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Spielwarenverkäufer

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26.08.2002
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Spielwarenverkäufer

Ich hatte in einem großen Spielwarenladen in der Innenstadt angerufen und mit dem Geschäftsführer, Fransenhans war sein Name, ein Vorstellungsgespräch vereinbart.
Ich betrat den Spielwarenladen anderntags mit einem guten Gefühl. Spielwaren: Das klang doch schon hervorragend.

Während ich noch damit beschäftigt war, im Eingangsbereich die Lage zu sondieren, lächelte mich eine Verkäuferin an. Ich fragte sie nach dem Geschäftsführer, und sie führte mich zu ihm.
Fransenhans, ein nett aussehender Kerl in feinem Anzug, begrüßte mich und begann, mich durch den Spielwarenladen zu dirigieren. Dabei erklärte er mir die Abteilungen. Nach einer Weile kamen wir an den Schachcomputern vorbei.

Das heißt: ich nicht.
Ich war Mitglied eines Schachclubs.
Ohne Umschweife verwickelte ich Fransenhans in ein Gespräch über Computer und über Schach. Ob es das neue Modul V schon gäbe, um wie viel stärker als das alte, Modul IV, es spielen könne und wie viele neue Eröffnungen in das theoretische Ersatzmodul aufgenommen worden seien im aktuellsten dieser Teile. Gleichzeitig genoss ich die Atmosphäre in dem Spielwarenladen.
Mittendrin bat er mich, ihn für ein paar Momente zu entschuldigen, er müsse kurz weg, mit einem Lieferanten sprechen. Er würde gleich wieder da sein. Ich sagte, ich habe sowieso Zeit, und schon einen Augenblick später hatte ich den vor mir stehenden Schachcomputer eingeschaltet und meinen ersten Zug ausgeführt. Fransenhans entfernte sich und war schnell vergessen. Ich kam gut aus der Eröffnung, und es entwickelte sich ein mit Bauernketten in der Mitte verzahntes Spiel. Fransenhans hätte nur meine Konzentration gestört.

Nach etwa einer halben Stunde hatte sich eine für mich aussichtsreiche Stellung ergeben, jedoch war ich noch am Grübeln, wie sie zu gewinnen war, da erblickte ich eine mir vertraute Person, die, wie sich rausstellte, rein zufällig im Laden war. Es war der Holzer-Erwin aus meinem Schachclub. Sofort war er bei mir am Brett, und wir begannen, die Lage zu analysieren. Holzer-Erwin unterstützte mich vor allem psychologisch. Zögerte ich bei der Ausführung eines Zugs, so sagte er: „Mach nur. Schauen wir mal, was passiert. Kann uns doch nix passieren. Is doch nix drin für den Computer.“
Während das Spiel seinem Ende zuging, bemerkte ich neben mir einen jungen Mann, der wohl schon vor geraumer Zeit ans Brett getreten war, und der mit aufmerksamer Miene unser Spiel verfolgte. Fransenhans war auch noch irgendwo in der Gegend, ich hatte ihn kurz aus den Augenwinkeln an einem Regal gegenüber erblickt, wie er interessiert zu uns herüberschaute.

Der neu Hinzugetretene analysierte jetzt mit. Ich kenne die theoretische Erklärung für Stammeln. Ich weiß, welche möglichen Ursachen mit ihren verschiedenen Wahrscheinlichkeiten es gibt, außer den unbekannten, auch verschiedene Therapien, die in Frage kommen, und die verschiedenen Grade, in denen Menschen normalerweise stammeln, aber der Mensch, der Holzer und mir in diesem Augenblick die Lage auf dem Brett erklärte, - er stammelte hundertprozentig. Im Grunde genommen war kein einziges Wort zu verstehen. Nach Spielende baute er die Figuren neu auf, stellte die Uhr auf Blitzstufe und forderte mich eifrig auf, noch mal gegen den Computer zu spielen, stammelnd und wild gestikulierend.

