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Solveig und der Sachse

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16.11.2006
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Solveig und der Sachse

Es ist ein wunderschöner Julitag, ungewöhnlich warm selbst für diese Jahreszeit. Die Sonne steht an einem klaren, blauen Himmel, nicht ein einziges Wölkchen ist zu sehen. Markttag in Birka. Alle haben sich herausgeputzt, Fibeln und Brustschmuck glänzen in der Helligkeit, die kräftigen Farben der Stoffe und Stickereien leuchten mit ihnen um die Wette.

Eine Familie bewegt sich mit dem Strom durch die kleinen Stände, die Frau befühlt hier einen Stoff, schaut sich dort einen geschnitzten Knochenkamm an. Der Mann und die beiden Söhne sehen eher nach Waffen und Messern. „Mutter, sieh nur, diese Klinge!“ ruft der Jüngere und weist auf ein damasziertes Essmesser.

Sein blondes Haar leuchtet, ebenso die tiefblauen Augen. Die Frau dreht sich stolz lächelnd zu ihm um. „Nimm es nur, Thoralf. Du kannst ein neues brauchen“, sagt sie und hat dabei selbst ein belustigtes Glitzern in den grünen Augen. „Solveig! Lass dem Jungen nicht immer alles durchgehen!“ wird sie von dem weiter vorn gehenden Mann scherzhaft zurechtgewiesen. Der ältere Sohn achtet nicht auf die Kabbeleien sondern sieht in einer Ecke des Marktplatzes einen Tumult entstehen. „Der Sklavenhändler“ bricht es aus ihm heraus und er läuft los. „Hallfred!“ Der Mutter Ruf bleibt ungehört. Hallfred ist mittlerweile in einem Alter, in dem ein Junge nicht mehr auf die Mutter hört – glaubt er. Nun läuft der Vater hinter ihm her, Solveig und Thoralf folgen langsamer.

***

An der Ecke angekommen, an der der Sklavenhändler seine menschliche Ware zum Verkauf anpreist sieht Solveig ihren Gefährten schon in Verhandlungen. Ein hoch aufgeschossener Mann scheint Alriks Interesse auf sich gezogen zu haben.

Um seinen Hals hängt ein deutlich sichtbares Taufkreuz, grobe Wolle bedeckt den schlanken Körper. Die kurzen Haare und der schmale Schnitt des angenehmen Gesichtes strahlen Selbstsicherheit aus, ebenso seine gerade Haltung. Die einfache Kleidung trägt er einem Herrschermantel gleich und scheint völlig unbeeindruckt von seinem Schicksal.

Solveig freut sich, als ihr Gefährte und der Händler sich einig werden. Mit einem Handschlag besiegeln sie ihr Geschäft, darauf gibt Alrik dem Händler einen breiten, gedrehten Silberarmreifen als Bezahlung. „Er kann Hallfred und Thoralf lesen und schreiben lehren. Und getauft ist er auch, der Sachse.“

Am Ende des Markttages werden sämtliche Einkäufe auf den Wagen geladen und die Familie macht sich mit ihrem neuen Hausgenossen auf den Weg in den heimischen Fjord.

***

„Müssen die Jungen wirklich schon mit? Hallfred ist fünfzehn, Thoralf vierzehn. Sie sind noch so jung“, versucht Solveig Alrik zu überzeugen. Der aber schüttelt nur den hellen Schopf.

„Jung? Denke daran, dass Du in Thoralfs Alter schon zweimal Mutter warst. Du kommst hier sicher allein zurecht. Und der Sachse ist ja auch noch da. Gib ihm ein Messer wenn ich fort bin, das bindet ihn an den Hof. Die Jungen nehme ich mit auf Handelsfahrt, sie werden sonst nur verzärtelt, sie müssen sich auch beweisen können. Das ist mein letztes Wort.“

Alriks Tonfall lässt kein weiteres Aufbegehren zu. Er stapft durch den Wohnraum des Langhauses, umrundet die Feuerstelle und schultert seine Kiste.

„Wir sind in einem halben Jahr wieder hier. Und ich bringe Dir auch was Schönes aus Nowgorod mit“, versucht der kräftige Schwede seine Gefährtin zu beschwichtigen.

Solveig steht noch lange in der Tür und schaut mit Tränen in den Augen den längst am Horizont verschwundenen Schiffen nach. Nowgorod. So weit will er fahren.

***

Die Schafschur ist im vollen Gang, es ist Frühjahr. Mehr als sieben Monate sind vergangen, seit Alrik mit den Jungen zur Handelsfahrt ins ferne Land der Rus aufbrach.

Auf dem Hof haben alle Bewohner die Hände voll zu tun, sie scheren, kardieren, spinnen, weben, färben, walken oder nähen aus dem fertigen Stoff. Überall ertönen Lieder, nach deren Takt die Arbeit verrichtet wird.

Das warme, weiche Gewebe und die fertigen Gewänder wird Alrik entweder auf die nächste Handelsfahrt mitnehmen oder sie an fahrende Händler verkaufen. Auch die Arbeiter, die Mägde und Knechte auf dem Hof, die Sklaven und die unfreien Bauern sind versorgt. Sie bekommen mindestens jedes zweite Jahr ein Stück ungefärbten Wollstoff, groß genug für Hemd und Hose oder ein Kleid. Färben können sie es selbst, wenn sie wollen.

Jede Familie kann sich behelfen, die kleineren Kinder spinnen, die größeren sammeln Kardendisteln oder stehen am Gewichtswebstuhl, die Erwachsenen übernehmen das Färben, Walken und Nähen. Manchmal finden sich die Mädchen mit einer der älteren Frauen zusammen, die ihnen die Feinheiten der Faserverarbeitung beibringt. Die Handhaltung beim Spinnen, das Benutzen des großen Gewichtswebstuhles, später auch das Weben mit Brettchen oder Kämmen.

***

Wann sie wohl endlich wiederkommen, die drei Schiffe … Solveig ist in Gedanken versunken. Sie spinnt feine Wolle, die sie zu einem Festgewand für Alrik verweben will. Mägde hätte sie genug aber dieses Hemd soll etwas ganz besonderes werden.

Nur der Sachse trägt noch immer das eine Gewand, fällt ihr dabei auf. Das grobe Wollzeug, in dem sie ihn gekauft haben. Diesen Gedanken im Kopf ruft sie eine ihrer Mägde heran. Zwar kann der Sachse auch nähen, er flickt die Löcher und Risse in seinen Hemden selbst, doch sie möchte ihm eine Freude machen und bittet Alfhild, ihm Hemd und Beinlinge zu nähen.

Er macht nicht viele Worte, ist ihr aber schon zu einem wichtigen Hausgenossen geworden, sie schätzt ihn, auch wenn sie noch immer seinen Namen nicht kennt. Sie nennt ihn, wie alle anderen auch, nur den Sachsen. Vielleicht sollte sie …

Sie wird aus ihren Gedanken aufgerüttelt als ein Bote gehetzt auf den Hof läuft. „Solveig? Solveig Ulfgangsdottír?“ ruft er fragend über den gestampften Platz. „Ja, hier bin ich“, antwortet die Hausherrin.

Der Bote kommt auf sie zu. „Es waren nur noch Bruchstücke“, keucht er. „Ich komme von Birka her. Snorri hat mich mitgenommen auf seinem Wagen“, der Mann kommt kaum zu Atem. Solveig bittet ihn ins Haus, heißt ihn Platz nehmen und bietet ihm Brot und Met.


Der Bote isst hungrig, trinkt, und berichtet dann. Alrik, Hallfred und Thoralf waren erfolgreich auf ihrer Handelsfahrt, die Jungen hatten sich als gute Menschenkenner herausgestellt. Auf dem Rückweg lagen die drei Schiffe nur flach im Wasser, so viel ihrer Waren hatten sie verkauft.

„Ein Sturm kam auf, kurz bevor wir durchs Kattegatt gefahren sind.“

Die Auswirkungen dieses Sturmes waren sogar in dem kleinen Fjord noch zu spüren gewesen. Nur gut, dass sie genug Hände zur Hilfe gehabt hatten seufzt Solveig in Gedanken auf. Doch dann wendet sie sich wieder dem Boten zu, ein unangenehmes Kribbeln läuft über ihr Rückgrat.
„Was ist mit dem Sturm gewesen?“ fragt sie ungeduldig.

Der Bote wiegt den Kopf. „Es hat sie bei voller Besegelung getroffen. Die anderen beiden Schiffe waren zu leicht ohne die Ladung. Sie haben mit den Wellen getanzt, so lange sie konnten. Nur waren zu viele Wellen da und zu wenig Gewicht.“
Er ist nun ruhiger, weiß, dass er seine traurige Pflicht fast erfüllt hat.

„Alrik und die Jungen haben bis zuletzt versucht, das Schiff zu halten. Und gestern haben wir dann die Bruchstücke ihrer Schilde und die Wetterfahne gefunden.“ Tränen treten in seine Augen wie auch in die der Frau. „Es tut mir Leid“, sagt der Bote schlicht, sie kann nur stumm nicken.

Es ist das Schicksal so vieler vor ihren drei Männern gewesen, sie weiß nach außen damit umzugehen. Auf dem Grund des Kattegatt liegen zwei der drei Schiffe und ihre Besatzung, mit ihnen das Liebste, das sie auf der Welt hatte. Und Solveig kann ihnen nicht einmal die Feuerbestattung geben, die ihnen zugestanden hätte. Der Bote übergibt ihr, was von Alriks Schiff übrigblieb und verabschiedet sich schnell.
Sie trauert still und lange. Doch das Leben muss weitergehen.

***

Drei Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Solveig hat die ersten silbernen Strähnen im dichten dunklen Haar, sie ist ruhiger geworden. Mit sicherer Hand leitet sie die Geschäfte auf dem Hof, verkauft nur noch an fahrende Händler, stellt immer mehr selbst her, obwohl sie es nicht müsste.

Einsam ist sie häufig, manchmal lässt sie Gefühle wie Verlust und Trauer zu, wenn sie auf die klare oder stürmische See vor ihrer Haustür blickt und noch seltener fließen dann ungehindert die Tränen.

In den klaren Sternennächten des langen schwedischen Winters friert sie oft. Seit Alriks und ihrer Söhne Tod hat sie niemanden mehr an sich heran gelassen.
Niemanden?
Doch, der Sachse ist immer häufiger um sie herum. Er hilft gar bei den Verhandlungen mit den fremden Händlern. Noch immer ist er Sklave, aber er wird stets wichtiger für sie. Und, kaum dass sie es zugeben würde, seit einiger Zeit fühlt sie mehr.

