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- 06.07.2007
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Spiegel zeigen nur die Wahrheit
Er stand vor seinen dreckigen Spiegel im Badezimmer. Er schluchzte gequält, biss sich ängstlich auf der Unterlippe herum und überlegte verzweifelt. Doch je mehr Gedanken er sich um dieses Geschehnis machte, umso größer wurden diese Gedanken, sie wurzelten bis hin zur Besessenheit jetzt sofort sterben zu wollen. Die Tränen liefen über sein Gesicht und er schmeckte das Salz. Er schaute nach unten, als ob er sich schämte in sein eigenes Gesicht zu blicken, in seine eigenen smaragdgrünen Augen. Warum musste er so enden? Er hatte doch einen guten Realschulabschluss, er hatte ein gutes, wohlhabenes Elternhaus. Warum er damals von Zuhause weglaufen, weil ihm angeblich alles zu viel war. Was war ihm verdammt noch mal zuviel geworden? Es ging ihm dort gut. Aber das wollte er damals nich war haben und wollte unbedingt dieser Bande angehören. Hätte er all diese Sachen nicht getan, sehe sein Leben jetzt ganz anders aus, da war er sich sicher. Er hätte Perspektiven und Ziele gehabt. Vielleicht hätte er mit einer festen Freundin eine kleine Familie planen können. Doch stattdessen quälte er sich jeden Tag dazu, sich so zu verhalten wie es den anderen gefiel. Wild, vorlaut und gewalttätig. Hauptsache war, dass das was er tat schlecht war, mehr wollten sie nicht. Er kämpfte jeden Tag gegen den Hunger an, um nicht auf der Straße zu vollenden. Aber was sollte er schon tun? Sie waren sowas wie seine Familie. Sie sagten ihm, es würde ihnen allen irgendwann besser gehen. Aber warum taten sie so unmenschliche Dinge? Und warum ist er nicht einfach von ihnen gegangen? Es ging einfach zu weit.
Plötzlich stießen diese erschreckenden Bilder wieder in ihm hoch.
Er und fünf andere rempelten den Afrikaner auf dem Bahnsteig an. Einige der Gruppe schauten sich spitz um und bemerkten schnell, dass sie hier eine leichte Beute hatten. Aber er hatte ihnen doch eigentlich garnichts getan, stellte er plötzlich fest. Warum machte er hier eigentlich mit?
Der verängstigte Mann wollte wahrscheinlich nur nach Hause, in seine warme Wohnung, wo seine Frau und seine Kinder auf ihn warteten. Er wollte einfach nur in die Bahn und hatte niemanden von ihnen auch nur angeschaut. Warum fühlten sie sich von ihm so angegriffen? War es wirklich nur seine Hautfarbe? Nur diese eine kleine Unterschied? Warum mussten sie ihre Wut auf jemand anderen, jemand der unschuldig war, produzieren? Der Schwarze konnte auch nichts dafür, dass es ihnen so schlecht ging, dass sie auf der Straße lebten und hungerten. Sie selber waren schuld, sie selber hatten sich ihre Zukunft verbaut, durch Drogen, Alkohol und Faulheit. Sie sagten, sie wollten frei und unabhänig sein. Wo war aber die Freiheit und die Unabhänigkeit? Sie war nicht zu finden.
Plötzlich fiel der Mann zu Boden. Einer von ihnen trat ihm ins Gesicht. Der Ausländer zuckte und weinte leise. Schützend hob der Neger die Hände vor sein Gesicht. Jetzt schlug und trat die ganze Gruppe auf den Mann ein, ausser er. Er stand daneben, fassungslos, er fühlte sich als ob er träume und es tat ihm selbst, mit jedem Schlag den er sah, auch weh, dabei zu zusehen, wie skrupelllos sie ihn fertig machten. Aber was sollte er denn tun? Hätte er gesagt sie sollen aufhören, hätten sie ihn verstoßen und er wäre schließlich ganz allein. Er hatte Angst davor allein zu sein.
Nach ein paar Minuten sah er überall Blut, der Boden war wie mit einem roten Tuch überzogen.
Es sah schrecklich aus und noch immer warfen sich die Bandmitglieder wie hungrige, wilde Wölfe auf den Mann. Als der Neger sich nicht mehr regte, spuckten sie auf ihn. Einer von ihnen zog ihm seine Brieftasche aus der Jackentasche und alle staunten. Man sah etwas Teuflisches in ihren Augen aufblitzen. Doch er stand noch immer abseits wie ein Fels, er beobachtete den Neger und betete, dass er gleich wieder anfangen würde zu atmen. Doch nichts geschah.
Er blickte angsterfüllt zu seiner angeblichen Familie, die sich äußerst über ein paar Cents freuten und in die Richtung eines kleinen, schäbigen Supermarktes liefen, um Alkohol zu kaufen. Anders ertrugen sie ihr Leben nicht mehr, stellte er fest. Sie versuchten sich in der Öffentlichkeit stark darzustellen und mochten es wenn über sie, mal wieder, ein Bericht im Fernseher kam und sie hörten, wie hilflos doch alle gegen sie sind, doch eigentlich, und das bezweifelte er keinesfalls, waren sie innerlich genauso zerbrechlich und ängstlich wie alle anderen Bürger auch.
Er rief einen der Bande zu, dass er jetzt nach Hause gehe, er sei müde. Doch eigentlich war er erschüttert und feige.
Nach Hause, darunter verstand er nur eine kleine verkommene Hütte, die kalt und dreckig war.
Und dann machte er die Augen auf. Er starrte in sein ausdrucksloses Gesicht. Jetzt verarbeitete er die ganze Geschichte erst. Sie hatten jemanden umgebracht und er hatte nichts dagegen getan, weil er Angst davor hatte von ihnen allein gelassen zu werden. Er ekelte sich vor sich selbst. Aber er wusste ja nicht, dass es so weit gehen würde, versuchte er sich die Sache schön zu reden. Doch es half nicht.
Er sagte zu sich, es würde keinen Sinn mehr ergeben. Keiner vermisste ihn oder erwartete ihn in den nächsten Jahren. Keiner liebte ihn und seine Schein-Familie benutzte ihn nur, damit sie in der Gruppe mehr waren. Er war sich sicher, dass sich nichts in seinem Leben änder würde.
Vor Wut schlug er in den Spiegel und schrie auf. Als er seine Hand anschaute, sah er das warme Blut fließen. Doch er fühlte keinen wirklichen Schmerz.
Er bückte sich hinunter und nahm eine der Scherben auf. Er drehte seinen Arm und schaute angewidert auf seine pumpenden Adern. Nun zog er durch. Er wusste was er getan hatte und war erleichtert darüber. Langsam fiel er zu Boden und fühlte seinen heftigen Herzschlag. Glücklich dachte er an die Zeit zurück, als er noch bei seiner Familie lebte und schließlich atmete er ein letztes Mal ein.