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Sonnenschein
Am frühen Morgen trat Cassie hinaus auf die Straße. Auch jetzt schon, noch vor Sonnenaufgang, lag eine drückende Hitze über der eintönigen Landschaft, eine Hitze die im Laufe des Tages unerträglich werden würde. Sie ärgerte sich, in diesem unbedeutendem Kaff die wertvolle Nacht verschwendet zu haben. Höchstens einige Stunden Fahrtzeit würden verbleiben, bis sie sich vor der sengenden Mittagssonne wieder verstecken musste. Sie konnte nur hoffen, in angemessener Zeit einen geeigneten Unterschlupf zu finden.
Immerhin hatte die letzte Nacht ihr unverhofften Reichtum eingebracht. Der Tank war voll, einige Ersatzkanister hatte sie auf dem Gepäckträger und anstelle der ehemaligen Satteltaschen an ihrem Motorrad befestigt, und ihre Jackentaschen waren vollgestopft mit Bündeln von Geldscheinen. Man konnte nie wissen, wofür das Zeug eventuell noch gut war. Die armen Schweine, die hinter ihr in der Tankstelle lagen, konnten mit dem Zeug ohnehin nichts mehr anfangen, sie waren tot. Cassie hatte die heruntergekommenen Männer nach einer kurzen verbalen Auseinandersetzung kurzentschlossen über den Haufen geschossen, einen nach dem anderen. Hastig schlang sie einige Wasserbeutel um den Lenker und schwang sich schließlich in den Sattel ihrer überladenen Maschine. Äußerlich bot sie den Anblick einer bildhübschen, entschlossenen und selbstsicheren jungen Frau. Ein genauer Beobachter hätte jedoch gesehen, dass ihre Hände unkontrolliert zitterten.
Mindestens 300 Meilen musste sie heute noch schaffen, bevor sie von der erbarmungslosen Sonne in die Schatten verbannt werden würde. Jeden Tag 300 Meilen, so hatte sie kalkuliert, und sie würde es gerade noch rechtzeitig zu ihrem Ziel schaffen. Sie raffte ihre weiten Gewänder, zog den Schleier enger um den Kopf, rückte die dunkle Schutzbrille zurecht und startete den Motor. Wenige Minuten später gab es nur noch die schnurgerade, von Sandverwehungen bedeckte Straße, die tote Wüste und den Horizont, der sich in grandioser Eintönigkeit vor ihr erstreckte. Das namenlose Kaff war bereits hinter Cassie im Hitzeflimmern verschwunden. Sie fuhr so schnell, wie der schlechte Untergrund es zuließ, und schon nach kurzer Zeit wurde der heiße Fahrtwind zu einem Brennen. Immer öfter musste sie kurze Pausen einlegen, um ihren Kopf und ihre Handschuhe mit Wasser zu übergießen, und selber einige Schlucke zu trinken. Sie wusste ganz genau, dass sie dabei nicht übertreiben durfte, aber trotzdem genug Flüssigkeit aufnahm, um nicht zu dehydrieren.
Endlich, nach einigen Stunden konzentrierter Fahrt, tauchte am Horizont eine Bergkette auf. Cassie konnte sie undeutlich im Dunst erkennen. Die Hitze war fast nicht mehr zu ertragen, und sie musste sich beeilen, wenn sie den Schutz der Berge noch rechtzeitig erreichen wollte. Und wenn sie dort war, galt es immer noch, ein Gebäude oder zumindest eine Höhle zu finden, wo sie Schutz finden konnte. Verzweifelt trieb sie den Motor der alten Suzuki in höhere Drehzahlregionen und versuchte das letzte bisschen Windschutz hinter der Verkleidungsscheibe zu finden. Sie liebte ihr Motorrad, hätte aber alles dafür gegeben, jetzt ein Auto mit Klimaanlage zu haben. Aber fahrbereite Autos gab es nicht mehr! Nicht hier draussen, in dieser Gluthölle. Die vernichtende Kraft der Sonne hatte keines überlebt, das nicht in Schutz gebracht worden war. Und ein Motorrad war einfach praktischer, es war wesentlich einfacher zu verstecken, brauchte nicht soviel Platz.