***

Es ist wieder ein schöner Julitag als der Sachse zum ersten Mal von sich aus das Wort an sie zu richten wagt.
„Heute sind es vier Jahre, seit ich zu Dir kam“, sagt er schlicht. Sie kennt seine Zeitrechnung mittlerweile, genauso wie seinen Gesichtsausdruck, wenn er etwas Wichtiges sagen will, sich aber nicht so recht traut.

„Vier Jahre schon …“ antwortet sie gedankenverloren. „Drei Jahre nur …seit …“ Tränen füllen ihren Blick. Noch immer hat sie den Tod des Gefährten nicht ganz verwunden, wenn auch dessen Gesicht in ihrer Erinnerung immer weiter verblasst und durch das des Sachsen ersetzt wird.

Ärgerlich wischt sie sich die salzigen Tropfen vom Gesicht und lächelt den Sachsen an. „Du willst mir sicher etwas sagen“, fordert sie ihn auf. Der sonst so sichere und ruhige Mann beginnt zu stottern, ehe er allen Mut zusammennimmt und ihr ins Gesicht schaut. „Herrin, Du musst Dir einen Gefährten suchen.“

Solveig stutzt, will ihn schon wegen seiner Frechheit strafen. Doch dann besinnt sie sich. „Warum?“ fragt sie nur. Der Sklave nennt tausend gute Gründe, doch er kann sie nicht überzeugen. Sie will nirgendwo hin fahren, will keinen anderen Mann. Sie ist sich selbst genug, redet sie sich ein. Und Alrik ist noch nicht ganz aus ihren Gedanken verschwunden. Doch die Lüge hält nicht lange.

***

Einige Abende später bittet Solveig zum ersten Mal den Sachsen, auch nach dem Essen noch bei ihr zu bleiben.

„Du hast mir nie deinen Namen genannt …“ beginnt sie vorsichtig, das Herz schlägt ihr vogelgleich in der Brust. Sie ist verwundert über sich selbst, erkennt diese Regung nicht wieder. Doch die Ruhe und Ausgeglichenheit ihres Gegenübers macht sie auch sicherer.

„Zeisolf“ antwortet der schlicht und sieht sie nur weiter abwartend an. Solveig druckst, weiß nicht recht was sie sagen soll. Doch dann fasst sie sich ein Herz.

„Du hast gesagt, ich solle mir einen neuen Gefährten suchen“ setzt sie an. „Die Gründe, die du nanntest, waren alle durchaus richtig. Aber warum meinst du nun wirklich, dass ich einen neuen Gefährten brauche? Ich habe doch dich. Du hilfst auf dem Hof und zeigst dich schon seit Jahren all den kleinen und größeren Herausforderungen gewachsen, die dein jetziges Leben mit sich bringt.“

Sogar unsere Sprache sprichst du mittlerweile fehlerfrei, denkt sie noch, spricht es aber nicht aus. Sie ist jetzt ruhig, weiß sich in der einfacheren Position und kann ihre Gefühle sogar vor sich selbst verbergen.

Der Sachse antwortet nicht sondern wartet, gespannt wie eine Bogensehne, worauf das Gespräch noch hinauslaufen mag. Er will seinen Standpunkt nicht vertreten, ist der Ansicht, dass sie wissen müsste, dass er, der Sklave, nie den Respekt der anderen Hofbewohner hätte, würde er sich als Herr aufspielen. Geschweige denn, dass er sich weitere Freiheiten herausnehmen kann.

„Macht dein Gott dich so stark?“ will sie dann wissen, worauf Zeisolf überrascht rot anläuft. Bisher hat sich noch kein Mitglied des Haushaltes mit ihm über seinen Glauben unterhalten wollen und diese Frage bringt ihn aus dem Konzept. Er überlegt lange, ob er überhaupt darauf eingehen soll, kann dann aber der Verlockung nicht widerstehen. „Mein Gott hat immer ein offenes Ohr für mich. Ich kann mich mit Gebeten an ihn wenden und bisher bin ich noch nicht enttäuscht worden“ erwidert er. „Ich habe gesehen, dass auf diesem Hof viele erst überlegen müssen, welchen ihrer vielen Götter sie anrufen sollen. Ich muss nicht überlegen, ich bete einfach.“

Solveig sieht ihn zum ersten Mal genauer an. Der erste Eindruck, den sie seit dem Markttag vor vier Jahren in sich bewahrt, hält der Prüfung durchaus stand. Noch immer ist Zeisolf unbeeindruckt von einem Schicksal, das manch anderen, vielleicht sogar stärkeren Mann gebrochen hätte.

Statt ihre Söhne lesen und schreiben zu lehren hatte er vor zwei Jahren den Unterricht bei ihr selbst übernommen und sie so gut gelehrt, dass sie ihre Bücher nun selbst führen kann. Trotzdem gibt sie sie ihm noch immer, damit er nachrechnet.

Das schmale Gesicht mit den aufmerksamen Augen, die sie sanft ansehen, ist ihr schon so vertraut, dass sie es nicht mehr missen möchte.
Wie seine Geschichte wohl aussieht? Sie kennt nur die letzten vier Jahre, weiß nicht einmal, wie alt der Sachse ist. Doch so wie er die Geschäfte führt und mit anpackt kann er kein dummer Mensch sein.

***

Solveig entschließt sich für einen Handel, der sie selbst überrascht. „Du erzählst mir, wie Du hier her kamst und wie dein Leben bis hier verlief und ich gehe mit dir hinaus und suche mir einen neuen Gefährten“, schlägt sie ihm vor.

„Wir können mit einem anderen Händler mitreisen, das ist sicherer. Den Hof übergebe ich so lange an Snorri und seine Familie. Sie leben gleich im Nachbarfjord, da ist es nicht schwierig, dass sie hier nach dem Rechten sehen. Alrik hat das auch immer so geregelt, wenn wir gemeinsam unterwegs waren.“

In ihrem Kopf ist schon alles fertig, doch der Sachse zögert. „Kannst du mich denn so einfach mitnehmen?“ fragt er. „Wird Snorri nicht versuchen, deinen Hof zu übernehmen? Und außerdem, du hast doch so viele Mägde, ist es nicht einfacher, Alfhild oder Thordis bei dir zu haben? Sie können dich sicher besser beraten.“

Doch sie will davon nichts hören. „Du hast in den letzten Jahren mit mir die Geschäfte hier geführt, also musst du mir helfen, jemanden zu finden, der das auch kann.“

Sie erwähnt nicht, dass derjenige Zeisolf ersetzen würde, will soweit noch nicht denken. Aber der Sachse ist es zufrieden und beginnt zu erzählen.

***

„Ich bin der Sohn eines Pachtbauern aus dem Sächsischen. Der Name, den ihr mir gabt, stimmt also sogar.“ Er lächelt stillvergnügt und ansteckend, den Blick in weite Ferne gerichtet.

„Der Name meines Geburtsortes tut nichts zur Sache. Mein Vater und meine fünf älteren Geschwister arbeiteten im Sommer auf dem Hof, um die Pacht zu erwirtschaften, und im Winter schnitzten sie Löffel und Schalen, die mein ältester Bruder dann im Frühjahr mit all den anderen Waren auf dem Markt verkaufen konnte.
Ich war zwar kräftig genug für die Hofarbeit, interessierte mich aber nicht wirklich dafür. Mein Vater lehrte mich lesen, schreiben und rechnen, er war auf einer Klosterschule gewesen und sehr intelligent. Meine Mutter konnte malen und sticken, so fein, dass sie am Altartuch für die Dorfkirche mitarbeiten durfte, obwohl sie keine Nonne war“

Zeisolfs Augen leuchten stolz auf, als er von seinen Eltern erzählt. „Und doch sprichst du von ihnen als seien sie nicht mehr“, sagt Solveig, nachdem es eine Weile ruhig geblieben war. Ein trauriger Schleier überzieht das Gesicht des Sachsen.

„Sie sind auch nicht mehr. Im Winter des Jahres 977 gab es bei uns eine große Hungersnot. Der Sommer war stürmisch und regnerisch gewesen, die Ernte war mehr als kärglich. Meine Mutter kochte Birkenrinde und buk Eichelbrot mit Lehm, damit wir überhaupt etwas im Bauch hatten. Doch dann wurde sie krank. Ihr fielen die Zähne und die Haare aus und nach ein paar Wochen spuckte sie nur noch Blut. Mein Vater hielt sie im Arm als sie starb. Er machte sich schlimme Vorwürfe, weil wir uns keinen Arzt leisten konnten.“

Solveig lässt ihn einen Moment in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Diesen Schmerz kennt sie auch nur zu gut, erinnert sich an ihren eigenen Verlust, der noch immer schmerzt wie eine Narbe, wenn sich das Wetter ändert.

„Ich war gerade achtzehn geworden und hätte eigentlich längst verheiratet werden sollen, aber nun war auch für die Hochzeit kein Geld mehr da. Mein Glück war, dass ich lesen, schreiben und rechnen konnte, denn so kam ich als Laienbruder in ein Kloster und musste Vater nicht länger Sorge fallen. Ich wollte das Gelübde nicht ablegen, aber ich fühlte mich dem christlichen Glauben zugetan und suchte meinen eigenen Weg. Einige Jahre später wurde ich gebeten, mich nach Haithabu zu begeben, wo ein Mönch mich erwarten würde. Er wollte mit meiner Hilfe versuchen, die Bauern und Händler in und um Haithabu zu bekehren. Doch dort kam ich nicht an.“

Wieder verschleiert Erinnerung den Blick des Sachsen. Er beginnt, die Feuerstelle zu umrunden.

***

„Ich sollte auf der Elbe bis Hammaburg fahren und von dort aus sei meine weitere Reise mir selbst überlassen, sagten sie mir im Kloster. Doch schon das Fluss-Schiff, das ich in Magdeburg bestieg, schien mir seltsam. Es hatte einen höheren Bord als die Treidelkähne, die ich kannte, und führte Mast und Segel mit sich. Vielleicht hätte ich es nicht besteigen sollen …“ seufzt er und verstummt erneut für eine Weile.

Die Schwedin spürt, dass er Bilder vor Augen hat, die ihn quälen und piesacken wie ein spitzer Stein, der innen in einem Holzschuh steckt. Einige Zeit – und einige Runden um die Feuerstelle später hebt er wieder zu sprechen an.

