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Sprungturm

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05.05.2014
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Sprungturm

Wir sitzen uns in der kleinen Küche unserer Wohnung gegenüber; ich drehe gerade Nudeln auf die Gabel, sie zieht sie schlürfend in sich hinein, guckt dabei auf die Enden der Spaghetti, wie sie sich schlängelnd ihrem Mund nähern, bevor sie unterhalb der Nase ihrem Blickfeld entschwinden. Draussen ist es schon dunkel, die Dämmerung hat den letzten Sonnenstrahl verschlungen.
Nach jedem Happen trinkt sie geräuschvoll einen Schluck Wasser. Mir ist in all den Jahren tatsächlich nie aufgefallen, wie unglaublich laut sie ist. Wenn sie betrunken ist, ist sie es, das weiss ich. Aber sonst? Vielleicht ist das auch eine neue Sache, dieses Schlürfen.
Das macht sie ab und zu, plötzlich irgendwas Neues anfangen, einfach so. Wie damals, eine Woche nach unserer Hochzeit, als sie plötzlich aufgehört hat, Bier und Drinks und Cocktails zu trinken; dabei hatte sie sich früher munter durch ganze Spirituosenläden getrunken in langen Samstagnächten. Und dann, von einem Tag auf den anderen, wollte sie wohl irgendwie seriös wirken.
Sie nimmt einen Schluck Rotwein, schlürft wieder. Komisches Wort, Schlürfen. Sie setzt das Glas ab und widmet sich wieder übertrieben aufmerksam den tanzenden Enden ihrer Nudeln. Ihr Blick ist schwer zu deuten. Er erinnert mich an meinen Bruder, der immer so geschaut hat, wenn wir im Sommer am See waren und auf den Sprungturm geklettert sind. Da oben hat er dann gestanden, manchmal stundenlang, während wir anderen immer wieder runtergesprungen und wieder hochgeklettert sind. Und immer hatte er diesen Ausdruck im Gesicht; Angst vor dem Sprung, aber auch ein winziger Funke Vorfreude auf den freien Fall. Schlussendlich sprang er immer.

Seit Tagen reden wir kaum noch, und wenn ich es versuche, weicht sie aus. Vielleicht sind mir die Geräusche deshalb jetzt erst aufgefallen, da es zwischen uns so ruhig geworden ist. Sie nippt an ihrem Glas. Das Sprudelwasser gluckert in ihrer Kehle.
«Was ist los, Mirjam?», frage ich. Es klingt ernster als gewollt. Sie schaut kurz auf und stellt das Glas auf den Tisch.
«Du weichst mir aus, du redest kaum mehr. Irgendwas ist doch.»
Etwas Tomatensosse klebt in ihren Mundwinkeln, sie wischt sie weg.
Ruhe. Ich warte.
«Es ist …», beginnt sie und verstummt wieder. «Es ist … schwierig.»
Wieder Ruhe, wieder warten. Aber sie hat schon zu viel gesagt.
Schliesslich sagt sie: «Weisst du noch, dieses Gedicht, dass du vor Jahren für Marie geschrieben hast? Es kommt mir in letzter Zeit so oft in den Sinn.»
Es ist wirklich erstaunlich, wie man irgendwann, wenn man sich lange genug kennt, miteinander sprechen kann, ohne etwas zu sagen. Es braucht nicht mehr als diesen Satz; wir beide wissen, dass es nicht um Marie geht. Und auch nicht um dieses Gedicht.
«Das hat mir von allen immer am besten gefallen», sagt sie und spricht zögerlich weiter, aber ich bin mit den Gedanken schon weit fort.
Bin wieder in Panama, wo wir vor Jahren zusammen auf Reisen waren, als mich die Nachricht erreicht hat, dass Grossmutter Marie gestorben ist. Ich weiss noch, wie ich mich schämte, als ich davon erfuhr. Ich schämte mich, dass mich ihr Tod nicht mehr aufwühlte als ein ganz klein wenig. Also tat ich, was ich immer tue, wenn mich etwas beschäftigt, und schrieb. Schrieb ihr ein Gedicht.
Jetzt, wo Mirjam es erwähnt, beginne ich mich zu erinnern, an diesen Abschnitt, den sie schon damals so bitterschön gefunden hatte. An diesen Abschnitt, der die Lücke beschreibt zwischen dem, was ist und dem, was man fühlt.
Dem, was man fühlen sollte und nicht kann.
Mirjam hat aufgehört zu reden und ich wundere mich, ob sie die Stelle wohl zitiert hat oder nicht, ein gutes Gedächtnis hatte sie schliesslich schon immer. Und ich war schon immer ein schlechter Zuhörer.

