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Sommer der Brücken
Das Hemd klebte feucht an meinem Körper. Es war viel zu heiß, um einschlafen zu können. Immer wieder stand ich auf, sah aus dem Fenster. Am Horizont türmten sich dunkle Wolken auf und ich sehnte mir ein erfrischendes Gewitter herbei.
Ich dachte an Frankreich, an die Front und stellte mir eine riesige Heerschar, angeführt von einem Reiter auf einem schwarzen Pferd, vor. Ich selbst war mitten unter den Kriegern. Der Rand war von Zuschauern gesäumt. Sie jubelten, winkten uns eifrig zu und ihre Rufe trieben uns dem Gegner entgegen. Meine Mutter schluchzte in ein Taschentuch und meine Schulkameradin Maria drückte ein Bild von mir an ihre Brust. Sonnenstrahlen ließen ihr Haar golden leuchten. Ich war ein Held in jener Nacht.
Der Heldenglanz verflog, als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Das Tageslicht machte mich wieder zu dem kleinen Jungen, der für die Front drei Jahre zu jung war.
Ich stand auf, ging ans Fenster und sog die kühle Luft ein. Mein Blick schweifte über unsere Felder. Ich seufzte, als ich an die Arbeit dachte, die Mutter und mir heute bevorstand.
Mutter summte in der Küche ein Lied, während sie Tee zubereitete. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen und sie wirkte wie ein junges Mädchen. An diesem Tag hingen keine schwarzen Ringe unter ihren Augen.
„Peter“, rief sie, lief zu mir und schloss mich fest in die Arme. Sie bedeckte mein Gesicht mit feuchten Küssen. „Bald ist alles vorbei“, sagte sie. „Der Vater kommt bald heim.“
„Bestimmt“, antwortete ich, strich ihr über den Rücken und schob sie sanft weg.
„Red nicht so mit mir, Peter. Ich bin nicht verrückt und auch kein kleines Kind.“
Sie stellte einen Teller scheppernd in das Spülbecken, roter Zorn flammte in ihrem Gesicht.
„Die Alliierten sind in Frankreich gelandet und haben die deutsche Front aufgemischt.“
Sie lächelte wieder, ihre Augen schimmerten feucht. „Erinnerst du dich noch an Vater? Erzähle mir, was du noch weißt.“ Sie sah mich mit großen Augen an und ich unterdrückte ein Seufzen. Das gleiche Spiel. Jeden Tag.
Mutter zuckte zusammen, als jemand an unsere Tür klopfte.
„Vielleicht ist er das schon“, flüsterte sie, stand leichtfüßig auf und tänzelte zur Türe. Ich sah, wie sie ihren langen Zopf löste. Ihr Haar fiel sanft über ihre schmalen Schultern. Sie kehrte gebeugt zurück, Schneider, den Ortsgruppenführer, im Schlepptau.
Ihre Hände zitterten, als sie begann, ihr Haar zu flechten. Sie biss sich auf die Lippen.
„Heil Hitler“, schrie Schneider.
„Heil Hitler.“
Er klopfte mir auf die Schulter: „Junge, jetzt kommst du doch noch zu deinem Krieg. Volkssturm, Peter. Komm heut Abend um sieben Uhr zu mir und bring den Mathies mit.“
„Volkssturm?“
„Ihr werdet das Dorf verteidige, falls die Amerikaner sich hierher trauen. Eine große Aufgabe, Junge. Genau das Richtige für Mathies und dich.“
Ich nickte, meine Hände wurden feucht und das Schlucken fiel mir schwer.
„Hans“, seufzte meine Mutter. „Das ist verrückt! Wer seid ihr schon? Ein paar Kinder und alte Männer.“
„Wir sind Deutsche“, fuhr Schneider sie an und ging einen Schritt auf Mutter zu. Er hob die Hand, als wollte er sie schlagen.
„Halt dein Maul“, flüsterte er. „Weiber wie du zerreiben mit ihrem Geschwätz die Front von innen.“
Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, ihre Beine zitterten und sie starrte auf den Boden.