***

„Im Kloster war ich – wie die anderen Mönche auch – sehr behütet worden. Keine Nachricht von Hungersnöten, Überschwemmungen, Krankheiten drang in unsere kleine Welt. Wir gaben uns – ich genau so wie die Mönche, die das Gelübde bereits abgelegt hatten – tagtäglich Gebeten, Studien und Feldarbeit hin. Ich durfte auch hier dabei helfen, die Bücher zu führen und war mir so dessen bewusst, dass es dem Kloster nicht sonderlich gut ging. Der Boden war sandig, die Erträge karg – und ebenso das Essen, aber das war ich nicht anders gewohnt.
Als das Schiff nicht wie geplant in irgendeinem Flusshafen hielt sondern auf die offene See zusteuerte wollte ich erst zum Kapitän gehen, dachte dann aber, es sei alles richtig so. Was wusste ich schon von der Fluss – oder Seeschifffahrt.
Erst als ich zu frieren begann, es war immerhin erst Frühjahr und die Nordroute um Dänemark herum war noch nicht einmal völlig eisfrei, fasste ich mir ein Herz und sprach ihn an. Er jedoch lachte nur und antwortete, dass mir noch früh genug warm werden würde. Er war schon oft im Kloster gewesen, hatte immer Waren abgeholt und ab und zu einen der Laienbrüder mitgenommen. Immer nur einen. Und sie kamen nie zurück.

Ich sprach jeden Tag die Gebete, die mich die Mönche gelehrt hatten und fügte meist noch meine Freude darüber, dass ich nicht seekrank wurde hinzu. Der Kapitän wie auch die restliche Mannschaft belächelten mein Tun, griffen aber selbst nahezu regelmäßig nach ihren Anhängern, meist Thorshämmer oder Äxte.“

Solveig stutzt. Es kommt ihr seltsam vor, dass ein Christ die Amulette der Wikinger kennt und obendrein weiß, dass die Menschen ihre Götter anrufen, wenn sie sie berühren. Doch der Sachse lächelt nur, als würde er ihre Gedanken lesen, holt wieder Atem und spricht weiter.

„Auf einmal wurde es wieder wärmer. Die Sonne beschien unsere Reise und der Wind hielt ein. Das Segel hing schlaff am Mast und die Ruder wurden in die Borde eingehängt. Auch ich musste mitrudern. Nach wenigen Schlägen schmerzten meine Schultern, die zwar die Feldarbeit gewohnt waren, aber nur im Sandboden meiner Heimat. Ich biss die Zähne zusammen und ruderte mit schmerzenden Schultern und immer größeren Blasen an den Händen weiter, bis wieder ein Wind aufkam, der das Segel blähte. Gott weiß wie der Kapitän den Weg durch die Inseln und Untiefen fand!

Zwei Tage später erreichten wir Birka. Die Mannschaft freute sich, nach der langen Reise wieder in ihrem Zuhause angekommen zu sein, was sie mir sogar in meiner Sprache berichten konnten.
Einige Brocken der ihren (Er hält kurz inne, sieht Solveig an, lächelt und spricht weiter) hatte ich auch aufschnappen können und es schien mir rückblickend umso seltsamer, dass ausgerechnet der Kapitän in der Lage war, sich fließend mit dem Abt, den anderen Mönchen und selbst mit mir zu unterhalten.

Manch ein mitleidiger Blick fiel auf mich, doch ich wusste noch immer nicht warum. Als ich jedoch von Bord gehen wollte, hielt mich der Kapitän zurück und band meine Hände mit einem Stück von dem rohen Seil, das sie für das Ruder benutzten. Er befahl mir, mit ihm zu gehen – ich aber blieb an dem Platz stehen, wohin er mich gestellt hatte. Ich solle doch nicht so störrisch sein, die anderen hätten es doch auch begriffen. Ich wollte mit ihm diskutieren, doch er ließ nicht mit sich reden sondern schleifte mich hinter sich her zum Markt. Ich stand schon den dritten Tag in der prallen Sonne, mein Willen, mich zu befreien, war mittlerweile durch Durst und Hunger gebrochen …“

Ein Schatten zieht über Zeisolfs Gesicht als er sich an diese Tage erinnert. Sie waren – wie die Seefahrt selbst – von Durst und Hunger geprägt, von Lächerlichkeit und Qual. Erst als er statt zu den Pferdeäpfeln zum Brotkanten griff und sich damit geschlagen gab, hatte der Sklavenhändler auch nachgegeben, ihn sich säubern lassen und wieder bekleidet.

Sogar das knöcherne, vom langen Tragen glatt polierte Taufkreuz, die einzige Erinnerung an sein Zuhause, hatte er wieder umhängen dürfen. Aber das wird er ihr nicht preisgeben, zu erniedrigend sind diese Gedanken. Die Schwedin fragt nicht nach, sieht ihn nur abwartend und scheinbar mit ganz anderen Augen als vorher an. Ob sie ihn bewundert? Oder vielleicht sogar ein wenig mehr?

Schon seit längerem dreht und wendet er den Gedanken, dass sie sich einen neuen Gefährten suchen muss, in seinem Kopf – und je länger er darüber nachdenkt, desto weniger gefällt ihm die Idee. Doch er wird es nicht ändern können, ist er doch nur ein Sklave und völlig von ihr abhängig. Und er wird sich darein fügen, wie in so vieles vorher schon.

Er kann damit umgehen, auch wenn er das Gefühl bisher nicht kannte das ihn beherrscht, wenn sie in seiner Nähe ist. Solche Leichtigkeit und Freude hat er bisher noch nie empfunden und in ihm macht sich schon seit längerem der Wunsch breit, ihr die stets vorhandene Trauer aus dem Gesicht zu wischen, durch das dunkle, glänzende Haar zu fahren und ihr zu zeigen, dass die Welt noch so viele Wunder bereithält.

Doch spätestens, wenn seine Gedanken ihn so weit entführt haben ruft er sich energisch wieder zur Ordnung. Er weiß, dass es eine solche Beziehung zwischen ihnen nie geben kann.
Nur manchmal, wenn die Dunkelheit der Nacht am tiefsten ist, träumt er von mehr.

„Den Rest der Geschichte kennst du, Herrin. Dein Gefährte kaufte mich dem Kapitän ab und seitdem lebe ich hier auf dem Hof“, endet er seine Geschichte abrupt.

Solveig sieht ins Feuer, das langsam niedergebrannt ist während er erzählte. Vier Jahre schon teilt er das Leben im Fjord mit ihnen, vier Jahre immer im selben Gewand und ohne Freiheit. Ihr erster Impuls ist, ihn freizulassen, doch wohin soll er gehen? Es käme dem Davonjagen von etwas, das gerade dabei ist seine Heimat zu werden, gleich. Und dem Davonjagen aus ihrem Leben ebenso. Erschauernd gesteht sie sich ein, dass sie diesen Verlust nicht auch noch ertragen möchte.

Sie sieht ihn an, weiß wieder nicht so recht, wie sie beginnen soll. Soll sie direkt fragen? Oder lieber einen Vorwand dafür finden, dass er die ganze Nacht über bei ihr bleibt?
Die Kühle des beginnenden Herbstes bahnt sich einen Weg durch Dach und Türen des niedrigen Hauses und Solveig fröstelt. Unwillkürlich streckt der Sachse eine Hand nach ihr aus und streicht ihr über die Schulter, leicht, fast schüchtern. Die Schwedin versucht noch, ihre aufrechte Haltung zu bewahren, doch die Erzählung, so nüchtern sie auch vorgetragen war, hat ihre Narben wieder aufgerissen. Was, wenn die Männer statt auf dem Grund des Meeres zu liegen ebenso in die Sklaverei verkauft wurden?

Zeisolf fragt nicht sondern schließt sie stumm in die Arme, als all die über drei Jahre zurückgehaltenen Tränen endlich zu fließen beginnen. Er hält sie die ganze Nacht hindurch, vorsichtig wie ein rohes Ei, trocknet ihre Tränen und wärmt sie.

Schließlich hat sie sich weit genug ausgeweint, um sich des Trostes und der Wärme bewusst zu sein, die ihr zuteil wird. Ebenso ist sie sich plötzlich bewusst, wer sie da im Arm hält. Sie blickt in das schmale Gesicht mit den blauen Augen, deren Tiefe im schwachen Licht der verlöschenden Glut unergründlich scheint, hebt die Hand und streicht ihm langsam und verwundert über sich selbst durch das sommerhelle Haar. Er tut es ihr gleich, spürt die vorsichtig – zärtliche Stimmung und genießt die Berührung der schweren Flechten, die er schon so lange herbeigesehnt hat.
Die Sonne des neuen Morgens findet nicht mehr Herrin und Sklaven sondern zwei Liebende auf dem Strohlager.

***

Wieder ist ein halbes Jahr ins Land gegangen. Die Schwedin und der Sachse verbringen seit dem schicksalhaften Juliabend viel Zeit miteinander, gehen freundlich, fast liebevoll miteinander um, versuchen aber, ihre Zuneigung geheim zu halten. Erst als die älteste ihrer Mägde, die sie schon vom Elternhof mitbrachte, sich Solveigs annimmt und ihr zu verstehen gibt, dass die Freundschaft zwischen ihr und dem Sachsen längst in aller Munde ist, gibt die Schwedin auch vor sich selbst zu, dass sie mehr als nur Freundschaft für den hochaufgeschossenen Mann empfindet.

Trotzdem muss sie ihren Teil des Handels einhalten, redet sie sich ein. Also schließt sie sich mit Zeisolf einer Händlergruppe an, die von Birka aus nicht nur das Nordmeer sondern sogar die Heimat des Sachsen bereisen wird. Sie möchte sehen, wo er gelebt hat und möchte die Worte seiner Erzählung mit Leben füllen können.

Einige Tage später, der Frühling hat gerade seine ersten Vorboten nach Schweden gesandt, geht die Reise los.

Wohin sie führen wird wissen beide noch nicht.

 

Hallo Frau Wikinger, schön mal wieder was von dir zu lesen ;)

Eine Familie bewegt sich mit dem Strom durch die kleinen Stände,

auch wenn natürlich klar ist was du meinst, finde ich "durch" die Stände etwas unglücklich formuliert.

Sein blondes Haar leuchtet, ebenso die tiefblauen Augen.

Irgendwie "leuchtet" mir im ersten Abschnitt alles zu sehr. Mal davon abgesehen das dies hier zimelich Klischeeüberladen ist.

Die Jungen nehme ich mit auf Handelsfahrt, sie werden sonst nur verzärtelt,

Echt jetzt? Gibts das Wort?

Solveig druckst, weiß nicht recht was sie sagen soll. Doch dann fasst sie sich ein Herz.

Sehr subjektiv: Ich mag das Wort "druckst" einfach nicht, würde daher empfehlen etwas, na ja, poetischeres zu wählen oder zu umschreiben.

Statt ihre Söhne lesen und schreiben zu lehren hatte er vor zwei Jahren den Unterricht bei ihr selbst übernommen und sie so gut gelehrt, dass sie ihre Bücher nun selbst führen kann.