Wieder registrierte ich Fransenhans, und ich hatte das Gefühl, dass es irgendwie der Zeitpunkt war, mich um ihn zu kümmern. Auf meiner linken Seite sah ich die Verkäuferin, die mich so nett angelächelt hatte. Sie sagte: „Oh, da sind Sie! Nicht, dass Sie von Herrn Fransenhans vergessen worden sind! Kommen Sie mit, wir gehen zu ihm hinüber.“

Ich war im Begriff, zuzustimmen, zu Fransenhans hinüberzugehen, aber es wurde nichts draus.
Ich glaube, es kann nur an die dreißig Sekunden gedauert haben. Bis ich völlig von Menschen umringt war. Während mich von rechts ein Zeuge Jehovas ansprach, indem er mich fragte, ob ich wisse, wer der wahre König sei auf Erden, und mir erklärte, mein Spiel - ich hatte mit den weißen Figuren gespielt - sei symbolisch gewesen, es habe den hoffnungsfrohen Kampf zwischen Gut und Böse symbolisiert, aber leider nur auf dem Schachbrett, und dass es auch in meiner Seele geschehen müsse, währenddessen wiegesagt, erblickte ich meine Schwester, die weinend auf mich zulief und mir in die Arme fiel. Nachdem mir meine Schwester in die Arme gefallen war, nahm sich die Verkäuferin den Mut, mich zu fragen, ob ich Lust hätte, mal mit ihr essen zu gehen. Holzer wollte sich von mir verabschieden, was ihm nicht gelang, weil: Während ich versuchte, mich mit der Verkäuferin auf ein Date zu einigen, erzählte mir meine Schwester, dass ihr Mann, das elende Schwein, sie mit seiner Sekretärin betrogen hatte. Der Zeuge Jehova wollte mir das Buch „Der Weg zum Glück“ schenken, redete also offensichtlich aus diesem Grund auf mich ein, und gleichzeitig stammelte mich noch jemand an, der von mir erwartete, jetzt endlich gegen den Computer weiter zu spielen. Ich versuchte ihn zu ermutigen, doch selbst inzwischen gegen den Computer zu spielen, solange ich beschäftigt sei. Es nützte nichts: Der Stammler fiel auf die Knie und begann mich stammelnd anzuflehen, - während Holzer es geschafft hatte, meine Hand zu ergreifen und selbige nun kräftig schüttelte, „es wäre jetzt wirklich Zeit für ihn, zu gehen“.

Es ist mir nicht klar, wie es noch zum Gespräch mit Fransenhans kam. Jedenfalls fand es in seinem Büro statt. Er hatte mich die ganze Zeit über beobachtet. Ich entnahm seinem Gesichtsausdruck, dass er beeindruckt war.
Aber das habe er sich eigentlich schon gleich gedacht, als er mich gesehen habe, dass ich bestimmt sehr kommunikativ sei. „Und es hat sich ja bestätigt. Wie schnell Sie über das Medium Schach Kontakt zu Kunden, zu Menschen hergestellt haben. Sehr kommunikativ“, sagte Fransenhans.
Tatsächlich: Für ihn muss es so ausgesehen haben, als würden die gleich kaufen, die da um mich herum standen, meine Hände schüttelten, vor mir knieten oder mir weinend in den Armen lagen. Sogar eine hausangestellte Verkäuferin hätte ich, sagte Fransenhans, fast so weit gehabt, einen Schachcomputer zu kaufen.
„Sie haben den Job! Frauen verstehen nichts von Technik“, sagte er. „Sie haben die Abteilung lässig in drei Monaten übernommen.“

Ein paar Wochen später bin ich dann Würstelverkäufer geworden, - in einer ganz anderen Stadt.

 
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Hi FlicFlac

Das Thema dieser Geschichte ist schnell erkannt. Du spielst auf die Besorgnis erregende Entwicklung der Künstlichen Intelligenz an, speziell im Schach, und auf die Angst, die diese Entwicklung bei den Menschen auslöst.
Ähnliche Gedanken hatte wohl schon jeder von uns; akut ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drang diese Tatsache vor wenigen Jahren, als Kasparov die Nerven versagten und er gegen Deep Blue patzte.
Dennoch sagt mein gesunder Menschenverstand: Mag dieser Blechkasten seine 100 000 Stellungen pro Sekunde berechnen, menschliche Intuition und Kreativität werden ihm ewig überlegen sein. Subtil angedeutet wird dies hier:

