Spätheimkehrer
Als einzige unter meinen Freunden kannte ich mit 6 Jahren immer noch nicht meinen Vater.
Meine Mutter fragte ich schon gar nicht mehr nach ihm. Brach sie doch jedes Mal in Tränen aus, wenn ich darauf zu sprechen kam.
„Dein Vater ist in russischer Kriegsgefangenschaft,“ klärte mich meine Oma knapp auf und fügte nach einer Weile hinzu: “Er kommt wieder heim,................wenn’s der Herrgott will.“
Ich wusste nicht was das Wort ‚Kriegsgefangenschaft’ bedeutete und schon gar nicht was der Herrgott damit zu tun hatte. Das Einzige, was ich verstand, war, dass es irgendwo da draußen einen Vater für mich geben musste.
Also prägte sich in mir allmählich ein Bild von einem Vater, wie ich ihn mir vorstellte. Vorbilder gab es hierfür in der Zeit nur wenige in meiner Familie. Einige Onkels waren im Krieg gefallen. Fragte ich meine Oma nach ihnen, schnäuzte sie sich immer in ihre Schürze. Die anderen hatte die Flucht weit weg verschlagen. Nur ein männliches Wesen kannte ich, das als Vaterfigur durchging, meinen Onkel Karl, der Bruder meiner Mutter, der eine eigene Familie hatte. Er kümmerte sich um uns, wann immer es etwas zu organisieren gab. Er versorgte uns mit Zentnersäcken voll Kartoffeln, transportierte in seinem Holzvergaser Lasten für uns, chauffierte Oma zu Verwandten und stutzte mich und meine Schwester an Vaterstatt auch mal zurecht. Ein stattlicher Mann war er, groß und kraftstrotzend, der wusste, was er wollte. Kurz: Ihn hatte ich im Geiste als Vaterfigur adoptiert.
Es kam der Tag, als ein Schreiben vom Roten Kreuz meine Familie in Glückstaumel versetzte. Kriegsheimkehrer kämen nach Hause, hieß es, und unser Vater sei dabei. An dem Tag, als der Zug die Heimkehrer bringen sollte, streifte Mama sich ihr einziges Kleid über, das ihr nach der Flucht noch geblieben war. Fadenscheinig und verblichen hing es über ihren Hüften, die vor dem Krieg offensichtlich fettere Tage gesehen hatten. Meine Schwester und mich wusch man mitten am Tag, was alleine den Tag schon zu etwas Besonderem machte. Onkel, Tante, Cousinen und mein 13 Jahre alter Cousin Fritz, alle machten sich mit uns auf den Weg zum Bahnhof, um den Spätheimkehrer willkommen zu heißen. Allen war er ein Vertrauter, außer mir, dessen Tochter ich nun sein sollte. Ich war stolz, nun auch endlich einen Vater zu haben und zugleich gespannt, wie er wohl sein mochte.
Es hätte keinen schöneren Sommertag geben können für eine Heimkehr. Unsere Familienprozession wanderte durch die in Ähren stehenden Felder Richtung Bahnhof, wo der Bahnsteig bereits mit Ehefrauen, Müttern, Töchtern und Söhnen gefüllt war, deren Herzklopfen ich hören konnte. Oder war es doch meines?
Wir passierten die Bahngleise und noch ehe wir sie alle überquert hatten, schloss sich die Schranke und meine Mutter und meine Tante blieben hinter der Absperrung zurück.
Ich war mit meinem hochgeschossenen Cousin Fritz voraus auf den Bahnsteig geeilt, als der jahrelang ersehnte Zug mit der geschwächten Fracht einfuhr. Unruhe verbreitete sich in der wartenden Menge, Hälse reckten sich, Mütter zogen Bilder von ihren Söhnen hervor. Vielleicht kannte ja einer der ehemaligen Kriegsgefangenen ihren vermissten Sohn. Als die ersten Männer ausstiegen, schaute ich ängstlich zu Fritz auf und fragte ihn, woran ich denn meinen Vater erkennen sollte. Da hob er mich hoch, damit ich über die Menschenmenge schauen konnte, zeigte auf einen Mann am anderen Ende des Bahnsteigs und meinte: “Der da, der ist es! Das ist Dein Vater.“ Fritz grinste dabei und ich war sicher, er würde mir wieder einen Streich spielen, denn der konnte es wirklich nicht sein. Dieser hatte ein schmales Gesicht mit eingefallenen Wangen. Nun, das hatten alle, die ausstiegen. Aber der hier war klein und schmächtig. Er wäre gerade mal so groß wie meine Mutter gewesen, dafür aber viel zierlicher gebaut als sie. Nein, Väter waren stattliche Männer und nicht so einer! Mama würde den Richtigen schon erkennen. Das stand außer Frage.
Inzwischen hatte meine Mutter uns eingeholt. Sie hastete schnurstracks an uns vorbei bis ans Ende des Bahnsteigs, wo dieser schmächtige Mann bereits mit offenen Armen auf sie zugestürmt kam. Meine Mutter warf sich in die Arme dieses Fremden und das mit einer Leidenschaft, die mir völlig unbekannt war. Mit offenem Mund starrte ich auf die wonnetrunkene Szene, die es in unserem Haus noch nie gegeben hatte, die sich so bisher nirgendwo vor meinen Augen abgespielt hatte. Ich vergaß zu atmen, hielt mir den Mund zu und dafür aber die Augen weit aufgerissen. Jetzt küssten sie sich leidenschaftlich und ich hatte noch nie einen solchen Kuss gesehen, nicht einmal im Kino. Er packte sie so fest um den Körper, dass ich Angst hatte, er würde ihr wehtun. Ich rannte los, um ihr zu Hilfe zu kommen, doch Fritz hielt mich am Arm zurück. Warum war meine Mutter so anders, als ich sie je erlebt hatte? Was machte dieser Mann mit ihr, dass sie so war? Dieses Männchen sollte mein Vater sein? Nein, sie musste sich geirrt haben.
Jetzt endlich drehte sich meine Mutter suchend nach uns um, und ich konnte erkennen, dass sie geweint hatte. Nun war ich mir sicher, dass dieser Mann sie gebissen hatte. Sonst hätte sie ja nicht geweint.
Dafür hasste ich ihn, und als meine Mutter mir meinen Vater vorstellte, blieb meine Hand hinter meinem Rücken festgeschweißt und mein Blick starr auf den Boden geheftet. So trödelte ich zwanzig Meter hinter der ansonsten glücklichen Familienprozession nach Hause. Die nächsten 6 Wochen bekam dieser Mann, der sich wie aus dem Nichts in das Herz und Bett meiner Mutter eingeschlichen hatte, keine Antwort von mir und mein Essen nahm ich unter dem Tisch ein.
Wir waren beide voneinander enttäuscht, nur dass er es sich nicht anmerken ließ. Wann ich mich wieder an den Tisch setzte und seine Fragen zuließ, daran kann ich mich nicht erinnern. Es kam wohl Schritt für Schritt, wie alles nach dem Krieg.