Hm, Buchführung? Wann spielt denn das ganze so. Auf jeden Fall ist Schweden noch nicht christianisiert, da dies aber bis zum 13. Jh. nicht so ganz der Fall war, schränkt es nicht sehr ein. Soweit ich weis gab es im Frühmittelalter kaum wirtschaftliche Buchführung... nicht mal an Königshöfen. Aber ich lass mich gern eines Besseren belehren :)


„Sie sind auch nicht mehr. Im Winter des Jahres 977 gab es bei uns eine große Hungersnot.

Ah schön, eine konkrete Datierung! Aber übernimm doch vielleicht in Zukunft die Angewohnheit, den Zeitrahmen im Titel anzugeben (da spart man sich die Grübelei gleich im vorhinein). - das mit der Buchführung erscheint mir jetzt aber doch recht unrealistisch.

Mein Glück war, dass ich lesen, schreiben und rechnen konnte, denn so kam ich als Laienbruder in ein Kloster und musste Vater nicht länger Sorge fallen.

Solveig stutzt. Es kommt ihr seltsam vor, dass ein Christ die Amulette der Wikinger kennt und obendrein weiß, dass die Menschen ihre Götter anrufen, wenn sie sie berühren.

So verwunderlich finde ich das 977 nun wirklich nicht und ausserdem ist er ausgezogen um zu missionieren, da sollte er vielleicht schonmal was von "heidnischen" Glaubenvorstellungen gehört haben.

Das Segel hing schlaff am Mast und die Ruder wurden in die Borde eingehängt. Auch ich musste mitrudern. Nach wenigen Schlägen schmerzten meine Schultern, die zwar die Feldarbeit gewohnt waren, aber nur im Sandboden meiner Heimat. Ich biss die Zähne zusammen und ruderte mit schmerzenden Schultern und immer größeren Blasen an den Händen weiter, bis wieder ein Wind aufkam, der das Segel blähte

erinnert mich stark an "Die Männer vom Meer" die Stelle ;)

Tja, man merkt deutlich deine Erfahrungen im wikingeresken Lagerleben. Du verwendest recht viel Zeit auf Details kleiner alltäglicher Arbeiten sowie Kleidungen etc. Eigentlich sehr schön, da atmosphärisch, allerdings find ich es teilweise nicht sehr gut in die Geschichte eingebettet. Manchmal dacht ich mir: Ja hübsch, aber warum erzählst du das jetzt grad so breit?
Ansonsten ist der Inhalt, na ja, unaufgeregt würde ich es mal nennen. Es tröpfelt so dahin ohne das wirklich was passiert. Ein bisschen schade finde ich auch, das vieles sehr klassisch für das Genre ist, also das mit der Sklaverei und dem, mittlerweile stark ausgekosteten, Konflikt Christentum vs. Germanischer Politheismus. Stellenweise hatte ich halt den Eindruck, die Story war dir nicht so wichtig, wie die liebevolle Beschreibung alltäglicher Arbeiten der Zeit.
Ich kann nicht mal behaupten, das mich das stören würde, da ich ja ähnlich begeistert von der Zeit bin und mich selbst auch gern in Deatails ergehe. Aber rein literarisch muss ich es doch ankreiden, da halt die Geschichte als ganzes so nicht wirklich einheitlich wirkt und die Charaktere ein bisschen auf der Strecke bleiben.

schöne Grüße, Skalde.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Skalde,
ja, so langsam will es wieder. Du kennst das sicher auch, in der Saison hat mensch ungefähr tausend andere Dinge im Kopf.

auch wenn natürlich klar ist was du meinst, finde ich "durch" die Stände etwas unglücklich formuliert.

Hast Recht. Vielleicht ist "zwischen den Ständen hindurch" die bessere Variante.


Irgendwie "leuchtet" mir im ersten Abschnitt alles zu sehr. Mal davon abgesehen das dies hier zimelich Klischeeüberladen ist.

Jepp, es leuchtet ;)
Ist halt doch ein bisschen von einer romantischen Ader drinnen ;)

Echt jetzt? Gibts das Wort?

Jepp, steht auch im Duden. Ist allerdings ziemlich veraltet.

Hm, Buchführung? Wann spielt denn das ganze so. Auf jeden Fall ist Schweden noch nicht christianisiert, da dies aber bis zum 13. Jh. nicht so ganz der Fall war, schränkt es nicht sehr ein. Soweit ich weis gab es im Frühmittelalter kaum wirtschaftliche Buchführung... nicht mal an Königshöfen. Aber ich lass mich gern eines Besseren belehren :)

Nicht Buchführung im Sinne moderner Soll - an - Haben - Buchführung sondern im Sinne von Lohn - und Ausgabenlisten. Die sind durchaus auch (neben z.B. auch dem Ägypten der Pharaonenzeit) in Skandinavien gefunden und auf das Frühmittelalter um 1000 datiert worden, gerade für Birka gibt es da einige Sachen.

Ah schön, eine konkrete Datierung! Aber übernimm doch vielleicht in Zukunft die Angewohnheit, den Zeitrahmen im Titel anzugeben (da spart man sich die Grübelei gleich im vorhinein). - das mit der Buchführung erscheint mir jetzt aber doch recht unrealistisch.


*rotwerd* Im Titel hatte ich's vergessen und versucht, nachträglich zu ändern - klappt nicht.

Zur Buchführung - siehe oben.

So verwunderlich finde ich das 977 nun wirklich nicht und ausserdem ist er ausgezogen um zu missionieren, da sollte er vielleicht schonmal was von "heidnischen" Glaubenvorstellungen gehört haben.

Bedenke bitte, dass die Wikinger den Christengott nur als einen von vielen Göttern sahen - sie sich aber durchaus dessen bewusst waren, dass Christen sehr rigoros sein konnten. Das waren sicher nicht alle, aber selbst ein Missionar muss nicht zwingend darüber Bescheid gewusst haben - mal ganz abgesehen davon, dass wir hier die subjektive Empfindung der Prot haben, die sich halt drüber wundert.


erinnert mich stark an "Die Männer vom Meer" die Stelle ;)

Okee - kenn ich nicht.

Tja, man merkt deutlich deine Erfahrungen im wikingeresken Lagerleben. Du verwendest recht viel Zeit auf Details kleiner alltäglicher Arbeiten sowie Kleidungen etc. Eigentlich sehr schön, da atmosphärisch, allerdings find ich es teilweise nicht sehr gut in die Geschichte eingebettet. Manchmal dacht ich mir: Ja hübsch, aber warum erzählst du das jetzt grad so breit?

Vielleicht ist das so'n bisschen mein Problem. Ich habe hier versucht, quasi die Vorgeschichte zweier Markt"charaktere" aufzuschreiben, die eventuell auch als "Zooschildchen" an unserem Lager ausgehängt wird, dann noch versehen mit diversen Erklärungen.

Ansonsten ist der Inhalt, na ja, unaufgeregt würde ich es mal nennen. Es tröpfelt so dahin ohne das wirklich was passiert. Ein bisschen schade finde ich auch, das vieles sehr klassisch für das Genre ist, also das mit der Sklaverei und dem, mittlerweile stark ausgekosteten, Konflikt Christentum vs. Germanischer Politheismus. Stellenweise hatte ich halt den Eindruck, die Story war dir nicht so wichtig, wie die liebevolle Beschreibung alltäglicher Arbeiten der Zeit.

Danke für das "liebevoll" ;)
Was die Sklaverei und den m.E. nur am Rande gestreiften Glaubenskonflikt (ich wollte hier eigentlich vielmehr ausdrücken, dass es sich gar nicht wirklich um einen Konflikt handelte - zumindest nicht von der Seite der Skandinavier aus) angeht, klar sind diese Themen stark ausgekostet, sie gehören halt in diese Zeit.

Die Beschreibung der Arbeiten und der Anriss der persönlichen Einstellungen ist mir in dem Fall recht wichtig. Ich hänge nachher mal die Geschichte mitsamt den begleitenden Erklärungen rein, dann wird vielleicht klarer, warum ich was wie beschrieben habe.

So far for now

Liebe "Wikingergrüße"
Tamlin

 

So, und hier die Geschichte mitsamt Erklärungen:

Solveig und der Sachse

Birka. Eine wunderschöne Stadt in Südschweden. Wir schreiben das Jahr 1002 A.D. – aber nur dort, wo an Christus geglaubt wird. Hier befinden wir uns unter Menschen, die ihr Heil in sich selbst und den verschiedenen größeren und kleineren Göttern suchen – und meist auch finden. Menschen, die sich nicht darauf verlassen wollen, dass ihnen irgendwie geholfen wird. Sie packen an, was an Arbeit zu tun ist, und nehmen sich lieber durch Handel als durch Raub in guter Tradition das, was sie nicht selbst herstellen oder anbauen können.
In dieser schönen Stadt gibt es keine Armen, nur wohlhabende und weniger wohlhabende Händler, Handwerker und Landbesitzer. Auf dem Marktplatz wimmelt es nur so von bunten Farben und edlen Metallen, Glasperlen und Stoffen, bearbeiteten Bernsteinen und Schnitzereien.
Hier leben Menschen, die später als „Wikinger“ bekannt werden sollen, dieser Name, der Furcht auslöst, der mit „Barbarei“ gekoppelt scheint und große Komponisten späterer Jahrhunderte sogar dazu herausfordert, die Menschen, die hinter diesem Namen stehen, als tierähnliche, mit Hörnerhelmen und Fellen bewehrte Wilde darzustellen.
Sind diese Menschen wirklich so Furcht einflößend? So barbarisch? Streiflichter auf die Geschichte von Solveig und dem Sachsen lassen die Menschen so für sich selbst handeln und sprechen, wie sie es eventuell vor über tausend Jahren getan haben.
Natürlich kann kein Kind der Neuzeit behaupten zu wissen, wie die Personen früherer Jahrhunderte gelebt, gearbeitet oder gesprochen haben. Alles, was wir haben, ist viel zu wenig Textmaterial, Abbildungen auf Pergamenten, Steinen oder Schmuck und Grabfunde aus dieser wie aus anderen Gegenden. Viele Archäologen haben sich mit der Zeit der Wikinger beschäftigt, haben meist jeder seine eigene Ansicht, wie verschiedene Funde und in Texten beschriebene Begebenheiten zu sehen und zu interpretieren sind. Vielleicht hat es eine solche Begebenheit gegeben, wie sie gleich geschildert wird. Vermutlich aber ist das nur die moderne Interpretation eines oder mehrerer Leben, die vor langer Zeit gelebt wurden.
Aber wenden wir uns nun der Handlung zu.