„Und vergifte den Peter nicht mit deinen Ideen.“
Sein Gesicht war dem ihren ganz nahe, eine von Mutters Haarsträhnen bewegte sich durch den Hauch seines Atems.
„Heil Hitler“, schrie er und wandte sich ab. Ich zuckte zusammen, als er die Tür mit einem lauten Knall in das Schloss warf. Mutter brach in Tränen aus.
Abends lief ich über die Felder zu Mathies. Er saß im Garten und schnitzte. Ich schwang mich über den Gartenzaun und erzählte ihm, was ich wusste. Er grinste und schnitt sich in die Hand. Das Blut tropfte auf den Boden, doch Mathies bemerkte nichts.
„Wir sind dabei, Peter!“, rief er und klopfte mir auf die Schulter.
Wir liefen los, durch den Wald, vorbei am Teich und Mathies schlug mit seinem Taschenmesser das Schilf ab.
„Mutter hat den ganzen Tag geweint“, sagte ich. „Sie will nicht, dass ich mitmache.“
„Deine Mutter ist komisch, Peter. Du darfst nicht auf sie hören.“
Er schwieg einen Moment. „Oma sagt, dass deine Mutter mit den Nerven am Ende ist. Du weißt schon, sie wird ein wenig verrückt.“
Ich wollte ihm sein Messer aus der Hand schlagen, doch ich riss mich zusammen. War es nicht genau das, was ich selbst manchmal dachte?
„Das liegt nur am Krieg“, sagte ich. „Sie wartet immer auf Nachricht von Vater.“
„Ich weiß“, sagte Mathies. „Komm, lass uns um die Wette laufen.“ Wir lachten, rannten los und die düstere Stimmung verflog.
Die Versammlung fand auf Schneiders schmutzigem Hinterhof statt. Gerümpel türmte sich in allen Ecken und doch fühlte ich mich wie in einer festlichen Halle.
Fast alle Männer des Dorfes hatten sich versammelt, aufgeregtes Stimmengewirr hing in der Luft.
Schneider räusperte sich: „Der Führer hat uns zum Volkssturm aufgerufen. Wir sind gefragt, unsere Dörfer zu verteidigen, sollten die Amerikaner eines Tages vor unserer Tür sehen.“ Er spuckte das Wort „Amerikaner“ aus und wir klatschten begeistert in die Hände.
„Es ist an uns, den Endsieg perfekt zu machen. Endsieg!“
Das Wort klang magisch und jagte mir Schauer über den Rücken. Schneider lief auf und ab wie ein General vor seinen Soldaten. Stolz richtete ich mich auf, die Sonne brach durch die Wolken und tauchte die Welt in ein goldenes Licht.
„Wir werden Geschichte schreiben“, schrie Schneider. Mathies stieß mich in die Seite und grinste. Ich stellte meinen Namen in Geschichtsbüchern vor. Generationen von Schülern würden ihn ehrfurchtsvoll in den Mund nehmen.
Schneiders Stimme verschwamm in mir und ich sah mich selbst als gefeierten Helden.
„Peter“, flüsterte Mathies und rüttelte mich sanft. „Wir bekommen Gewehre.“
Wir stellten uns in einer Reihe auf. Überall nur lachende Gesichter. Wir waren nicht länger die Daheimgebliebenen, sondern endlich ein Teil des Ganzen. Mathies hüpfte von einem Bein auf das andere.
Schneider drückte mir ein Gewehr in die Hand. Es war staubig und uralt. Enttäuscht wog ich die Waffe in meiner Hand und wischte den Staub an meiner Hose ab.
„Das ist nichts für Helden“, sagte ich leise zu Mathies.
„Ein Held ist man im Inneren. Sagt Oma.“
***
Einige Wochen später liefen Mathies und ich zum Teich. Wir liefen durch das Unterholz, der einzige Ort, an dem es ein wenig kühler war.