Komisches Gefühl, sich so von aussen zu sehen, als stünde man neben sich und sähe die Welt untergehen, ganz so, als ginge es einen gar nichts an.
Sie schaut wieder starr auf ihren Teller, eine Träne kullert lautlos ihre Wange herunter. Mir schnürt sich der Hals zu.

Wäre er doch nur ein einziges Mal nicht gesprungen, nur ein Mal nicht;
man hält es wohl einfach nicht aus.

 

Hej Lollygag,

am meisten beeindruckt mich, dass der Autor Stille transportieren konnte. Ich höre ebenfalls nichts und lausche bloß angestrengt den Gedanken des Protagonisten. Und bin überrascht, weil Vieles davon so wenig zu einander passen will, z. B wie er Mirjam wahrnimmt und dann aber dennoch melancholisch über sie denkt, wie er Verbindungen schafft, die so lose sind, dass ich als Leserin sofort spüre: das hält nicht.

Ganz wunderbar zeichnest du das Ende einer Ehe, oder doch bloß eine neue Wende? Es würde ja zu Mirjam passen. Sie hört auf, in dieser Form mit dem Mann zu leben und beginnt eine neue Ebene. Wie eben mit dem Alkohol. Dann diese (fürchterliche) Vertrautheit, wo alles, was man nicht sagt nahezu mehr Gewicht hat, als das Gesagte und nicht mehr rückgängig zu machen ist, zu einem unmissverständlichen Konsens führt. Ganz wunderbar. Ich bin sehr berührt.

Dann der Vergleich mit dem Bruder und dem Sprung.
Ich glaube ja, Mirjam springt auch, und es gut für sie beide.

Vielen Dank für diese wundervolle Szene und freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo Lollygag,

herzlich Willkommen hier.

Der Titel führte mich erstmal auf die falsche Spur, in welche Richtung deine Geschichte gehen könnte. Ich denke da an Jugendgeschichten (die es hier auch gibt, in der so ein Turm eine Rolle spielt). Ist das nun mein Problem, weil ich da nicht offen genug bin oder täte es der Geschichte tatsächlich besser, wenn er so diffus wie der Status der Beziehung wäre?

Wir sitzen uns in der kleinen Küche unserer Wohnung gegenüber;
braucht es das unserer Wohnung?
Draussen ist es schon dunkel, die Dämmerung hat den letzten Sonnenstrahl verschlungen.
das wirkt mir zu gewollt literarisch und passt meines Empfindens nicht zum Rest des Schreibstils.

Wie damals, eine Woche nach unserer Hochzeit, als sie plötzlich aufgehört hat, Bier und Drinks und Cocktails zu trinken; dabei hatte sie sich früher munter durch ganze Spirituosenläden getrunken in langen Samstagnächten.
getrunken Wortwiederholung und die Satzstellung würde ich ändern (in langen Samstagnächten vor das Verb)

Und dann, von einem Tag auf den anderen, wollte sie wohl irgendwie seriös wirken.
Füllwörter würde ich meiden.
Auf wohl irgendwie kann man verzichten.

Die Stimmung der Beiden, das Wissen um die Gedanken des Anderen, all das hast du für mich sehr schön aufgezeigt und lässt mich vermuten, dass du schon einige Lebenserfahrung hast.
Du schreibst auch sehr flüssig und angenehm.

Mir gefällt auch, dass du Semikolons einsetzt, ich mag das gerne.
Die Szene der Beiden hat mir insgesamt sehr gut gefallen.
Da freue ich mich auf Weiteres.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo Lollygag,

Ich finde, Deine Geschichte ist wunderbar erzählt. Ob ein all zu langes Schweigen (des Erzählers) die Beziehung der beiden ins Abseits geführt hat? Könnte ich mir vorstellen.
Jedenfalls: Die Trauer und Trostlosigkeit, die das Paar umgibt, hat mich berührt.