Es ist ein wunderschöner Julitag, ungewöhnlich warm selbst für diese Jahreszeit. Die Sonne steht an einem klaren, blauen Himmel, nicht ein einziges Wölkchen ist zu sehen. Markttag in Birka. Alle haben sich herausgeputzt, Fibeln und Brustschmuck glänzen in der Helligkeit, die kräftigen Farben der Stoffe und Stickereien leuchten mit ihnen um die Wette.

Eine Familie bewegt sich mit dem Strom zwischen den kleinen Ständen hindurch, die Frau befühlt hier einen Stoff, schaut sich dort einen geschnitzten Knochenkamm an. Der Mann und die beiden Söhne sehen eher nach Waffen und Messern. „Mutter, sieh nur, diese Klinge!“ ruft der Jüngere und weist auf ein damasziertes Essmesser. Sein blondes Haar leuchtet, ebenso die tiefblauen Augen. Die Frau dreht sich stolz lächelnd zu ihm um. „Nimm es nur, Thoralf. Du kannst ein neues brauchen“, sagt sie und hat dabei selbst ein belustigtes Glitzern in den grünen Augen. „Solveig! Lass dem Jungen nicht immer alles durchgehen!“ wird sie von dem weiter vorn gehenden Mann scherzhaft zurechtgewiesen. Der ältere Sohn achtet nicht auf die Kabbeleien sondern sieht in einer Ecke des Marktplatzes einen Tumult entstehen. „Der Sklavenhändler“ bricht es aus ihm heraus und er läuft los. „Hallfred!“ Der Mutter Ruf bleibt ungehört. Hallfred ist mittlerweile in einem Alter, in dem ein Junge nicht mehr auf die Mutter hört – glaubt er. Nun läuft der Vater hinter ihm her, Solveig und Thoralf folgen langsamer.


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Sklavenhandel war in der Wikingerzeit durchaus üblich und den meisten Sklaven oder Leibeigenen ging es besser als so manchem Freigeborenen, die nach schlechten Ernten manchmal gezwungen waren, sich selbst und ihre Familien in die Sklaverei zu verkaufen, um ihre Schulden bezahlen zu können. Ihre Herren hatten die Notwendigkeit, die Hausgenossen mit Nahrung und Kleidung zu versorgen, als Selbstverständlichkeit anerkannt.
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An der Ecke angekommen, an der der Sklavenhändler seine menschliche Ware zum Verkauf anpreist sieht Solveig ihren Gefährten schon in Verhandlungen. Ein hoch aufgeschossener Mann scheint Alriks Interesse auf sich gezogen zu haben. Ein Taufkreuz hängt um seinen Hals, grobe Wolle bedeckt den schlanken Körper. Die kurzen Haare und der schmale Schnitt des angenehmen Gesichtes strahlen Selbstsicherheit aus, ebenso seine gerade Haltung. Die einfache Kleidung trägt er einem Herrschermantel gleich und scheint völlig unbeeindruckt von seinem Schicksal. Solveig freut sich, als ihr Gefährte und der Händler sich einig werden. Mit einem Handschlag besiegeln sie ihr Geschäft, darauf gibt Alrik dem Händler einen breiten, gedrehten Silberarmreifen als Bezahlung. „Er kann Hallfred und Thoralf lesen und schreiben lehren. Und getauft ist er auch, der Sachse.“
Am Ende des Markttages werden sämtliche Einkäufe auf den Wagen geladen und die Familie macht sich mit ihrem neuen Hausgenossen auf den Weg in den heimischen Fjord.

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Der Glaube ihrer Hausgenossen war den Wikingern weitestgehend gleich. Den Bekehrungsfanatismus, den späterhin die Christen an den Tag legen sollten, kannten sie nicht, für sie war der Glaube an den Christengott nur einer unter vielen Richtungen und dem Glauben an Thor, Odin, Freyr und den weiteren nordischen Göttern gleichgestellt. Die Ökumene wurde hier wirklich gelebt.
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„Müssen die Jungen wirklich schon mit? Hallfred ist fünfzehn, Thoralf vierzehn. Sie sind noch so jung“, versucht Solveig Alrik zu überzeugen. Der aber schüttelt nur den hellen Schopf. „Jung? Denke daran, dass Du in Thoralfs Alter schon zweimal Mutter warst. Du kommst hier sicher allein zurecht. Und der Sachse ist ja auch noch da. Gib ihm ein Messer wenn ich fort bin, das bindet ihn an den Hof. Die Jungen nehme ich mit auf Handelsfahrt, sie werden sonst nur verzärtelt, sie müssen sich auch beweisen können. Das ist mein letztes Wort.“ Alriks Tonfall lässt kein weiteres Aufbegehren zu. Er stapft durch den Wohnraum des Langhauses, umrundet die Feuerstelle und schultert seine Kiste. „Wir sind in einem halben Jahr wieder hier. Und ich bringe Dir auch was Schönes aus Nowgorod mit“, versucht der kräftige Schwede seine Gefährtin zu beschwichtigen.
Solveig steht noch lange in der Tür und schaut mit Tränen in den Augen den längst am Horizont verschwundenen Schiffen nach. Nowgorod. So weit will er fahren.

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Die persönliche Kiste oder Truhe der Wikinger war das Äquivalent zu unserem Schrank oder Reisekoffer. In ihr wurden Kleidung, Schuhe und die für die Hygiene notwendigen Gegenstände auf Reisen mitgeführt oder im Haus verstaut. Hygiene wurde bei den Wikingern sehr groß geschrieben, so gehörte zur sichtbaren Ausrüstung der Frauen beispielsweise ein Besteck aus Ohrlöffel, Pinzette und Fingernagelkratzer, das vermutlich an Fibeln oder Gürtel getragen wurde. Auch die zahnreinigenden Wirkstoffe des Süßholzes waren bekannt und wurden – wenigstens bei den Familien, die es sich leisten konnten – wahrscheinlich mehrmals täglich eingesetzt. Auch Weidenruten wurden als Zahnbürsten benutzt. In vielen Gräbern findet man die Schädel mit zwar durch Steinmehl aus den Handmühlen abgenutztem aber meist weitgehend vorhandenem Gebiss.

Das hier erwähnte Messer würde heißen, dass der Sklave zwar freigelassen werden soll, aber trotzdem als Unfreier dem Haushalt verpflichtet bleibt solange er seinen Kaufpreis noch nicht wieder erarbeitet hat. Er muss sich allerdings nicht mehr zusätzlich freikaufen. Sklaven hatten für gewöhnlich nur was sie am Leib trugen sowie einen Löffel als persönlichen Besitz, es sei denn, ihr Herr machte ihnen Geschenke – die sie aber normalerweise nicht tragen oder einsetzen konnten. So wurden Geschenke meist dazu benutzt, sich freizukaufen.
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Die Schafschur ist im vollen Gang, es ist Frühjahr. Mehr als sieben Monate sind vergangen, seit Alrik mit den Jungen zur Handelsfahrt ins ferne Land der Rus aufgebrochen ist. Auf dem Hof haben alle Bewohner die Hände voll zu tun, sie scheren, kardieren, spinnen, weben, färben, walken oder nähen aus dem fertigen Stoff. Überall ertönen Lieder, nach deren Takt die Arbeit verrichtet wird.
Das warme, weiche Gewebe und die fertigen Gewänder wird Alrik entweder auf die nächste Handelsfahrt mitnehmen oder sie an fahrende Händler verkaufen. Auch die Arbeiter, die Mägde und Knechte auf dem Hof, die Sklaven und die unfreien Bauern sind versorgt. Sie bekommen mindestens jedes zweite Jahr ein Stück ungefärbten Wollstoff, groß genug für Hemd und Hose oder ein Kleid. Färben können sie es selbst, wenn sie wollen. Jede Familie kann sich behelfen, die kleineren Kinder spinnen, die größeren sammeln Kardendisteln oder stehen am Gewichtswebstuhl, die Erwachsenen übernehmen das Färben, Walken und Nähen. Manchmal finden sich die Mädchen mit einer der älteren Frauen zusammen, die ihnen die Feinheiten der Faserverarbeitung beibringt. Die Handhaltung beim Spinnen, das Benutzen des großen Gewichtswebstuhles, später auch das Weben mit Brettchen oder Kämmen.

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Auf dem Hof wird nur Wolle verarbeitet, denn von den Schafen kann vom Vlies über das Fleisch bis hin zu Knochen und Sehnen alles verwertet werden. Leinen wäre wegen der nötigen Anbaufläche und der Arbeit, die auf das Feld und die Verarbeitung des Flachses verwandt werden muss, unnötig teuer in der Herstellung.
Der Flachs, aus dem die Leinenfasern gewonnen werden, muss nach der Ernte getrocknet, gebrochen und gehechelt werden, um die Pflanzenfasern verwenden zu können. Darüber hinaus war das Spinnen von Leinen mit der Hand nicht nur schwierig und zeitraubender, eine Leinenspinnerin hatte immer rote, geschwollene oder gar offene Hände, weil die Faser zum Verspinnen erst wieder gewässert und auch feucht verarbeitet werden muss.
Leinenreste wurden zwar in den Grablegen von Birka häufig gefunden, was aber darauf zurückzuführen ist, dass in Birka als einem der größten Handelszentren seiner Zeit keine Armen vermutet werden. Bekannt ist hierzu ein Testament einer schwedischen Witwe, die ihre gesamte Habe unter den Armen verteilt wissen will, jedoch weist sie die mit der Verteilung Betrauten an, sich von Birka abwenden, da es dort keine Armen gebe.
Einzig Pflanzen für die Färbung der fertigen Wollfäden wurden – soweit möglich – auf dem eigenen Hof angebaut. Sie brauchten nicht halb so viel Platz und meist auch weit weniger Aufmerksamkeit als Flachs – oder fielen, wie Zwiebel – oder grüne Nussschalen - bei der Zubereitung der täglichen Mahlzeiten an.