Aus dem Dunst vor Cassie schälten sich die undeutlichen Umrisse einiger Gebäude heraus. Eine Tankstelle, tot und verlassen. Sie drosselte das Tempo, als sie an den schäbigen Resten der Anlage vorbeifuhr. Mit geübtem Blick erkannte sie, dass es hier nichts mehr zu holen gab. Eine gewaltige Explosion hatte alles in Schutt und Asche gelegt. Menschliche und tierische Skelette und Leichenteile lagen verstreut auf dem Asphalt und es sah so aus, als ob hier schon vor Cassie einige Flüchtlinge alles geplündert hatten. Es wäre reine Zeitverschwendung, an diesem Ort eine Pause einzulegen. Nach einem Blick auf den Sonnenstand beschloss sie, weiterzufahren, ihr Glück zu versuchen. Es konnte nicht mehr weit sein bis zum Fuß der Berge, auch wenn es in der Wüste nicht einfach war, Entfernungen richtig einzuschätzen. Eine, vielleicht zwei Stunden blieben ihr noch, bis sie einen Unterschlupf für den Tag gefunden haben musste. Ein Blick auf den Kilometerzähler verriet ihr, dass sie rund 250 Meilen geschafft hatte. 50 musste sie heute noch fahren, um im Plan zu bleiben. Innerhalb dieser 50 Meilen müsste sich doch ein geeigneter Unterschupf finden lassen, so hoffte sie.
Die endlose Bergkette türmte sich bereits hoch über ihr auf, als Cassie die Suzuki auf dem Parkplatz eines alten Industriekomplexes ausrollen ließ. Sie parkte die Maschine im kärglichen Schatten des Hauptgebäudes, eine trügerische Sicherheit, wie sie wusste. Schatten alleine würde weder sie noch ihre Maschine nicht vor der Zerstörung retten, es musste schon eine dicke Schicht Beton zwischen ihr und der Sonnenstrahlung liegen, wenn Cassie den Rest des Tages überleben wollte.
Misstrauisch zog sie die altmodische Nadlerpistole unter ihrem improvisierten Beduinengewand hervor und begab sich zum Eingang der großen Halle. Im Inneren war es stockdunkel bis auf die wenigen Stellen, wo das Licht durch die zerstörten Oberlichter hereinfiel. Nach kurzer Suche stellte Cassie fest, dass die Halle menschenleer war. Es lag genügend Zeug herum, um die Suzuki darunter zu verstecken und zu ihrer Freude fand sie sogar eine Kellertreppe. Ein Keller war immer noch der optimale Platz, um sich vor der Hitze zu schützen. Langsam, mit gezogener Waffe schlich sie die Stufen hinab und stieß am Fuß der Treppe auf eine offenbar massive Stahltür. Die Tür öffnete sich quietschend und widerwillig, gab aber schließlich einen Spalt frei, der breit genug war, um Cassies schmalen Körper hindurchzulassen. Im Licht der Taschenlampe erkannte sie einen langen Korridor, von dem zu beiden Seiten weitere Räume abgingen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle Räume menschenleer waren, brachte sie schließlich ihr weniges Gepäck herunter und bereitete sich auf einen langen Tag vor. Sie zog sich aus, legte sich splitterfasernackt auf ihren Schlafsack, die Pistole auf der Brust.
Unterdessen verwandelte sich die Landschaft draussen in einen Glutofen. Die Strahlen einer unbarmherzigen Sonne suchten und fanden die letzten Überreste einer einstmals stolzen Zivilisation, zerstörten alles, gnadenlos und mit unterschiedsloser Gleichgültigkeit. Für ein andauerndes Überleben auf diesem Planeten gab es keine Chance mehr. Aber Cassie hatte einen Fluchtplan, eine letzte Möglichkeit dieser Hölle zu entkommen. Sie musste nur noch das Küstengebirge überwinden und bis übermorgen früh den Weg in die Stadt und zum Raumhafen finden, dann hätte sie es geschafft.
Cassie wachte auf, als sie Stimmen hörte. Raue, männliche Stimmen, laut polternd und selbstbewusst. Ihre Finger krampften sich um den Pistolengriff während der Schweiß ihr in die Augen biss. Tatsächlich waren oben in der Halle Menschen, sie liefen dort herum und kamen ganz eindeutig näher. Schritte ertönten von der Treppe, unvorsichtig und laut. Schließlich schob sich ein Schatten vor dem kaum helleren Hintergrund durch den Türschlitz. Eine Taschenlampe blitzte auf und warf ihren trüben Lichtkegel durch den Korridor. Cassie blieb bewegungslos liegen, sie traute sich kaum, zu atmen. Verschwinde, flehte sie den Eindringling lautlos an. Verschwinde, wenn dir dein Leben was wert ist! Doch dem Fremden schien nicht viel an seinem Leben zu liegen, den er drängte sich vollständig durch den schmalen Spalt und ließ sein Licht ziellos durch den Raum schweifen.
