sie kann nur stumm nicken.
Es ist das Schicksal so vieler vor ihren drei Männern gewesen, sie weiß nach außen damit umzugehen. Auf dem Grund des Kattegatt liegen zwei der drei Schiffe und ihre Besatzung, mit ihnen das Liebste, das sie auf der Welt hatte. Und Solveig kann ihnen nicht einmal die Feuerbestattung geben, die ihnen zugestanden hätte. Der Bote übergibt ihr, was von Alriks Schiff übrigblieb und verabschiedet sich schnell.
Sie trauert still und lange. Doch das Leben muss weitergehen.
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Drei Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Solveig hat die ersten silbernen Strähnen im dichten dunklen Haar, sie ist ruhiger geworden. Mit sicherer Hand leitet sie die Geschäfte auf dem Hof, verkauft nur noch an fahrende Händler, stellt immer mehr selbst her, obwohl sie es nicht müsste.
Einsam ist sie häufig, manchmal lässt sie Gefühle wie Verlust und Trauer zu, wenn sie auf die klare oder stürmische See vor ihrer Haustür blickt und noch seltener fließen dann ungehindert die Tränen.
In den klaren Sternennächten des langen schwedischen Winters friert sie oft. Seit Alriks und ihrer Söhne Tod hat sie niemanden mehr an sich heran gelassen.
Niemanden?
Doch, der Sachse ist immer häufiger um sie herum. Er hilft gar bei den Verhandlungen mit den fremden Händlern. Noch immer ist er Sklave, aber er wird stets wichtiger für sie. Und, kaum dass sie es zugeben würde, seit einiger Zeit fühlt sie mehr.
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Es ist wieder ein schöner Julitag als der Sachse zum ersten Mal von sich aus das Wort an sie zu richten wagt.
„Heute sind es vier Jahre, seit ich zu Dir kam“, sagt er schlicht. Sie kennt seine Zeitrechnung mittlerweile, genauso wie seinen Gesichtsausdruck, wenn er etwas Wichtiges sagen will, sich aber nicht so recht traut.
„Vier Jahre schon …“ antwortet sie gedankenverloren. „Drei Jahre nur …seit …“ Tränen füllen ihren Blick. Noch immer hat sie den Tod des Gefährten nicht ganz verwunden, wenn auch dessen Gesicht in ihrer Erinnerung immer weiter verblasst und durch das des Sachsen ersetzt wird.
Ärgerlich wischt sie sich die salzigen Tropfen vom Gesicht und lächelt den Sachsen an. „Du willst mir sicher etwas sagen“, fordert sie ihn auf. Der sonst so sichere und ruhige Mann beginnt zu stottern, ehe er allen Mut zusammennimmt und ihr ins Gesicht schaut. „Herrin, Du musst Dir einen Gefährten suchen.“
Solveig stutzt, will ihn schon wegen seiner Frechheit strafen. Doch dann besinnt sie sich. „Warum?“ fragt sie nur. Der Sklave nennt tausend gute Gründe, doch er kann sie nicht überzeugen. Sie will nirgendwo hin fahren, will keinen anderen Mann. Sie ist sich selbst genug, redet sie sich ein. Und Alrik ist noch nicht ganz aus ihren Gedanken verschwunden. Doch die Lüge hält nicht lange.
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Einige Abende später bittet Solveig zum ersten Mal den Sachsen, auch nach dem Essen noch bei ihr zu bleiben.
„Du hast mir nie deinen Namen genannt …“ beginnt sie vorsichtig, das Herz schlägt ihr vogelgleich in der Brust. Sie ist verwundert über sich selbst, erkennt diese Regung nicht wieder. Doch die Ruhe und Ausgeglichenheit ihres Gegenübers macht sie auch sicherer.
„Zeisolf“ antwortet der schlicht und sieht sie nur weiter abwartend an. Solveig druckst, weiß nicht recht was sie sagen soll. Doch dann fasst sie sich ein Herz.
„Du hast gesagt, ich solle mir einen neuen Gefährten suchen“ setzt sie an. „Die Gründe, die du nanntest, waren alle durchaus richtig. Aber warum meinst du nun wirklich, dass ich einen neuen Gefährten brauche? Ich habe doch dich. Du hilfst auf dem Hof und zeigst dich schon seit Jahren all den kleinen und größeren Herausforderungen gewachsen, die dein jetziges Leben mit sich bringt.“
Sogar unsere Sprache sprichst du mittlerweile fehlerfrei, denkt sie noch, spricht es aber nicht aus. Sie ist jetzt ruhig, weiß sich in der einfacheren Position und kann ihre Gefühle sogar vor sich selbst verbergen.