„Ich bin froh, dass ich wegkomme“, sagte ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. „Meine Mutter weint nur noch. Jeden Abend, wenn ich zu den Schießübungen gehe, legt sie sich ins Bett und schluchzt.“
„Manchmal glaube ich sowieso, dass nichts passiert.“ Mathies sah mich aus traurigen Augen an. „Wir werden keine Helden.“
Ich schüttelte den Kopf, versuchte die schwarzen Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. „Lass uns an etwas Schönes denken“, sagte Mathies.
Der Teich glitzerte träge in der Nachmittagssonne. Ein paar Frösche gaben ein müdes Quakkonzert. Wir setzten uns an das Ufer, zogen unsere Schuhe aus und wateten ein paar Schritte in das Wasser. Wir befeuchteten unsere Arme und Beine und Mathies begann, mich zu bespritzen. Ich jagte hinter ihm her, rutschte auf einem glitschigen Stein aus. Mein Gesicht war voller Algen, als ich mich aufrappelte. Mathies stand am Ufer und lachte.
„Das bekommst du zurück“, schrie ich.
„Ich habe eine Friedenspfeife bei mir“, antwortete er lachend, hob die Pfeife seines Vaters und ein Päckchen trockenen Tabaks in die Höhe.
„Wo hast du den Tabak her?“, fragte ich.
„Von Schneider. Hab seinen Hinterhof aufgeräumt.“
Ich watete aus dem Wasser, wir setzten uns auf einen Stein, nahe des Ufers, ließen unsere Beine in das Wasser baumeln und zogen abwechselnd an der Pfeife. Es fühlte sich wie ein normaler Sommertag an.
Ein lautes Donnern weckte mich auf. Verwirrt blickte ich mich um, sah zum Blätterdach der Bäume und begriff, dass wir am Teich eingeschlafen waren. Ein erneutes Donnern ließ mich zusammen zucken, die Wasseroberfläche zitterte. In der Ferne kreischten ein paar Raben.
„Mathies!“ Ich rüttelte ihn unsanft am Arm, er schlug träge die Augen auf und blinzelte gegen die Sonne. In diesem Moment kam das Geräusch wieder.
„Was ist das?“, fragte Mathies und war mit einem Schlag hellwach.
„Sind das Bomben?“ Meine Stimme klang hoch und schrill.
„Nein, hier nicht“, sagte Mathies entschieden. „Komm“, forderte er mich auf und begann, eine kleine Anhöhe hinaufzurobben. Meine Beine zitterten und es fiel mir schwer, ihm zu folgen. Schwindel erfasste mich. Ich wusste nicht, ob es die Angst oder die Hitze war.
„Mein Gott“, flüsterte Mathies. Er drehte sich in meine Richtung und starrte mich an.
Panzer. Dutzende. Sie kamen in einer langen Reihe über die Wiesen. Wie kleine Ameisen sahen die Soldaten aus, die ihnen folgten.
„Wir müssen in das Dorf“, sagte Mathies. „Alarm schlagen. Es ist soweit, Peter.“
Wir liefen gebückt durch das Unterholz. Zweige stachen in mein Gesicht, zerkratzen meinen Rücken. Ich fluchte kurz auf, als sich ein spitzer Stein in meine Ferse bohrte. Die Schuhe lagen vergessen am Teich.
Später standen wir mit unserer Truppe an der Straße zum Ortseingang. Erst jetzt fiel mir auf, wie wenige mir waren. Der alte Mann neben mir ratterte Gebete herunter. Einer meiner Klassenkameraden grinste vor sich hin. Mathies kaute auf seinen Lippen herum und Schneider wischte sich alle paar Sekunden mit einem Tuch seine feuchte Stirn hab.
Die Panzer tauchten als kleine Punkte in der Ferne auf und für einen Moment kam es mir vor, als stünde die Welt still. Ich hielt die Luft an, keiner rührte sich und selbst die Vögel schienen das Zwitschern eingestellt zu haben.
Das Gewehr fiel mir aus der Hand und landete mit einem lauten Scheppern auf dem Boden.