Ich kam gut aus der Eröffnung, und es entwickelte sich ein mit Bauernketten in der Mitte verzahntes Geplänkel, das ein aufmerksames Positionsspiel erforderlich machte
Verzahnte Bauern, Positionsspiel - selbst der Laie erkennt, dass es sich hier um eine blockierte Stellung handelt. Und gegen Computer sollte man blockierte Stellungen anstreben, da sie diese nicht beherrschen, das bekommen in Russland die Kinder schon mit der Muttermilch eingetrichtert. Denn der Computer kann seine taktische Stärke nicht ausspielen und muss Strategien entwickeln. Genau jene Art von Stellung wird Kramnik im Match gegen Deep Fritz anstreben.
Uns so geschieht das Unglaubliche: Der Mensch schlägt den Computer und die Umwelt sinkt vor Ehrfurcht auf die Knie.

Ich hoffe, ich habe das richtig verstanden, schien mir bis jetzt relativ einfach. ;)

Allerdings möchte ich einige Ungenauigkeiten anmerken. Erstens besteht die Überlegenheit der Computer vor allem im PC-Bereich; auf einem Pentium hat der normale Vereinsspieler keine Chance mehr. Du aber sprichst von Brettcomputern, die bei weitem nicht so stark sind.
(Ich kenne mich mit Schachcomputern nicht aus, musste aber bei Modul V spontan an Mephistos MM IV mit Nachfolgemodul V denken. Was aber nicht ganz hinhaut, wäre dieser doch mit 1900 Elo durchaus schlagbar für normale Vereinsspieler.)

Übrigens vermisse ich eine Aussage über den Partieausgang!

Der entscheidende Fehler - falls du mir dieses harte Wort erlaubst - kommt später. Alle erstarren vor Ehrfurcht. Warum? Wenn einer sich nicht mit Schach auskennt, weiß er die Leistung doch gar nicht zu würdigen. Natürlich hat Gut (Mensch) gegen Böse (Computer) gewonnen, aber das weiß doch keiner. Der Normalbürger hat keine Ahnung vom Schach.

Nicht ganz klar wurde, warum er die Stellung ablehnt, hat ihn das Verhalten der Leute abgestoßen?

 

Du hast alles haargenau richtig analysiert, Glückwunsch!

MfG,
Flic

 

Hallo FlicFlac,

Deine Geschichte ist ein typisches Beispiel für den Einfluß von eigenen Erfahrungen auf die Beurteilung einer Geschichte. Wenn jemand mit Schachkomputern zu tun hat, kann er sich mehr aus dem Text herausholen, als ein Schachlaie.
Aber auch ohne Schachaffinitäten ist die Story interessant, der beschriebene Tumult, das Wortspiel mit dem König und der Zeuge Jehovas, der die Situation fehlinterpretierende Spielwarenboß - eine gut getroffene, lebendige Darstellung.

Tschüß... Woltochinon

 

Hi, Woltochinon

Ich kenne mich auch nicht mit Schach oder diversen Maschinen aus. Allerdings sollte jeder Schriftsteller über ein gewisses Maß an Allgemeinbildung verfügen und die vielen Geschichten hier bieten genug Anregung diese zu vertiefen.

Als was lag näher als das Stichwort in eine Suchmaschine einzugeben. Und keine zehn Minuten später konnte ich die Geschichte verstehen. Ist doch prima, wenn man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden kann ...

mfg

Stefan

 

He, jetzt habe ich durch wahlloses Surfen hier ja doch noch eine Geschichte von dir gefunden, die ich noch nicht kannte - zur Kritik:

Den Eingang fand ich ziemlich tröge ... aber das Finale fetzig:

Für ihn muss es so ausgesehen haben, als würden die gleich kaufen, die da um mich herum standen, meine Hände schüttelten, vor mir knieten oder mir weinend in den Armen lagen.

Das ist doch schön auf den Punkt gebracht.

@Quasimodo666
Ich vermute mal, weil ihn in einer "ganz anderen Stadt" ... niemand kennt?

 

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