Weiter so!
niebla

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Lollygag,

am Anfang ist das ziemlich - Verzeihung! - schlappes Gelaber, da ist es fast überraschend, wie gut der Text zum Ende hin noch wird. "Gelaber" erlaube ich mir frecherweise zu sagen, weil ich das eben lese und mir denke: warum soll mich das interessieren, wie die Spaghetti dem Blickfeld entschwinden? usw. Dabei kann ich mir noch dazu schwer vorstellen, wie sie sich übertrieben aufmerksam den Enden der Nudeln widmet. Wenn es ein Kind wäre, das mit dem Schlürfen spielt, dann ja. Aber eine gestandene Frau?! Und schließlich:

Ihr Blick ist schwer zu deuten.
Kann ja sein. Nur: warum macht sich der Ich-Erzähler überhaupt daran, den Blick zu deuten? Ich habe meistens nicht den Verdacht, dass die Blicke der Leute, die mir gegenüber Spaghetti essen, besonders bedeutungsvoll sind. Warum hat er dann den Verdacht? Weil sie sich übertrieben aufmerksam den Enden der Nudeln widmet? Vielleicht dachtest du das so, aber ob das wirklich die Geste ist, die einen dazu veranlasst, beim Gegenüber Sorgen zu vermuten?

manchmal stundenlang
Das ist seeehr lang. Minuten sind auch viel und wären glaubwürdiger.

wir beide wissen, dass es nicht um Marie geht. Und auch nicht um dieses Gedicht.
Ein bisschen schade finde ich ja, obwohl ich doch eigentlich ein Rätselfreund bin, dass ich nicht weiß, worum es ihr geht. Es könnte sein, dass sie der Ehe überdrüssig ist, aber das fände ich erstens etwas zu allgemein und zweitens schwer mit dem Gedicht in Verbindung zu bringen.

Dem, was man fühlen sollte und nicht kann.
Da stimmt der Bezug wohl nicht ganz: Die Lücke zwischen dem - das steht ja aus dem vorangehenden Satz noch im Raum - was man fühlen sollte und nicht kann. Das wäre genau genommen die Lücke zwischen einer Sache und ihr selbst ...

Hier:

Mirjam hat aufgehört zu reden und ich wundere mich, ob sie die Stelle wohl zitiert hat oder nicht, ein gutes Gedächtnis hatte sie schliesslich schon immer. Und ich war schon immer ein schlechter Zuhörer.
finde ich die Erklärungen nach dem zweiten Komma zu viel. Ich würde nach "oder nicht" enden.

Sie schaut wieder starr auf ihren Teller, eine Träne kullert lautlos ihre Wange herunter.
Was hat sie nur, die Arme?

Den Schluss verstehe ich nicht:

Wäre er doch nur ein einziges Mal nicht gesprungen, nur ein Mal nicht;
man hält es wohl einfach nicht aus.
Das klingt zwar ganz gut. Aber warum hätte er denn nicht springen sollen? Und was hat das mit der aktuellen Situation zu tun?

Das sind soweit meine Fragen. So offen finde ich das ein bisschen übertrieben, ein bisschen zu bedeutungsvoll raunend, während gar nichts Konkretes verhandelt wird. Dabei denke ich aber, dass es nicht einmal viel bräuchte, so dass du den Raum, den du aufmachst, auch zu füllen einlädst. Voraussetzung wäre natürlich, dass du eine Idee hast, was die gute Frau so bedrückt. Aber daran zweifle ich eigentlich nicht - und hätte sogar die zuversichtliche Hoffnung, dass dir mehr vorschwebt, als nur die üblichen Längen des langen Beisammenseins.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

Hey Lollygag,


mir gefällt der Text im Großen und Ganzen.
Mehr schreibe ich erst mal nicht, da ich nicht weiß, inwieweit du überhaupt an Textarbeit oder näherer Auseinandersetzung interessiert bist.

Mir war anfangs gar nicht bewusst, dass ich schon einen Text von dir gelesen und kommentiert habe. Über dein Profil wurde ich erst fündig und erinnere mich auch wieder daran, weshalb ich den Komm hier jetzt einfach mal so stehen lasse.
Vielleicht reicht dir das ja auch.


Danke fürs Hochladen!


hell

 

Hallo Lollygag,

ein angenehm zu lesender, kurzer Text ist dir da gelungen. Dein Schreibstil ist simpel und weist keine Stolpersteine für den Leser auf. Allein das ist schon mal ein Pluspunkt. Umgehauen hat mich dein Text nicht, aber ich glaube das war auch garnicht dein Ziel, denn dafür ist er auch zu kurz. Stattdessen transportierst du die Botschaft der Handlung, ähnlich wie das Ehepaar in deiner Geschichte, ohne sie explizit zu schildern. Das macht deinen Text aus meiner Sicht besonders, denn diese Art der Schreibkunst ist garnicht mal so einfach. Hat mir gefallen!

Gruß

Dave.

 

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