„Verdammt“, rief Schneider. „Reiß dich zusammen. Stellt euch gerade hin. Ihr seht aus, als würdet ihr gleich in die Hose scheißen. Die Amerikaner sollen Angst haben.“
„Wir sollten gehen“, flüsterte einer der Alten. „Wir können hier nichts machen.“
Schneider fuhr wütend herum, richtete sein Gewehr auf ihn. „Halt deinen Mund“, sagte er. „Ich schieß euch alle tot, wenn ihr so redet.“ Er fuchtelte mit einem Gewehr hin und her. Jemand stieß ein Wimmern aus.
„Jetzt ist die Stunde der Helden gekommen“, sagte Schneider. Ich hob meine Waffe auf, biss mir auf die Fingerknöchel und versuchte, mich zu beruhigen. Seine Worte gaben mir Kraft. Ich kämpfte Bilder nieder, in denen die Panzer uns überrollten und unsere Körper zu einer fleischigen Masse zerquetschten.
„Held“, flüsterte ich. Ein magisches Wort.
Sie kamen näher und näher. Die Erde unter meinen Füßen vibrierte leicht. Ich erwartete jeden Moment den ersten Schuss und das Warten darauf bereitete mir Übelkeit. Zum ersten Mal kam ich auf den Gedanken, dass ich sterben könnte. Oder Mathies. Ein Blick auf meinen Freund zeigte mir, dass alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen war. Er sah aus, als wollte er jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Mama, dachte ich. Es wäre schön, sie jetzt in die Arme nehmen zu können. Nur eine heiße Tasse Milch und sie könnte die Sorgen vertreiben.
Die Amerikaner kamen einige Meter vor uns zum Stehen. Sie könnten uns so leicht aus dem Weg räumen! Warum war mir nie aufgefallen, wie lächerlich klein unsere Truppe war?
„Macht den Weg frei“, schrie einer der Amis. Sein Akzent klang komisch. Schneider sah aus, als wollte er weglaufen. Niemand sagte einen Ton.
„Zieht eure Gewehre“, rief Schneider, seine Stimme zitterte. Zögernd hoben wir unsere Waffen. Einer der Amerikaner brach in lautes Gelächter aus.
Plötzlich – ein Schuss. Einer der Feinde strauchelte. Einen kurzen Moment konnte ich das Begreifen in seinem Gesicht sehen. Seine Uniform färbte sich in der Mitte rot. Er fiel zu Boden. Ich musste würgen und meinte, in der Luft den metallischen Blutgeruch wahrzunehmen.
„Ich wollte das nicht“, flüsterte der Alte neben mir.
„Wer war das?“, fragte der Übersetzer.
Niemand rührte sich. „Wir schießen euch alle tot.“
Mathies stieß ein lautes Wimmern aus und ich wollte den Alten neben mir nach vorne schieben. Der Amerikaner hob das Gewehr und zielte auf einen von uns.
„Ich war das“, flüsterte der Alte und trat einen Schritt nach vorne. In diesem Moment sah er nicht mehr alt aus. Erhobenen Hauptes lief er auf unsere Feinde zu. Ich schloss meine Augen, Mathies packte meinen Arm und krallte sich daran fest. Stille. Kein Schuss.
Ein Fremder trat nach vorne, packte den Alten und zerrte ihn in ihre Mitte. Unser Widerstand zerfiel und wir stoben in alle Richtungen davon.
Ich rannte die Dorfstraße entlang, wich springend Hindernissen aus. Tränen rannen über mein Gesicht, doch ich kümmerte mich nicht darum. Jeder Atemzug fühlte sich wie ein Messerstich in meine Lunge an. Ich wollte immer so weiterlaufen.
„Peter?“, hörte ich jemanden rufen. Keuchend blieb ich stehen. Das Blut rauschte hämmernd durch meine Ohren. Maria stand am Gartenzaun und sah mich aus großen Augen an.
„Was ist passiert?“, fragte sie. Ich wollte sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. Sie berührte mich sanft am Arm. Würgend erbrach ich mich in ihr Rosenbeet.
„Entschuldigung“, flüsterte ich. Sie sah mich nicht angewidert an, sie lächelte. Und mein Mund lächelte zurück.