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Wann sie wohl endlich wiederkommen, die drei Schiffe … Solveig ist in Gedanken versunken. Sie spinnt feine Wolle, die sie zu einem Festgewand für Alrik verweben will. Mägde hätte sie genug aber dieses Hemd soll etwas ganz besonderes werden.
Nur der Sachse trägt noch immer das eine Gewand, fällt ihr dabei auf. Das grobe Wollzeug, in dem sie ihn gekauft haben. Diesen Gedanken im Kopf ruft sie eine ihrer Mägde heran. Zwar kann der Sachse auch nähen, er flickt die Löcher und Risse in seinen Hemden selbst, doch sie möchte ihm eine Freude machen und bittet Alfhild, ihm Hemd und Beinlinge zu nähen. Er macht nicht viele Worte, ist ihr aber schon zu einem wichtigen Hausgenossen geworden, sie schätzt ihn, auch wenn sie noch immer seinen Namen nicht kennt. Sie nennt ihn, wie alle anderen auch, nur den Sachsen. Vielleicht sollte sie …
Sie wird aus ihren Gedanken aufgerüttelt, als ein Bote gehetzt auf den Hof läuft. „Solveig? Solveig Ulfgangsdottír?“ ruft er fragend über den gestampften Platz. „Ja, hier bin ich“, antwortet die Hausherrin. Der Bote kommt auf sie zu. „Es waren nur noch Bruchstücke“, keucht er. „Ich komme von Birka her. Snorri hat mich mitgenommen auf seinem Wagen“, der Mann kommt kaum zu Atem. Solveig bittet ihn ins Haus, heißt ihn Platz nehmen und bietet ihm Brot und Met.
Der Bote isst hungrig, trinkt, und berichtet dann. Alrik, Hallfred und Thoralf waren erfolgreich auf ihrer Handelsfahrt, die Jungen hatten sich als gute Menschenkenner herausgestellt. Auf dem Rückweg lagen die drei Schiffe nur flach im Wasser, so viel ihrer Waren hatten sie verkauft.
„Ein Sturm kam auf, kurz bevor wir durchs Kattegatt gefahren sind.“ Die Auswirkungen dieses Sturmes waren sogar in dem kleinen Fjord noch zu spüren gewesen. Nur gut, dass sie genug Hände zur Hilfe gehabt hatten seufzt Solveig in Gedanken auf. Doch dann wendet sie sich wieder dem Boten zu, ein unangenehmes Kribbeln läuft über ihr Rückgrat. „Was ist mit dem Sturm gewesen?“ fragt sie ungeduldig. Der Bote wiegt den Kopf. „Es hat sie bei voller Besegelung getroffen. Die anderen beiden Schiffe waren zu leicht ohne die Ladung. Sie haben mit den Wellen getanzt, so lange sie konnten. Nur waren zu viele Wellen da und zu wenig Gewicht.“ Er ist nun ruhiger, weiß, dass er seine traurige Pflicht fast erfüllt hat. „Alrik und die Jungen haben bis zuletzt versucht, das Schiff zu halten. Und gestern haben wir dann die Bruchstücke ihrer Schilde und die Wetterfahne gefunden.“ Tränen treten in seine Augen wie auch in die der Frau. „Es tut mir Leid“, sagt der Bote schlicht, sie kann nur stumm nicken. Es ist das Schicksal so vieler vor ihren drei Männern gewesen, sie weiß nach außen damit umzugehen. Auf dem Grund des Kattegatt liegen zwei der drei Schiffe und ihre Besatzung, mit ihnen das Liebste, das sie auf der Welt hatte. Und Solveig kann ihnen nicht einmal die Feuerbestattung geben, die ihnen zugestanden hätte. Der Bote übergibt ihr, was von Alriks Schiff übrigblieb und verabschiedet sich schnell.
Sie trauert leise und lange. Doch das Leben muss weitergehen.
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Es wurden viele Kleidungsfragmente gefunden, deren Rand nicht mit brettchen– oder kammgewebter Borte benäht sondern die direkt an die Borte gewebt worden waren. Dafür wurde beim Weben der Borte in immer zwei Fächer hintereinander ein langer Schussfaden gelegt, der dann als Kettfaden für den restlichen Stoff genutzt wurde.

Brot und Met (manchmal auch Brot und Salz) waren das traditionelle Willkommensmahl. Damit wurde dem Ankommenden Gastfreundschaft und der Schutz des Hausherrn gegenüber Angriffen auf seinem Land gewährt.

Die Feuerbestattung war lange Zeit üblich. Man glaubte, dass die unsterbliche Essenz eines jeden Menschen mit den Flammen und dem Rauch zu den Göttern aufsteigen würde, jedoch nicht nach Walhalla, die große Halle Odins, die nur den Kriegern vorbehalten war. Walküren, von Odin ausgesandte Botinnen, suchten die im Kampf gefallenen Krieger und geleiteten sie über die Regenbogenbrücke Bifröst nach Walhalla.
Es findet sich häufig die Darstellung einer Unterwelt namens Utgard, deren Königin Hel (heute noch in den Märchen als Frau Holle zu finden) all die Toten beherbergte, die durch einen Unfall wie den oben geschilderten oder durch Mord zu Tode gekommen und nicht verbrannt worden waren.

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Drei Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Solveig hat die ersten silbernen Strähnen im dichten dunklen Haar, sie ist ruhiger geworden. Mit sicherer Hand leitet sie die Geschäfte auf dem Hof, verkauft nur noch an fahrende Händler, stellt immer mehr selbst her, obwohl sie es nicht müsste. Einsam ist sie häufig, manchmal lässt sie Gefühle wie Verlust und Trauer zu, wenn sie auf die klare oder stürmische See vor ihrer Haustür blickt und noch seltener fließen dann ungehindert die Tränen. In den klaren Sternennächten des langen schwedischen Winters friert sie oft. Seit Alriks und ihrer Söhne Tod hat sie niemanden mehr an sich heran gelassen. Niemanden? Doch, der Sachse ist immer häufiger um sie herum. Er hilft gar bei den Verhandlungen mit den fremden Händlern. Noch immer ist er Sklave, aber er wird stets wichtiger für sie. Und, kaum dass sie es zugeben würde, seit einiger Zeit fühlt sie mehr.

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Es ist wieder ein schöner Julitag als der Sachse zum ersten Mal von sich aus das Wort an sie zu richten wagt. „Heute sind es vier Jahre, seit ich zu Dir kam“, sagt er schlicht. Sie kennt seine Zeitrechnung mittlerweile, genauso wie seinen Gesichtsausdruck, wenn er etwas Wichtiges sagen will, sich aber nicht so recht traut. „Vier Jahre schon …“ antwortet sie gedankenverloren. „Drei Jahre nur …seit …“ Tränen füllen ihren Blick. Noch immer hat sie den Tod des Gefährten nicht ganz verwunden, wenn auch dessen Gesicht in ihrer Erinnerung immer weiter verblasst und durch das des Sachsen ersetzt wird. Ärgerlich wischt sie sich die salzigen Tropfen vom Gesicht und lächelt den Sachsen an. „Du willst mir sicher etwas sagen“, fordert sie ihn auf. Der sonst so sichere und ruhige Mann beginnt zu stottern, ehe er allen Mut zusammennimmt und ihr ins Gesicht schaut. „Herrin, Du musst Dir einen Gefährten suchen.“
Solveig stutzt, will ihn schon wegen seiner Frechheit strafen. Doch dann besinnt sie sich. „Warum?“ fragt sie nur. Der Sklave nennt tausend gute Gründe, doch er kann sie nicht überzeugen. Sie will nirgendwo hin fahren, will keinen anderen Mann. Sie ist sich selbst genug, redet sie sich ein. Und Alrik ist noch nicht ganz aus ihren Gedanken verschwunden. Doch die Lüge hält nicht lange.
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Es war durchaus üblich, dass die Wikingerfrauen den Hof und Handel der verstorbenen Männer aufrechterhielten. Manchmal übten sie sogar das Handwerk weiter aus, man kennt Berichte von zum Beispiel Kammschnitzerinnen. Wenn hier allerdings der christliche auf den wikingischen Glauben stößt so sehen wir eine ernste Diskrepanz: das Christentum sieht auch in diesem frühen Stadium schon die Frauen als unfähig zu Entscheidungen und damit Verwaltungsaufgaben an. Daher ist der getaufte Christ also – von seiner Erziehung her ganz natürlich – der Meinung, dass eine Frau nicht in der Lage sei, einen Hof zu führen.
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Einige Abende später bittet Solveig zum ersten Mal den Sachsen, auch nach dem Essen noch bei ihr zu bleiben. „Du hast mir nie deinen Namen genannt …“ beginnt sie vorsichtig, das Herz schlägt ihr vogelgleich in der Brust. Sie ist verwundert über sich selbst, erkennt diese Regung nicht wieder. Doch die Ruhe und Ausgeglichenheit ihres Gegenübers macht sie auch sicherer.
„Zeisolf“ antwortet der schlicht und sieht sie nur weiter abwartend an. Solveig druckst, weiß nicht recht was sie sagen soll. Doch dann fasst sie sich ein Herz. „Du hast gesagt, ich solle mir einen neuen Gefährten suchen“ setzt sie an. „Die Gründe, die du nanntest, waren alle durchaus richtig. Aber warum meinst du nun wirklich, dass ich einen neuen Gefährten brauche? Ich habe doch dich. Du hilfst auf dem Hof und zeigst dich schon seit Jahren all den kleinen und größeren Herausforderungen gewachsen, die dein jetziges Leben mit sich bringt.“ Sogar unsere Sprache sprichst du mittlerweile fehlerfrei, denkt sie noch, spricht es aber nicht aus. Sie ist jetzt ruhig, weiß sich in der einfacheren Position und kann ihre Gefühle sogar vor sich selbst verbergen.
Der Sachse antwortet nicht sondern wartet, gespannt wie eine Bogensehne, worauf das Gespräch noch hinauslaufen mag. Er will seinen Standpunkt nicht vertreten, ist der Ansicht, dass sie wissen müsste, dass er, der Sklave, nie den Respekt der anderen Hofbewohner hätte, würde er sich als Herr aufspielen. Geschweige denn, dass er sich weitere Freiheiten herausnehmen kann.
„Macht dein Gott dich so stark?“ will sie dann wissen, worauf Zeisolf überrascht rot anläuft. Bisher hat sich noch kein Mitglied des Haushaltes mit ihm über seinen Glauben unterhalten wollen und diese Frage bringt ihn aus dem Konzept. Er überlegt lange, ob er überhaupt darauf eingehen soll, kann dann aber der Verlockung nicht widerstehen. „Mein Gott hat immer ein offenes Ohr für mich. Ich kann mich mit Gebeten an ihn wenden und bisher bin ich noch nicht enttäuscht worden“ erwidert er. „Ich habe gesehen, dass auf diesem Hof viele erst überlegen müssen, welchen ihrer vielen Götter sie anrufen sollen. Ich muss nicht überlegen, ich bete einfach.“
Solveig sieht ihn zum ersten Mal genauer an. Der erste Eindruck, den sie seit dem Markttag vor vier Jahren in sich bewahrt, hält der Prüfung durchaus stand. Noch immer ist Zeisolf unbeeindruckt von einem Schicksal, das manch anderen, vielleicht sogar stärkeren Mann gebrochen hätte. Statt ihre Söhne lesen und schreiben zu lehren hatte er vor zwei Jahren den Unterricht bei ihr selbst übernommen und sie so gut gelehrt, dass sie ihre Bücher nun selbst führen kann. Trotzdem gibt sie sie ihm noch immer, damit er nachrechnet.
Das schmale Gesicht mit den aufmerksamen Augen, die sie sanft ansehen, ist ihr schon so vertraut, dass sie es nicht mehr missen möchte.
Wie seine Geschichte wohl aussieht? Sie kennt nur die letzten vier Jahre, weiß nicht einmal, wie alt der Sachse ist. Doch so wie er die Geschäfte führt und mit anpackt kann er kein dummer Mensch sein.
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Das mag für die Menschen vergangener Zeiten wirklich der größte Unterschied zwischen der nordischen Mythologie und dem christlichen Glauben gewesen sein. Es gab plötzlich die Möglichkeit, sich aller kleinen und großen Bitten wegen an eine einzige Stelle zu wenden. In der nordischen wie auch z.B. in der keltischen, griechischen oder römischen Götterwelt gab es wichtige und weniger wichtige Götter, Halbgötter, Naturgeister wie Trolle oder Quellnymphen und viele weitere Stellen, an die sich die Bittenden wenden konnten. Nicht zuletzt wurde auch zu den Geistern der verstorbenen Familienmitglieder oder Freunde gebetet.
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Solveig entschließt sich für einen Handel, der sie selbst überrascht. „Du erzählst mir, wie Du hier her kamst und wie dein Leben bis hier verlief und ich gehe mit dir hinaus und suche mir einen neuen Gefährten“, schlägt sie ihm vor. „Wir können mit einem anderen Händler mitreisen, das ist sicherer. Den Hof übergebe ich so lange an Snorri und seine Familie. Sie leben gleich im Nachbarfjord, da ist es nicht schwierig, dass sie hier nach dem Rechten sehen. Alrik hat das auch immer so geregelt, wenn wir gemeinsam unterwegs waren.“
In ihrem Kopf ist schon alles fertig, doch der Sachse zögert. „Kannst du mich denn so einfach mitnehmen?“ fragt er. „Wird Snorri nicht versuchen, sich deinen Hof einzuverleiben? Und außerdem, du hast doch so viele Mägde, ist es nicht einfacher, Alfhild oder Thordis bei dir zu haben? Sie können dich sicher besser beraten.“ Doch sie will davon nichts hören. „Du hast in den letzten Jahren mit mir die Geschäfte hier geführt, also musst du mir helfen, jemanden zu finden, der das auch kann.“ Sie erwähnt nicht, dass derjenige Zeisolf ersetzen würde, will soweit noch nicht denken. Aber der Sachse ist es zufrieden und beginnt zu erzählen.