Oben in der Halle wurden jetzt einige erstaunte Stimmen laut, sie riefen etwas, das Cassie nicht verstand. Der Mann jedoch drehte sich um und verließ den Keller. Kaum hörte Cassie seine Schritte die Treppe hochhasten, erhob sie sich ebenfalls. Nackt wie sie war, schlich sie hinter dem Eindringling her und schob sich durch den Türspalt auf den Treppenabsatz. Sie hörte Wortfetzen einer Diskussion aus der Richtung, wo sie ihre Suzuki in einem kleinen Betonverschlag unter einer alten Plane versteckt hatte. Langsam arbeitete sie sich die Treppenstufen hoch, bis sie den Kopf über den Rand halten konnte. Tatsächlich hatten die Eindringlinge ihre Maschine gefunden und aus dem Verschlag herausgeschoben. Es waren vier Männer, grobschlächtige Kerle in ähnlichen abgerissenen Araberkostümen wie Cassie selbst eines trug. Etwas abseits standen zwei kleinere Gestalten, Frauen, eine von ihnen deutlich sichtbar schwanger. Die Frauen wirkten eingeschüchtert und ähnlich zerlumpt wie ihre männlichen Begleiter. Cassie musste sich wieder einmal vergegenwärtigen, dass sie selbst auch nicht gerade zivilisierter wirkte als die heruntergekommene Bande in der großen Halle.
Als sie sah, dass einer der Männer es sich auf der Sitzbank der Suzuki bequem machte und vergeblich versuchte, den Motor zu starten, wusste sie, dass sie nicht mehr länger warten durfte. Geschickt überwand sie die letzten Treppenstufen und schritt auf die Gruppe zu. Ihre Pistole hielt sie dabei im Anschlag. Die Fremden waren so mit ihrem Fund beschäftigt, dass sie Cassie erst bemerkten, als der erste von ihnen mit einem Aufschrei zu Boden ging. Sofort drehte sich der Rest von ihnen dem splitternackten Mädchen zu, das da plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen stand. Bevor sie nach ihren Waffen greifen konnten, brach schon der nächste Mann zusammen. Der dritte fummelte in seinem Gürtel nach einer Waffe, als sein Gesicht in blutige Splitter zerbrach. Mit einem Gurgeln zuckte er zu Boden, gefolgt von dem hilflos wirkenden Mann auf dem Motorrad.
Die beiden Frauen hatten sich nicht bewegt. Die Schwangere stieß eine Reihe hysterischer Kreischer aus, bis auch ihr Gesicht von einer Garbe winzigkleiner Nadlergeschosse zerfetzt wurde. Ihre Begleiterin stürzte sich währenddessen hinter einem kleinen Schutthaufen in Deckung. Cassie wusste nicht ob die Frau eventuell bewaffnet war und suchte die Deckung des Verschlages. Hinter ihr wurde der Boden von einigen Kugeln aufgerissen.
„Du Sau!“, ertönte eine schrille Stimme. „Ich mach dich fertig, du verdammte Nutte!“ Erneut peitschten einige Schüsse durch die Halle. Sie verpufften ungezielt und wirkungslos in irgendwelchen Pfeilern und Regalen. Cassie antwortete nicht. Angestrengt dachte sie nach, suchte einen Ausweg aus dieser unglücklichen Situation.
„Komm raus, du Sau! Ich schieß dir deinen kleinen Arsch weg!“ Dem Geschrei folgten weitere Schüsse. Das Aggressionspotential ihrer Gegenspielerin schien hoch zu sein, erkannte Cassie.
„Wo kommt ihr her?“, rief sie und bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Habt ihr ein Fahrzeug?“
„Das geht dich, verdammt noch mal, überhaupt nichts an!“ Dieses Mal folgten keine weiteren Schüsse. Die Frau schien sich einigermaßen unter Kontrolle gebracht zu haben.
„Ihr werdet ja wohl nicht zu Fuß durch die Wüste gelaufen zu sein!“, stellte Cassie fest.