Mutter erwartete mich im Garten. Sie rannte auf mich zu und schloss mich fest auf die Arme und drückte mich so fest an sich, dass ich keine Luft bekam. Ich sog ihren vertrauten Geruch ein und ließ es zu, dass sie mich immer wieder auf meine Wangen küsste. Sie bot mir ihren Arm an und wir gingen in das Haus. Schluchzend sank ich auf den Fußboden. Mutter kniete sich neben mich und strich mir über das Haar.
„Magst du Milch?“, fragte sie leise.
Ich nickte, obwohl ich wusste, dass Milch zu wenig war.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Dorf. Die Amerikaner durchsuchten jedes Haus und nahmen einige Männer mit. Sie mussten auf einen großen Lastwagen, was mit ihnen geschehen sollte, wusste keiner. Manche schafften Wertgegenstände in den Keller oder schickten die Kinder hinaus auf die Felder.
Zitternd saß ich in der Küche und wartete auf ihre Ankunft. Beinahe war es eine Erleichterung, als sie tatsächlich an unsere Tür klopften. Meine Mutter erhob sich seufzend.
„Es wird schon alles gut, Peter. Du hast nichts gemacht“, flüsterte sie.
Ich spähte aus dem Fenster und wollte abhauen. Vor unserem Haus standen einige Soldaten. Sie lachten, wie über einen guten Witz und klopften sich gegenseitig auf die Schulter. Einer von ihnen steckte sich eine Zigarette an.
Mutter kam mit zwei Amerikanern zurück. Ich erkannte den Übersetzer. Sie sahen mich scharf an und ich spürte, dass sie mich erkannten.
„Wer lebt hier?“, fragte der Amerikaner.
„Mein Sohn und ich. Sonst niemand“, sagte Mutter. Ihre Stimme klang hysterisch. „Er ist noch ein Kind. Er hat mit allem nichts zu tun. Wir sind nicht für Hitler.“
Der Amerikaner nickte. „Keine Sorge. Wir müssen ihr Haus durchsuchen. Ist das in Ordnung?“ Mutter nickte, drehte sich in meine Richtung und lächelte. Sie formte stumm die Worte: „Alles wird gut.“
Beinahe vorsichtig liefen die Amerikaner von Zimmer zu Zimmer. Sie öffneten Schränke und spähten hinein. Sie wollten den Keller sehen und einen Blick in den Dachboden werfen. An manchen Stellen klopften sie Wände ab.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte der Übersetzer und schüttelte Mutter die Hand. Er griff in seine Tasche, zog Schokolade heraus und reichte sie mir. Ich starrte auch dann noch auf die Tür, als sie längst weg waren. Fast wünschte ich mir, sie hätten irgendetwas kaputt gemacht.
***
Ein Schatten huschte durch mein Zimmer. Wild schlug ich um mich, fegte eine Tasse und ein Buch von meinem Nachttisch. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich, den Eindringling in meinem Zimmer zu erkennen.
„Peter!“, hörte ich Mathies Stimme. „Ich bin es doch nur.“
Stöhnend setzte ich mich auf: „Mathies? Was machst du?“
„Ich bin auf den Apfelbaum und von dem in dein Zimmer geklettert.“ Er grinste.
„Was ist los?“, fragte ich ihn. Mein Herz klopfte wild, ich schämte mich für meine schreckhafte Reaktion. Ich schlug mit der Faust in meine Bettdecke.
„Die Amis haben Schneider mitgenommen“, flüsterte Mathies und setzte sich neben mich. „Ohne ihn sind wir gar nichts, verstehst du? Einige wollen gar nicht mehr mitmachen.“ Mathies schwieg einen Moment, wandte sich ab und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Und ich wollte doch so gerne ein Held sein.“ Ich legte den Arm um ihn.
„Weißt du was, Mathies? Wir laufen morgen herum und fragen, wer noch dabei ist. Ich habe eine Idee.“ Es war eine Lüge.
„Ja?“, fragte Mathies.