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„Ich bin der Sohn eines Pachtbauern aus dem Sächsischen. Der Name, den ihr mir gabt, stimmt also sogar.“ Er lächelt stillvergnügt und ansteckend, den Blick in weite Ferne gerichtet. „Der Name meines Geburtsortes tut nichts zur Sache. Mein Vater und meine fünf älteren Geschwister arbeiteten im Sommer auf dem Hof, um die Pacht zu erwirtschaften, und im Winter schnitzten sie Löffel und Schalen, die mein ältester Bruder dann im Frühjahr mit all den anderen Waren auf dem Markt verkaufen konnte. Ich war zwar kräftig genug für die Hofarbeit, interessierte mich aber nicht wirklich dafür. Mein Vater lehrte mich lesen, schreiben und rechnen, er war auf einer Klosterschule gewesen und sehr intelligent. Meine Mutter konnte malen und sticken, so fein, dass sie am Altartuch für die Dorfkirche mitarbeiten durfte, obwohl sie keine Nonne war“ Zeisolfs Augen leuchten stolz auf, als er von seinen Eltern erzählt. „Und doch sprichst du von ihnen als seien sie nicht mehr“, sagt Solveig, nachdem es eine Weile ruhig geblieben war. Ein trauriger Schleier überzieht das Gesicht des Sachsen. „Sie sind auch nicht mehr. Im Winter des Jahres 977 gab es bei uns eine große Hungersnot. Der Sommer war stürmisch und regnerisch gewesen, die Ernte war mehr als kärglich. Meine Mutter kochte Birkenrinde und buk Eichelbrot mit Lehm, damit wir überhaupt etwas im Bauch hatten. Doch dann wurde sie krank. Ihr fielen die Zähne und die Haare aus und nach ein paar Wochen spuckte sie nur noch Blut. Mein Vater hielt sie im Arm als sie starb. Er machte sich schlimme Vorwürfe, weil wir uns keinen Arzt leisten konnten.“
Solveig lässt ihn einen Moment in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Diesen Schmerz kennt sie auch nur zu gut, erinnert sich an ihren eigenen Verlust, der noch immer schmerzt wie eine Narbe, wenn sich das Wetter ändert.

„Ich war gerade achtzehn geworden und hätte eigentlich längst verheiratet werden sollen, aber nun war auch für die Hochzeit kein Geld mehr da. Mein Glück war, dass ich lesen, schreiben und rechnen konnte, denn so kam ich als Laienbruder in ein Kloster und musste Vater nicht länger Sorge fallen. Ich wollte das Gelübde nicht ablegen, aber ich fühlte mich dem christlichen Glauben zugetan und suchte meinen eigenen Weg. Einige Jahre später wurde ich gebeten, mich nach Haithabu zu begeben, wo ein Mönch mich erwarten würde. Er wollte mit meiner Hilfe versuchen, die Bauern und Händler in und um Haithabu zu bekehren. Doch dort kam ich nicht an.“
Wieder verschleiert Erinnerung den Blick des Sachsen. Er beginnt, die Feuerstelle zu umrunden.
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In den christianisierten Regionen war lesen, schreiben und rechnen meist nicht allzu weit verbreitet, da nur die Mönche und Nonnen in den Klosterschulen dieses Wissen vermitteln durften. Da aber schon kleine Kinder zur Hof – und Feldarbeit herangezogen wurden gab es nicht viele, die die Zeit für den Unterricht aufbringen konnten.
Wer allerdings dieses Könnens mächtig war wurde auch gern als Laienbruder oder –schwester in ein Kloster aufgenommen. Diese Menschen mussten zwar auch für ihr Leben im Kloster arbeiten, wurden aber (ähnlich einem Unfreien) im Gegenzug vom Kloster verköstigt und mit Bekleidung ausgestattet.

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„Ich sollte auf der Elbe bis Hamburg fahren und von dort aus sei meine weitere Reise mir selbst überlassen, sagten sie mir im Kloster. Doch schon das Fluss-Schiff, das ich in Magdeburg bestieg, schien mir seltsam. Es hatte einen höheren Bord als die Treidelkähne, die ich kannte, und führte Mast und Segel mit sich. Vielleicht hätte ich es nicht besteigen sollen …“ seufzt er und verstummt erneut für eine Weile.

Die Schwedin spürt, dass er Bilder vor Augen hat, die ihn quälen und piesacken wie ein spitzer Stein, der innen in einem Holzschuh steckt. Einige Zeit – und einige Runden um die Feuerstelle später hebt er wieder zu sprechen an.
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Das Schiff, von dem hier die Rede ist, war ein durchaus seetaugliches Wikingerboot mit flachem Kiel, Dollen zum Einhängen der Ruder, sowie Mast und Segel. Mit dieserart Booten, die wir sowohl auf Abbildungen wie auch in Grablegen wie beispielsweise Oseberg (Südschweden) wiederfinden können, wurden Strecken wie beispielsweise zwischen Norwegen und Island, Dänemark, Großbritannien und sogar Neufundland zurückgelegt. Verschiedene moderne Nachbauten haben die Hochseetüchtigkeit dieser Schiffe bewiesen..
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„Im Kloster war ich – wie die anderen Mönche auch – sehr behütet worden. Keine Nachricht von Hungersnöten, Überschwemmungen, Krankheiten drang in unsere kleine Welt. Wir gaben uns – ich genau so wie die Mönche, die das Gelübde bereits abgelegt hatten – tagtäglich Gebeten, Studien und Feldarbeit hin. Ich durfte auch hier dabei helfen, die Bücher zu führen und war mir so dessen bewusst, dass es dem Kloster nicht sonderlich gut ging. Der Boden war sandig, die Erträge karg – und ebenso das Essen, aber das war ich nicht anders gewohnt.
Als das Schiff nicht wie geplant in irgendeinem Flusshafen hielt sondern auf die offene See zusteuerte wollte ich erst zum Kapitän gehen, dachte dann aber, es sei alles richtig so. Was wusste ich schon von der Fluss – oder Seeschifffahrt. Erst als ich zu frieren begann, es war immerhin erst Frühjahr und die Nordroute um Dänemark herum war noch nicht einmal völlig eisfrei, fasste ich mir ein Herz und sprach ihn an. Er jedoch lachte nur und antwortete, dass mir noch früh genug warm werden würde. Er war schon oft im Kloster gewesen, hatte immer Waren abgeholt und ab und zu einen der Laienbrüder mitgenommen. Immer nur einen. Und sie kamen nie zurück.
Ich sprach jeden Tag die Gebete, die mich die Mönche gelehrt hatten und fügte meist noch meine Freude darüber, dass ich nicht seekrank wurde hinzu. Der Kapitän wie auch die restliche Mannschaft belächelten mein Tun, griffen aber selbst nahezu regelmäßig nach ihren Anhängern, meist Thorshämmer oder Äxte.“

Solveig stutzt. Es kommt ihr seltsam vor, dass ein Christ die Amulette der Wikinger kennt und obendrein weiß, dass die Menschen ihre Götter anrufen, wenn sie sie berühren. Doch der Sachse lächelt nur, als würde er ihre Gedanken lesen, holt wieder Atem und spricht weiter.