„Nein, sind wir nicht!“
Es entstand eine Pause, während der Cassie einen kurzen Blick auf ihre Uhr warf. Es war schon späte Nacht, immer noch unangenehm heiß, aber kühler würde es nicht werden. Höchste Zeit, aufzubrechen. Sie musste sich jetzt sofort etwas einfallen lassen, anderenfalls hätte sie nicht mehr genügend Zeit, die Berge zu überqueren, bevor die Sonne ihr zerstörerisches Spiel von vorne begann. Sie überlegte fieberhaft. Die Pistole ihrer Gegnerin verfügte über mehr Reichweite und höhere Durchschlagskraft als Cassies Nadler, musste aber genau gezielt werden. Cassie schätzte ihren Nadler als Nahkampfwaffe, weil er über eine Streuwirkung verfügte und man auch mit ungezielten Schüssen einen Menschen tödlich verwunden konnte. Und Cassie war eine ausgezeichnete Schützin. Schließlich fasste sie einen Entschluß.
Sie feuerte einige Schüsse in Richtung des Schrotthaufens ab und nutzte die Zeit, schnell um die Ecke des Verschlages zu spurten. Schnell lief sie auf der Rückseite des Verschlages und spurtete in die Tiefen der Halle, immer bemüht in Deckung der vielen deckenhohen Regale zu bleiben. Mit ihren bloßen Füßen machte sie dabei so gut wie kein Geräusch. In einem Halbkreis näherte sie sich der Deckung ihrer Gegnerin von der Rückseite her. Nach einer halben Minute konnte sie den Stapel von Schrottteilen sehen, doch die Frau war verschwunden. Cassie zog sich in die Deckung eines Regales zurück. In der Dunkelheit der Halle verschmolz sie mit den noch dunkleren Schatten.
Langsam schlich sie weiter, stets darauf bedacht, unsichtbar zu bleiben und kein Geräusch zu machen. Jeden Moment rechnete sie damit, dass ihre Gegnerin von irgendwoher auf sie schießen würde. Doch dann hörte sie die schlappenden Geräusche von Sandalen, die sich draussen auf dem Parkplatz entfernten. Ohne weiter nachzudenken, nahm sie die Verfolgung auf. Nackt und barfuß wie sie war, kam sie erheblich schneller voran als die andere Frau, die von ihren schweren Gewändern und den unpraktischen Badelatschen behindert wurde. Glücklicherweise stand ein fast voller Mond am wolkenlosen Himmel und Cassie konnte die Gestalt der Frau auf dem Parkplatz sehen. Sie flüchtete in Richtung einer kleineren Halle und Cassie hätte sich ohrfeigen können, weil sie dort nicht nachgesehen hatte, bevor sie sich zur Ruhe begeben hatte. Dort musste das Fahrzeug der Bande stehen.
Die Frau verschwand durch eine Tür im Inneren der Halle, bevor Cassie in Schussreichweite an sie herangekomen war. Kurz darauf hörte sie einen startenden Motor. Mit quietschenden Reifen brach ein mittelgroßes Wohnmobil durch ein Garagentor aus der Halle. Cassie blieb wie angewurzelt stehen. Wie in Zeitlupe hob sie ihren Nadler und legte an. Das Wohnmobil steuerte genau auf sie zu und unangenehm blendeten die Scheinwerfer ihre Augen. Cassie bezweifelte, dass die Nadlergeschosse über genügend Durchschlagskraft verfügten, um die Frontscheibe des Wagens zu zerstören, also schoss sie auf die Vorderräder. Ein platzendes Geräusch kündete von ihrem Treffer. Das Fahrzeug brach zur Seite aus und rammte, immer noch beschleunigend, in einige Autowracks, die wild auf dem Parkplatz herumstanden. Schließlich kam es in einer Qualmwolke zum Stillstand, halbwegs auf der Motorhaube eines der Wracks. Mit wenigen Schritten überwand Cassie den Abstand und riss die Fahrertür des Wohnmobils auf.
Die fremde Frau hing stöhnend über dem Lenkrad. Die Windschutzscheibe war zersplittert und ihr Gesicht war blutüberströmt. Mit einem weiteren Schuss beendete Cassie das Stöhnen, ihr schmales Gesicht eine Maske der Trauer. Doch weinen konnte sie nicht. Nicht mehr.