Der Sachse antwortet nicht sondern wartet, gespannt wie eine Bogensehne, worauf das Gespräch noch hinauslaufen mag. Er will seinen Standpunkt nicht vertreten, ist der Ansicht, dass sie wissen müsste, dass er, der Sklave, nie den Respekt der anderen Hofbewohner hätte, würde er sich als Herr aufspielen. Geschweige denn, dass er sich weitere Freiheiten herausnehmen kann.
„Macht dein Gott dich so stark?“ will sie dann wissen, worauf Zeisolf überrascht rot anläuft. Bisher hat sich noch kein Mitglied des Haushaltes mit ihm über seinen Glauben unterhalten wollen und diese Frage bringt ihn aus dem Konzept. Er überlegt lange, ob er überhaupt darauf eingehen soll, kann dann aber der Verlockung nicht widerstehen. „Mein Gott hat immer ein offenes Ohr für mich. Ich kann mich mit Gebeten an ihn wenden und bisher bin ich noch nicht enttäuscht worden“ erwidert er. „Ich habe gesehen, dass auf diesem Hof viele erst überlegen müssen, welchen ihrer vielen Götter sie anrufen sollen. Ich muss nicht überlegen, ich bete einfach.“
Solveig sieht ihn zum ersten Mal genauer an. Der erste Eindruck, den sie seit dem Markttag vor vier Jahren in sich bewahrt, hält der Prüfung durchaus stand. Noch immer ist Zeisolf unbeeindruckt von einem Schicksal, das manch anderen, vielleicht sogar stärkeren Mann gebrochen hätte.
Statt ihre Söhne lesen und schreiben zu lehren hatte er vor zwei Jahren den Unterricht bei ihr selbst übernommen und sie so gut gelehrt, dass sie ihre Bücher nun selbst führen kann. Trotzdem gibt sie sie ihm noch immer, damit er nachrechnet.
Das schmale Gesicht mit den aufmerksamen Augen, die sie sanft ansehen, ist ihr schon so vertraut, dass sie es nicht mehr missen möchte.
Wie seine Geschichte wohl aussieht? Sie kennt nur die letzten vier Jahre, weiß nicht einmal, wie alt der Sachse ist. Doch so wie er die Geschäfte führt und mit anpackt kann er kein dummer Mensch sein.
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Solveig entschließt sich für einen Handel, der sie selbst überrascht. „Du erzählst mir, wie Du hier her kamst und wie dein Leben bis hier verlief und ich gehe mit dir hinaus und suche mir einen neuen Gefährten“, schlägt sie ihm vor.
„Wir können mit einem anderen Händler mitreisen, das ist sicherer. Den Hof übergebe ich so lange an Snorri und seine Familie. Sie leben gleich im Nachbarfjord, da ist es nicht schwierig, dass sie hier nach dem Rechten sehen. Alrik hat das auch immer so geregelt, wenn wir gemeinsam unterwegs waren.“
In ihrem Kopf ist schon alles fertig, doch der Sachse zögert. „Kannst du mich denn so einfach mitnehmen?“ fragt er. „Wird Snorri nicht versuchen, deinen Hof zu übernehmen? Und außerdem, du hast doch so viele Mägde, ist es nicht einfacher, Alfhild oder Thordis bei dir zu haben? Sie können dich sicher besser beraten.“
Doch sie will davon nichts hören. „Du hast in den letzten Jahren mit mir die Geschäfte hier geführt, also musst du mir helfen, jemanden zu finden, der das auch kann.“
Sie erwähnt nicht, dass derjenige Zeisolf ersetzen würde, will soweit noch nicht denken. Aber der Sachse ist es zufrieden und beginnt zu erzählen.
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„Ich bin der Sohn eines Pachtbauern aus dem Sächsischen. Der Name, den ihr mir gabt, stimmt also sogar.“ Er lächelt stillvergnügt und ansteckend, den Blick in weite Ferne gerichtet.
„Der Name meines Geburtsortes tut nichts zur Sache. Mein Vater und meine fünf älteren Geschwister arbeiteten im Sommer auf dem Hof, um die Pacht zu erwirtschaften, und im Winter schnitzten sie Löffel und Schalen, die mein ältester Bruder dann im Frühjahr mit all den anderen Waren auf dem Markt verkaufen konnte.