„Auf einmal wurde es wieder wärmer. Die Sonne beschien unsere Reise und der Wind hielt ein. Das Segel hing schlaff am Mast und die Ruder wurden in die Borde eingehängt. Auch ich musste mitrudern. Nach wenigen Schlägen schmerzten meine Schultern, die zwar die Feldarbeit gewohnt waren, aber nur im Sandboden meiner Heimat. Ich biss die Zähne zusammen und ruderte mit schmerzenden Schultern und immer größeren Blasen an den Händen weiter, bis wieder ein Wind aufkam, der das Segel blähte. Gott weiß wie der Kapitän den Weg durch die Inseln und Untiefen fand!
Zwei Tage später erreichten wir Birka. Die Mannschaft freute sich, nach der langen Reise wieder in ihrem Zuhause angekommen zu sein, was sie mir sogar in meiner Sprache berichten konnten. Einige Brocken der ihren (Er hält kurz inne, sieht Solveig an, lächelt und spricht weiter) hatte ich auch aufschnappen können und es schien mir rückblickend umso seltsamer, dass ausgerechnet der Kapitän in der Lage war, sich fließend mit dem Abt, den anderen Mönchen und selbst mit mir zu unterhalten.
Manch ein mitleidiger Blick fiel auf mich, doch ich wusste noch immer nicht warum. Als ich jedoch von Bord gehen wollte, hielt mich der Kapitän zurück und band meine Hände mit einem Stück von dem rohen Seil, das sie für das Ruder benutzten. Er befahl mir, mit ihm zu gehen – ich aber blieb an dem Platz stehen, wohin er mich gestellt hatte. Ich solle doch nicht so störrisch sein, die anderen hätten es doch auch begriffen. Ich wollte mit ihm diskutieren, doch er ließ nicht mit sich reden sondern schleifte mich hinter sich her zum Markt. Ich stand schon den dritten Tag in der prallen Sonne, mein Willen, mich zu befreien, war mittlerweile durch Durst und Hunger gebrochen …“
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Zwar war die Sklaverei unter Christen verpönt, kam aber im Frühmittelalter immer wieder vor. Interessant ist hier, dass die Mönche und Nonnen, die meist eine Art Mitgift an das Kloster gezahlt hatten, vor dem Verkauf sicher waren. Ebenso interessant ist der Umstand, dass sich in der späteren Zeit die Bezeichnung „Sklave“ weitgehend verliert und durch „Leibeigener“ ersetzt wird, wobei Leibeigene / Sklaven und Unfreie nicht gleichzusetzen sind. Ein Sklave mit Messer wäre ein Unfreier, so lange, bis sein Herr den Kaufpreis für erarbeitet erachtet und ihn freigibt.
Wenn ein Mensch ohne eigenes Wollen verschleppt wurde so geschah das meist im Kampf (eine der bekanntesten Geschichte über Versklavung mag „Der Raub der Sabinerinnen“ sein). Im geschilderten Fall hat das Kloster einen seiner Laienbrüder gegen Lebensmittel und andere Waren getauscht, ohne diesen von seinem weiteren Lebensweg zu unterrichten. Da Gewaltanwendung die „Ware“ verdorben hätte, wird hier über Entzug von Lebensmitteln sowie über Erniedrigung versucht, die Persönlichkeit des Mannes weit genug zu beugen oder gar zu brechen, damit er dem neuen Herren gehorcht – Ungehorsam der Sklaven wäre auf deren Händler zurückgefallen.

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Ein Schatten zieht über Zeisolfs Gesicht als er sich an diese Tage erinnert. Sie waren – wie die Seefahrt selbst – von Durst und Hunger geprägt, von Lächerlichkeit und Qual. Erst als er statt zu den Pferdeäpfeln zum Brotkanten griff und sich damit geschlagen gab, hatte der Sklavenhändler auch nachgegeben, ihn sich säubern lassen und wieder bekleidet. Sogar das knöcherne, vom langen Tragen glatt polierte Taufkreuz, die einzige Erinnerung an sein Zuhause, hatte er wieder umhängen dürfen. Aber das wird er ihr nicht preisgeben, zu erniedrigend sind diese Gedanken. Die Schwedin fragt nicht nach, sieht ihn nur abwartend und scheinbar mit ganz anderen Augen als vorher an. Ob sie ihn bewundert? Oder vielleicht sogar ein wenig mehr?

Schon seit längerem wendet er den Gedanken daran, dass sie sich einen neuen Gefährten suchen muss, in seinem Kopf – und je länger er darüber nachdenkt, desto weniger gefällt ihm die Idee. Doch er wird es nicht ändern können, ist er doch nur ein Sklave und völlig von ihr abhängig. Und er wird sich darein fügen, wie in so vieles vorher schon. Er kann damit umgehen, auch wenn er das Gefühl bisher nicht kannte das ihn beherrscht, wenn sie in seiner Nähe ist. Solche Leichtigkeit und Freude hat er bisher noch nie empfunden und in ihm macht sich schon seit längerem der Wunsch breit, ihr die stets vorhandene Trauer aus dem Gesicht zu wischen, durch das dunkle, glänzende Haar zu fahren und ihr zu zeigen, dass die Welt noch so viele Wunder bereithält.
Doch spätestens, wenn seine Gedanken ihn so weit entführt haben ruft er sich meist energisch wieder zur Ordnung. Er weiß, dass es eine solche Beziehung zwischen ihnen nie geben kann.

„Den Rest der Geschichte kennst du, Herrin. Dein Gefährte kaufte mich dem Kapitän ab und seitdem lebe ich hier auf dem Hof“, endet er seine Geschichte abrupt.
Solveig sieht ins Feuer, das langsam niedergebrannt ist während er erzählte. Vier Jahre schon teilt er das Leben im Fjord mit ihnen, vier Jahre immer im selben Gewand und ohne Freiheit. Ihr erster Impuls ist, ihn freizulassen, doch wohin soll er gehen? Es käme dem Davonjagen von etwas, das gerade dabei ist seine Heimat zu werden, gleich. Und dem Davonjagen aus ihrem Leben ebenso. Erschauernd gesteht sie sich ein, dass sie diesen Verlust nicht auch noch ertragen möchte.
Sie sieht ihn an, weiß wieder nicht so recht, wie sie beginnen soll. Soll sie direkt fragen? Oder lieber einen Vorwand dafür finden, dass er die ganze Nacht über bei ihr bleibt?
Die Kühle des beginnenden Herbstes bahnt sich einen Weg durch Dach und Türen des niedrigen Hauses und Solveig fröstelt. Unwillkürlich streckt der Sachse eine Hand nach ihr aus und streicht ihr über die Schulter, leicht, fast schüchtern. Die Schwedin versucht noch, ihre aufrechte Haltung zu bewahren, doch die Erzählung, so nüchtern sie auch vorgetragen war, hat ihre Narben wieder aufgerissen. Was, wenn die Männer statt auf dem Grund des Meeres zu liegen ebenso in die Sklaverei verkauft wurden?
Zeisolf fragt nicht sondern schließt sie stumm in die Arme, als all ihre über drei Jahre zurückgehaltenen Tränen endlich zu fließen beginnen. Er hält sie die ganze Nacht hindurch, vorsichtig wie ein rohes Ei, trocknet ihre Tränen und wärmt sie.
Schließlich hat sie sich weit genug ausgeweint, um sich des Trostes und der Wärme bewusst zu sein, die ihr zuteil wird. Ebenso ist sie sich plötzlich bewusst, wer sie da im Arm hält. Sie blickt in das schmale Gesicht mit den blauen Augen, deren Tiefe im schwachen Licht der verlöschenden Glut unergründlich scheint, hebt die Hand und streicht ihm langsam und verwundert über sich selbst durch das sommerhelle Haar. Er tut es ihr gleich, spürt die vorsichtig – zärtliche Stimmung und genießt die Berührung der schweren Flechten, die er schon so lange herbeigesehnt hat.
Die Sonne des neuen Morgens findet nicht mehr Herrin und Sklaven sondern zwei Liebende auf dem Strohlager.
***

Wieder ist ein halbes Jahr ins Land gegangen. Die Schwedin und der Sachse verbringen seit dem schicksalhaften Juliabend viel Zeit miteinander, gehen freundlich, fast liebevoll miteinander um, versuchen aber, ihre Zuneigung geheim zu halten. Erst als die älteste ihrer Mägde, die sie schon vom Elternhof mitbrachte, sich Solveigs annimmt und ihr zu verstehen gibt, dass die Freundschaft zwischen ihr und dem Sachsen längst in aller Munde ist, gibt die Schwedin auch vor sich selbst zu, dass sie mehr als nur Freundschaft für den hochaufgeschossenen Mann empfindet.
Trotzdem muss sie ihren Teil des Handels einhalten, redet sie sich ein. Also schließt sie sich mit Zeisolf einer Händlergruppe an, die von Birka aus nicht nur das Nordmeer sondern sogar die Heimat des Sachsen bereisen wird. Sie möchte sehen, wo er gelebt hat und möchte die Worte seiner Erzählung mit Leben füllen können.
Einige Tage später, der Frühling hat gerade seine ersten Vorboten nach Schweden gesandt, geht die Reise los. Wohin sie führen wird wissen beide noch nicht.

***

An dieser Stelle verlassen wir die Geschichte wieder. Kein lebender Mensch kann uns bestätigen, dass es sich vor tausend Jahren so zugetragen hat – es kann auch keiner verneinen.
In unserem Marktleben begegnen wir Personen, die sich diese oder eine ähnliche Geschichte zu Herzen genommen haben und versuchen, wie Wikinger und Sachsen zu denken und zu handeln. Personen, die den Eindruck der Barbarei durch ihre Darstellung von frühmittelalterlichem Leben und ihre Interpretation der bekannten Berichte auszulöschen versuchen. Die mit der Ausübung überlieferter Handwerke und Handarbeiten informieren und zum Mitmachen anreizen wollen. Die durch ihr Lagerleben versuchen deutlich zu machen, wie schwierig und gleichzeitig einfach es im Frühmittelalter war, das tägliche Brot auf den Tisch zu bekommen.
Auch wir wollen aufklären. Nicht mit wilden Spekulationen um uns werfen sondern ausprobieren, wie ein Kleid, ein Hemd, eine Hose aus dieser Zeit geschnitten gewesen und getragen worden sein kann, welche Zeit die Herstellung des Stoffes dafür dauerte. Wie Fladenbrot auf heißen Steinen gebacken wird, wie Tongeschirr in einer Grube gebrannt wird, was die Menschen damals als Schmuck empfanden und an ihre Kleidung hefteten, woran sie glaubten und wie ihr Tagesablauf gewesen sein mag.
Wir sind Solveig und der Sachse.

 

Hallo Tamlin

Danke für deine ausführlichen Erläuterungen.
Ja, so mit Anmerkungen und im Zusammenhang mit dem Kontext (also "Zooschildchen" - was für ein fieses Wort), macht der Text mehr Sinn. Als solcher ist er dir dann gut gelungen, da er ja sein Augenmerk wirklich konkret auf die Erläuterung alltäglicher Gegebenheiten legt.
Aber um eine Kurzgeschichte zu werden, die aus sich heraus eine runde Sache ist, müsste halt noch dran gefeilt werden.

Ps: "Die Männer vom Meer" ist ein Wikinger-Roman von Konrad Hansen. Ist nicht grad ein literarisches Meisterwerk, aber wer Freude an der Zeit hat (also ich), hat seinen Spass. Und da gibts halt auch eine Szene wo der Prot zum erstenmal auf einem Drachenboot rudern muss - was für ihn eine, na sagen wir mal, grenzwertige Erfahrung darstellt.

Bis dann, Skalde.

 

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