„Ja.“
***
Am Ende waren wir noch zu fünft, Mathies, drei andere Jungen und ich. Sie sahen mich hoffnungsvoll an und warteten darauf, dass ich mit meinem großartigen Plan herausrückte.
Plötzlich musste ich lachen. Der Gedanke, wir könnten etwas ausrichten war komisch.
„Warum lachst du?“, fragte Mathies.
Wir sollten aufhören, wollte ich sagen. Vielleicht würden wir alles noch schlimmer machen. Ich öffnete den Mund, doch die Worte kamen nicht heraus.
„Wir werfen Granaten. Jeden Abend. Bis sie gehen.“ Einer der Jungen riss die Arme hoch und stieß einen langen Pfiff aus. „Peter! Das ist toll. Und wir brauchen nicht viele Leute. Zweiergruppen sind am Besten.“
Die Skepsis wich nun auch aus Mathies Gesicht und er grinste. „Peter und ich fangen an.“
***
Es war eine schöne Nacht. Mondenschein ließ die Felder silbern leuchten, irgendwo in der Nähe zirpte eine Grille. Im Lager der Amerikaner flackerte ein Lagerfeuer, ihre Stimmen, ihr Gelächter drang zu uns herüber.
„Es ist so hell“, fluchte Mathies leise. Wir bewegten uns robbend Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Immer wieder hielten wir inne und lauschten auf Schritte. Sie schienen nicht mit einem Angriff zu rechnen, glaubten unseren Widerstand zerschlagen.
„Das macht nichts. Wir kennen uns viel besser aus. Wir können in den Wald laufen, wenn sie uns finden.“ Meine Worte klangen mutiger als ich mich fühlte.
Es war immer noch möglich umzudrehen. Wir könnten den anderen sagen, dass zu viele Wachen dort waren. Immer, wenn ich dazu ansetzen wollte, sah ich Mathies strahlendes Gesicht und bewegte mich vorwärts.
Plötzlich ging alles ganz schnell. Wir rannten die letzten Meter in gebückter Haltung. Ich umarmte Mathies kurz und erwartete jeden Moment, einen Schuss zu hören.
„Eins, zwei, drei“, flüsterte Mathies und warf eine Granate in das Lager. Der Wurf ging daneben, war viel zu kurz und explodierte mit einem atemberaubenden Knall.
„Scheiße“, schrie Mathies und zerrte mich am Arm. Wir rannten eine Böschung herunter. Die Amerikaner strömten aus ihrem Lager und schossen wild um sich. Warnschüsse? Wir schlugen uns durch einen kleinen Wald, ein Zweig stach in mein Auge. Ein Blick über die Schulter zeigte mir, dass einige der Amerikaner in unsere Richtung liefen.
Mein Fuß verhakte sich in einer Wurzel.
„Peter?“, flüsterte Mathies und zog mich am Arm. Ich meinte ganz nah hinter uns Schritte zu hören und zerrte mit aller Kraft. Die Wurzel zerbrach und ich glaubte, der Lärm müsste im ganzen Dorf zu hören sein.
Nicht nachdenken, dachte ich. Einfach weiter. Immer weiter.
***
Mathies rannte polternd in unsere Küche. Mutter liess vor Schreck eine Tasse fallen.
„Unser Angriff hat die Amerikaner wütend gemacht. Sie haben die Brücke zum Nachbardorf gesprengt. Jemand hat erfahren, dass sie heute Abend die andere in die Luft jagen wollen. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Wir müssen da hin, Peter.“ Seine Stimme überschlug sich und er schnappte keuchend nach Luft. „Es wird Monate dauern, bis wir sie wiederaufgebaut habe. Wir können mit den Wagen nicht auf die weiter entfernten Felder, wir können kein Getreide zur Mühle bringen, nichts.“
Mutter schlug auf den Tisch: „Hört endlich auf! Ist nicht genug geschehen? Es ist fast ein Wunder, dass ihr noch lebt und jetzt wollt ihr weiter machen.“ Gestern Nacht hatte sie mich an der Haustür abgefangen und ich musste ihr alles erzählen.