Ich war zwar kräftig genug für die Hofarbeit, interessierte mich aber nicht wirklich dafür. Mein Vater lehrte mich lesen, schreiben und rechnen, er war auf einer Klosterschule gewesen und sehr intelligent. Meine Mutter konnte malen und sticken, so fein, dass sie am Altartuch für die Dorfkirche mitarbeiten durfte, obwohl sie keine Nonne war“
Zeisolfs Augen leuchten stolz auf, als er von seinen Eltern erzählt. „Und doch sprichst du von ihnen als seien sie nicht mehr“, sagt Solveig, nachdem es eine Weile ruhig geblieben war. Ein trauriger Schleier überzieht das Gesicht des Sachsen.
„Sie sind auch nicht mehr. Im Winter des Jahres 977 gab es bei uns eine große Hungersnot. Der Sommer war stürmisch und regnerisch gewesen, die Ernte war mehr als kärglich. Meine Mutter kochte Birkenrinde und buk Eichelbrot mit Lehm, damit wir überhaupt etwas im Bauch hatten. Doch dann wurde sie krank. Ihr fielen die Zähne und die Haare aus und nach ein paar Wochen spuckte sie nur noch Blut. Mein Vater hielt sie im Arm als sie starb. Er machte sich schlimme Vorwürfe, weil wir uns keinen Arzt leisten konnten.“
Solveig lässt ihn einen Moment in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Diesen Schmerz kennt sie auch nur zu gut, erinnert sich an ihren eigenen Verlust, der noch immer schmerzt wie eine Narbe, wenn sich das Wetter ändert.
„Ich war gerade achtzehn geworden und hätte eigentlich längst verheiratet werden sollen, aber nun war auch für die Hochzeit kein Geld mehr da. Mein Glück war, dass ich lesen, schreiben und rechnen konnte, denn so kam ich als Laienbruder in ein Kloster und musste Vater nicht länger Sorge fallen. Ich wollte das Gelübde nicht ablegen, aber ich fühlte mich dem christlichen Glauben zugetan und suchte meinen eigenen Weg. Einige Jahre später wurde ich gebeten, mich nach Haithabu zu begeben, wo ein Mönch mich erwarten würde. Er wollte mit meiner Hilfe versuchen, die Bauern und Händler in und um Haithabu zu bekehren. Doch dort kam ich nicht an.“
Wieder verschleiert Erinnerung den Blick des Sachsen. Er beginnt, die Feuerstelle zu umrunden.
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„Ich sollte auf der Elbe bis Hammaburg fahren und von dort aus sei meine weitere Reise mir selbst überlassen, sagten sie mir im Kloster. Doch schon das Fluss-Schiff, das ich in Magdeburg bestieg, schien mir seltsam. Es hatte einen höheren Bord als die Treidelkähne, die ich kannte, und führte Mast und Segel mit sich. Vielleicht hätte ich es nicht besteigen sollen …“ seufzt er und verstummt erneut für eine Weile.
Die Schwedin spürt, dass er Bilder vor Augen hat, die ihn quälen und piesacken wie ein spitzer Stein, der innen in einem Holzschuh steckt. Einige Zeit – und einige Runden um die Feuerstelle später hebt er wieder zu sprechen an.
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„Im Kloster war ich – wie die anderen Mönche auch – sehr behütet worden. Keine Nachricht von Hungersnöten, Überschwemmungen, Krankheiten drang in unsere kleine Welt. Wir gaben uns – ich genau so wie die Mönche, die das Gelübde bereits abgelegt hatten – tagtäglich Gebeten, Studien und Feldarbeit hin. Ich durfte auch hier dabei helfen, die Bücher zu führen und war mir so dessen bewusst, dass es dem Kloster nicht sonderlich gut ging. Der Boden war sandig, die Erträge karg – und ebenso das Essen, aber das war ich nicht anders gewohnt.
Als das Schiff nicht wie geplant in irgendeinem Flusshafen hielt sondern auf die offene See zusteuerte wollte ich erst zum Kapitän gehen, dachte dann aber, es sei alles richtig so. Was wusste ich schon von der Fluss – oder Seeschifffahrt.
Erst als ich zu frieren begann, es war immerhin erst Frühjahr und die Nordroute um Dänemark herum war noch nicht einmal völlig eisfrei, fasste ich mir ein Herz und sprach ihn an. Er jedoch lachte nur und antwortete, dass mir noch früh genug warm werden würde. Er war schon oft im Kloster gewesen, hatte immer Waren abgeholt und ab und zu einen der Laienbrüder mitgenommen. Immer nur einen. Und sie kamen nie zurück.