Eine Viertelstunde später befand sie sich wieder auf der Straße. Sie hatte die Waffen der Toten an sich genommen, Munition, Nahrung und frische Wasservorräte. Der frühe Morgen war so heiß wie alle Tage, und das Vorwärtskommen war beschwerlich. Durch die vielen Serpentinen der Gebirgsstraßen war sie gezwungen, langsam zu fahren, und ausserdem bedeutete es, dass sie nicht mehr in direkter Richtung auf ihr Ziel zusteuerte. Jedoch hatte sie bereits am frühen Vormittag den Gebirgszug hinter sich gelassen und fuhr durch flaches Hügelland auf die Küste zu. Die ehemals fruchtige und grüne Landschaft hatte sich inzwischen ebenfalls in eine verdorrte Wüste verwandelt, in der es kein Leben mehr gab. Jedoch häuften sich die Anzeichen einer ehemaligen Zivilisation. Farmgebäude tauchten zu beiden Seiten der Straße auf und schließlich auch die ersten vereinzelten Dörfer. Allesamt menschenleere Ruinen, durch die Cassie schnellstmöglich hindurch hetzte. Hier gab es nichts für sie, ihr Ziel lag woanders.
Auf einem etwas höheren Hügel hielt sie kurz an, um einen Blick auf ihr Navigationsgerät zu werfen. Sie spürte die Versuchung, einfach weiterzufahren, ihre hektische Reise endlich hinter sich zu bringen. Die Ungeduld zerrte an ihr. Spätestens morgen Vormittag musste sie am Raumhafen sein, um ihre letzte Fluchtmöglichkeit nutzen zu können. Doch die schnell zunehmende Hitze, das verräterische Flimmern in der Luft, zeigten ihr, dass sie heute nicht mehr viel weiter kommen würde. Cassie musste bereits wieder nach einer Unterkunft für den Rest des Tages suchen. Sie hatte Glück, denn keine halbe Stunde später fand sie sich unter dem schützenden Beton eines verwüsteten Einkaufszentrums, das sowohl ihr, als auch der alten Suzuki einen halbwegs angenehmen Tag ermöglichte.
Gegen Mitternacht prüfte Cassie die Temperatur im Freien und beschloss, dass sie sich wieder auf den Weg machen konnte. Sie schob die Suzuki aus dem prächtigen Eingangsportal des Konsumtempels und setzte ihre Fahrt fort. Langsam und vorsichtig bugsierte sie ihr Gefährt durch die verdunkelten Straßen einer kleinen Stadt und beobachtete dabei misstrauisch ihre Umgebung. Plötzlich sprang eine Gruppe dunkler Gestalten hinter einer Häuserecke hervor. Mit wilden Schreien liefen sie auf Cassie zu und versuchten, ihr den Weg zu versperren. Die Straße war zu eng, um die Maschine schnell zu wenden, also drehte sie ohne Nachzudenken am Gasgriff. Mit aufbrüllendem Motor raste sie auf die angriffslustigen Männer zu – und mitten hindurch. Einige der Kerle sprangen in letzter Sekunde aus dem Weg, andere versuchten, sie mit Knüppeln zu schlagen. Cassie spürte schmerzhaft, wie eine Keule auf ihren linken Oberarm prallte und bekam einen Schlag an den Kopf, so dass die kurz sprichwörtlich die Sterne vor ihren Augen flimmern sah. Dann war sie wieder alleine. Mit schmerzverzerrtem Gesicht raste sie weiter. Ihre Augen schimmerten feucht, weinen konnte sie jedoch nicht.
Sie erreichte die ersten Ausläufer des komplett verdunkelten innerstädtischen Bereichs unbehelligt. In dieser einstmals stolzen Metropole gab es außer den unverwüstlichen Ratten und Kakerlaken kein Leben mehr. Immer öfter tauchten jetzt Leichen im Lichtkegel ihres Scheinwerfers auf, halbverwest und angefressen. Und Autowracks. Überall versperrten die verwüsteten Metallhaufen Cassie den Weg. Sie fluchte leise, weil sie nicht den Umweg über die Umgehungsstraße genommen hatte. Dort wäre sie besser vorangekommen.