„Wir dürfen nicht aufgeben. Jetzt nicht“, widersprach Mathies. Er sah meine Mutter ernst an und wirkte in diesem Moment wie ein Erwachsener. Er brachte sie zum Schweigen.
„Wir treffen uns um sieben Uhr in der Kirche bei der Brücke.“
Mathies wartete mein Nicken ab, dann stürmte er nach draußen. Vom Fenster aus konnte ich sehen, dass er in das Haus des Nachbarn ging.
***
Ich lief alleine zur Kirche. Die Vögel zwitscherten, als wäre es ein gewöhnlicher Tag. Ich ließ die warme Abendsonne auf mein Gesicht scheinen. Vielleicht war es das letzte Mal. Mein Blick schweifte zu dem Haus in dem Maria wohnte. Ich hoffte, sie im Garten zu entdecken, doch sie war nicht da.
Morgen bin ich tot, dachte ich. Ich kickte einen großen Stein vor mir her. Es tat weh, wenn ich mit meinen Sandalen zu fest dagegen schlug. Es fühlte sich gut an, lebendig.
In der Kirche befanden sich viele Männer. Jemand hatte auch die Leute aus dem Nachbardorf zusammengetrommelt.
„Sie sind schon in der Nähe der Brücke“, sagte einer. „Sie rechnen nicht mit uns. Das ist ein wichtiger Vorteil. Wir werden sie überrumpeln.“
Ich suchte Mathies und setzte mich neben ihn. Er hatte die Hände gefaltet und betete mit geschlossenen Augen.
Wir wollten zur Brücke, sobald es dunkel war. Die Minuten vergingen mit quälendem Warten. Gelegentlich konnte man ein Flüstern hören, doch die meiste Zeit war es still. Ich kramte ein Gebetbuch unter der Bank hervor und begann zu lesen. Die einzelnen Worte ergaben keinen Sinn und verschwammen vor meinem Auge. Hoffentlich geht alles schnell, dachte ich.
„Holt den Pfarrer“, sagte plötzlich jemand. „Ich möchte beichten.“
„So ein Blödsinn. Beichten! Das kannst du morgen machen.“
„Ich möchte beichten.“
„Ich auch“, schloss sich ein weiterer an.
„Komm Mathies, lauf zum Pfarrer.“
„Was ist hier los?“, polterte der Pfarrer, als er die Kirche betrat. „Das ist ein Gotteshaus.“ Jemand erklärte ihm flüsternd die Lage, er schwieg und ging in den Beichtstuhl.
„Wir haben nun alle gebeichtet“, sagte jemand. „Es ist jetzt an der Zeit...“, die Stimme brach. Schweigend erhoben wir uns. Mathies umarmte mich fest. Ich musste hart schlucken.
„Hört zu“, sagte der Pfarrer. „Lasst mich mit ihnen sprechen. Vielleicht hören sie auf mich.“
Jemand lachte auf: „Warum sollten sie auf dich hören? Womit willst du kämpfen? Mit dem Kreuz? Mit der Bibel? Die schießen auf dich, bevor du Amen sagen kannst.“
„Lasst es mich versuchen, gebt mir fünf Minuten.“
„Das ist einfach verrückt.“
„Bitte.“
„Geh.“
Der Pfarrer nickte uns zu. Seine Kutte wehte hinter ihm her, als er schnellen Schrittes die Kirche verließ. Ich konnte nicht anders, als ihn zu bewundern. Er war ein wahrer Held. Innen.
„Gleich knallt es. Der verrückte Kerl“, flüsterte jemand. Der erwartete Schuss blieb aus.
Niemand wusste, was der Pfarrer mit den Amerikaner besprochen hatte.
Die Brücke blieb stehen und am nächsten Tag fuhren sie weiter. Einige behaupten, dass sogar das der Verdienst des Pfarrers war.
Mutter lachte, als ich ihr davon erzählte.
„Jetzt kommt der Vater bestimmt bald“, sagte sie.
„Ja“, antwortete ich. Und diesmal glaubte ich es wirklich.