Ich sprach jeden Tag die Gebete, die mich die Mönche gelehrt hatten und fügte meist noch meine Freude darüber, dass ich nicht seekrank wurde hinzu. Der Kapitän wie auch die restliche Mannschaft belächelten mein Tun, griffen aber selbst nahezu regelmäßig nach ihren Anhängern, meist Thorshämmer oder Äxte.“
Solveig stutzt. Es kommt ihr seltsam vor, dass ein Christ die Amulette der Wikinger kennt und obendrein weiß, dass die Menschen ihre Götter anrufen, wenn sie sie berühren. Doch der Sachse lächelt nur, als würde er ihre Gedanken lesen, holt wieder Atem und spricht weiter.
„Auf einmal wurde es wieder wärmer. Die Sonne beschien unsere Reise und der Wind hielt ein. Das Segel hing schlaff am Mast und die Ruder wurden in die Borde eingehängt. Auch ich musste mitrudern. Nach wenigen Schlägen schmerzten meine Schultern, die zwar die Feldarbeit gewohnt waren, aber nur im Sandboden meiner Heimat. Ich biss die Zähne zusammen und ruderte mit schmerzenden Schultern und immer größeren Blasen an den Händen weiter, bis wieder ein Wind aufkam, der das Segel blähte. Gott weiß wie der Kapitän den Weg durch die Inseln und Untiefen fand!
Zwei Tage später erreichten wir Birka. Die Mannschaft freute sich, nach der langen Reise wieder in ihrem Zuhause angekommen zu sein, was sie mir sogar in meiner Sprache berichten konnten.
Einige Brocken der ihren (Er hält kurz inne, sieht Solveig an, lächelt und spricht weiter) hatte ich auch aufschnappen können und es schien mir rückblickend umso seltsamer, dass ausgerechnet der Kapitän in der Lage war, sich fließend mit dem Abt, den anderen Mönchen und selbst mit mir zu unterhalten.
Manch ein mitleidiger Blick fiel auf mich, doch ich wusste noch immer nicht warum. Als ich jedoch von Bord gehen wollte, hielt mich der Kapitän zurück und band meine Hände mit einem Stück von dem rohen Seil, das sie für das Ruder benutzten. Er befahl mir, mit ihm zu gehen – ich aber blieb an dem Platz stehen, wohin er mich gestellt hatte. Ich solle doch nicht so störrisch sein, die anderen hätten es doch auch begriffen. Ich wollte mit ihm diskutieren, doch er ließ nicht mit sich reden sondern schleifte mich hinter sich her zum Markt. Ich stand schon den dritten Tag in der prallen Sonne, mein Willen, mich zu befreien, war mittlerweile durch Durst und Hunger gebrochen …“
Ein Schatten zieht über Zeisolfs Gesicht als er sich an diese Tage erinnert. Sie waren – wie die Seefahrt selbst – von Durst und Hunger geprägt, von Lächerlichkeit und Qual. Erst als er statt zu den Pferdeäpfeln zum Brotkanten griff und sich damit geschlagen gab, hatte der Sklavenhändler auch nachgegeben, ihn sich säubern lassen und wieder bekleidet.
Sogar das knöcherne, vom langen Tragen glatt polierte Taufkreuz, die einzige Erinnerung an sein Zuhause, hatte er wieder umhängen dürfen. Aber das wird er ihr nicht preisgeben, zu erniedrigend sind diese Gedanken. Die Schwedin fragt nicht nach, sieht ihn nur abwartend und scheinbar mit ganz anderen Augen als vorher an. Ob sie ihn bewundert? Oder vielleicht sogar ein wenig mehr?
Schon seit längerem dreht und wendet er den Gedanken, dass sie sich einen neuen Gefährten suchen muss, in seinem Kopf – und je länger er darüber nachdenkt, desto weniger gefällt ihm die Idee. Doch er wird es nicht ändern können, ist er doch nur ein Sklave und völlig von ihr abhängig. Und er wird sich darein fügen, wie in so vieles vorher schon.
Er kann damit umgehen, auch wenn er das Gefühl bisher nicht kannte das ihn beherrscht, wenn sie in seiner Nähe ist. Solche Leichtigkeit und Freude hat er bisher noch nie empfunden und in ihm macht sich schon seit längerem der Wunsch breit, ihr die stets vorhandene Trauer aus dem Gesicht zu wischen, durch das dunkle, glänzende Haar zu fahren und ihr zu zeigen, dass die Welt noch so viele Wunder bereithält.