Kurz darauf stand sie am Rande einer Sportanlage. Auf dem verdorrten Rasen stapelten sich die Leichen zu hunderten. Ein atemberaubender Gestank ging von diesem Ort aus. Cassie sah die entstellten Gesichter von Männern, Frauen und Kindern, viele ihrer Gesichtshaut und Augen beraubt, mit Bisswunden übersät. Sie wandte sich ab, fiel auf die Knie und erbrach sich würgend. Wie besessen sprang sie auf ihr Motorrad und flüchtete. Wilde Gedanken von Tod und Zerstörung schossen ihr durch den Kopf, sie fühlte sich wie eine Ausgestoßene, ein Alien, was sie ja gewissermaßen auch war. Sie drehte das Gas voll auf und raste in wildem Entsetzen in den Sonnenaufgang.
Das zarte Rosa des ersten Dämmerns war einem kühlen Orange gewichen und schließlich in das fast weiße Licht eines neuen heißen Tages übergegangen. Cassie befand sich auf der Ausfallstraße, die sie zur Küste und schließlich zum Shuttleport führen würde. Das war ihr Ziel, von dort würde die letzte Fähre starten. Die letzte Möglichkeit zur Mondstation zu kommen, und von da weiter zu dem gigantischen Transportschiff, das sie in eine ungewisse Zukunft auf einen fremden Planeten bringen würde. Hoffnung breitete sich in Cassie aus. Sie war Navigationsoffizierin, hatte alle benötigten Papiere und Genehmigungen. Cassie war eine „Offizielle“. Die Wachen würden sie auf das Gelände und zur Fähre lassen, ungeachtet ihres wilden Äußeren. Man würde sie sogar schon ungeduldig erwarten, denn sie war wichtig für die Mission. Zwar eine halbe Stunde zu spät, aber wichtig! Zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Reise, hatte sie ein zuversichtliches Gefühl und entspannte sich ein wenig.
Leer und verlassen breitete sich das riesige Landefeld vor Cassie aus. Keine Wachen hatten am Eingang gestanden um sie zu begrüßen, kein Mensch bewegte sich auf dem Flugfeld oder in den Terminals. Keine Fähre stand wartend bereit. Nur der unverwechselbare Ozongeruch kürzlich benutzter Triebwerke hing in der flimmernden Luft. Bestürzt rannte Cassie auf dem verlassenen Feld auf und ab, während die Erkenntnis langsam von ihr Besitz ergriff. Ungläubig starrte sie auf die vorrückenden Zeiger ihrer Armbanduhr. Eine halbe Stunde! Nach einer halsbrecherischen Flucht quer über den halben Kontinent, fehlten ihr lächerliche 30 Minuten – zum Überleben! Die Uhr wirkte auf Cassie wie ein mechanisches Todesurteil. Wütend riss sie das Armband auf und schleuderte die Uhr weit von sich. Mit hängendem Kopf schlich sie zurück ins Innere des Terminals.
Auf dem Tresen am Gate lag ein Blatt Papier, zu frisch und weiß um schon länger dort zu liegen. Niedergeschlagen hob sie das Blatt auf. Es war eine handschriftliche Notiz von Commander Blake. Jeff Blake, ihrem Vorgesetzten und besten Freund bei der Raumflotte:
Liebe Cassie,
es ist furchtbar, und glaube mir, die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen und hat mir fast das Herz gebrochen. Wir haben so lange gewartet, wie wir konnten, haben für dich gebetet und bis zur letzten Minute gehofft. Doch du weißt, dass wir das Startfenster nutzen müssen, dass wir uns keine weitere Verzögerung erlauben dürfen. Deshalb habe ich schweren Herzens den Befehl zum Start erteilt.
Wir wissen ja nicht einmal, ob du es überhaupt schaffst, den Shuttleport zu erreichen. Ich hoffe natürlich, dass du den Weg hierher unbeschadet überstanden hast. Und ich hoffe, dass du Verständnis für meine Entscheidung haben wirst. Nein, ich weiß es, denn du bist ein Profi.
In tiefster Zuneigung, dein Freund
Jeff
„Geh zum Teufel, Jeff Blake ...“
Cassie knüllte den Brief zusammen und ließ ihn unbeachtet auf die Bodenfliesen fallen. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, nur ihre Augen verrieten ungläubiges Entsetzen. Cassie zog die Nadlerpistole aus den Tiefen ihres Gewandes und ließ sich kraftlos am Tresen zu Boden rutschen. Sie richtete die Pistole genau auf ihr Gesicht. Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise weinte sie.
EDIT: Hier und da was rausgestrichen, auch was zugefügt, Grammatik verschlimmbessert.