Doch spätestens, wenn seine Gedanken ihn so weit entführt haben ruft er sich energisch wieder zur Ordnung. Er weiß, dass es eine solche Beziehung zwischen ihnen nie geben kann.
Nur manchmal, wenn die Dunkelheit der Nacht am tiefsten ist, träumt er von mehr.
„Den Rest der Geschichte kennst du, Herrin. Dein Gefährte kaufte mich dem Kapitän ab und seitdem lebe ich hier auf dem Hof“, endet er seine Geschichte abrupt.
Solveig sieht ins Feuer, das langsam niedergebrannt ist während er erzählte. Vier Jahre schon teilt er das Leben im Fjord mit ihnen, vier Jahre immer im selben Gewand und ohne Freiheit. Ihr erster Impuls ist, ihn freizulassen, doch wohin soll er gehen? Es käme dem Davonjagen von etwas, das gerade dabei ist seine Heimat zu werden, gleich. Und dem Davonjagen aus ihrem Leben ebenso. Erschauernd gesteht sie sich ein, dass sie diesen Verlust nicht auch noch ertragen möchte.
Sie sieht ihn an, weiß wieder nicht so recht, wie sie beginnen soll. Soll sie direkt fragen? Oder lieber einen Vorwand dafür finden, dass er die ganze Nacht über bei ihr bleibt?
Die Kühle des beginnenden Herbstes bahnt sich einen Weg durch Dach und Türen des niedrigen Hauses und Solveig fröstelt. Unwillkürlich streckt der Sachse eine Hand nach ihr aus und streicht ihr über die Schulter, leicht, fast schüchtern. Die Schwedin versucht noch, ihre aufrechte Haltung zu bewahren, doch die Erzählung, so nüchtern sie auch vorgetragen war, hat ihre Narben wieder aufgerissen. Was, wenn die Männer statt auf dem Grund des Meeres zu liegen ebenso in die Sklaverei verkauft wurden?
Zeisolf fragt nicht sondern schließt sie stumm in die Arme, als all die über drei Jahre zurückgehaltenen Tränen endlich zu fließen beginnen. Er hält sie die ganze Nacht hindurch, vorsichtig wie ein rohes Ei, trocknet ihre Tränen und wärmt sie.
Schließlich hat sie sich weit genug ausgeweint, um sich des Trostes und der Wärme bewusst zu sein, die ihr zuteil wird. Ebenso ist sie sich plötzlich bewusst, wer sie da im Arm hält. Sie blickt in das schmale Gesicht mit den blauen Augen, deren Tiefe im schwachen Licht der verlöschenden Glut unergründlich scheint, hebt die Hand und streicht ihm langsam und verwundert über sich selbst durch das sommerhelle Haar. Er tut es ihr gleich, spürt die vorsichtig – zärtliche Stimmung und genießt die Berührung der schweren Flechten, die er schon so lange herbeigesehnt hat.
Die Sonne des neuen Morgens findet nicht mehr Herrin und Sklaven sondern zwei Liebende auf dem Strohlager.
***
Wieder ist ein halbes Jahr ins Land gegangen. Die Schwedin und der Sachse verbringen seit dem schicksalhaften Juliabend viel Zeit miteinander, gehen freundlich, fast liebevoll miteinander um, versuchen aber, ihre Zuneigung geheim zu halten. Erst als die älteste ihrer Mägde, die sie schon vom Elternhof mitbrachte, sich Solveigs annimmt und ihr zu verstehen gibt, dass die Freundschaft zwischen ihr und dem Sachsen längst in aller Munde ist, gibt die Schwedin auch vor sich selbst zu, dass sie mehr als nur Freundschaft für den hochaufgeschossenen Mann empfindet.
Trotzdem muss sie ihren Teil des Handels einhalten, redet sie sich ein. Also schließt sie sich mit Zeisolf einer Händlergruppe an, die von Birka aus nicht nur das Nordmeer sondern sogar die Heimat des Sachsen bereisen wird. Sie möchte sehen, wo er gelebt hat und möchte die Worte seiner Erzählung mit Leben füllen können.
Einige Tage später, der Frühling hat gerade seine ersten Vorboten nach Schweden gesandt, geht die Reise los.
Wohin sie führen wird wissen beide noch nicht.