Station Yarmy
Wie leergefegt war sie. Station Yarmy war klein. Grau. Heruntergekommen, doch sie tat, wozu sie gebaut worden war. Hubbeförderungen, Tanklager. Sie transportierte Soldaten, Verletzte, Kriegsgefangene und Evakuierte. Oder die gewöhnlichen Bürger des Norden Kasachstans aus dem Jahre 1946. Der Krieg war vorbei. Doch er hinterließ Spuren.
Sie stand am Steg. Ihre dichten, schwarzen Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten, die durch ein rotes Band gehalten wurden. Ein Geschenk ihres Patenonkels zur Taufe, an die sie sich nicht mehr erinnerte. Ihre nackten Fußsohlen berührten den dreckigen Asphalt. Sie wackelte mit ihren kleinen Zehen hin und her und sammelte weiteren Staub und Dreck mit ihnen auf, der sie noch bis nach Petropawlowsk begleiten würde. Der Zug – er sollte bald eintreffen. Sie wartete schon sein 20 Minuten. Vielleicht schon seit einer halben Stunde oder mehr. Geduldig, ohne ein Gefühl für die Uhrzeit.
Raissa ist 7 Jahre alt gewesen als ihr Vater in die Arbeitsarmee einberufen wurde. Ein großer, gut aussehender Mann mit einem gutmütigen Herzen. An viel erinnerte sie sich nicht. Hunger und Kälte hatten ihn ihr ein Jahr später, viel zu früh, genommen.
Jetzt war sie 11 und es war Anfang August. Eigentlich war der Sommer da, um mit Freunden in den umliegenden Sümpfen zu baden, Waldbeeren zu sammeln, sich im Wald zu verlaufen und die Felder zu erkunden. Dieses Sommer war es anders. Seit Monaten war es das gleiche Spiel. Sie fuhr für 4 Tage nach Petropawlowsk – Onkel Mischa war froh, wenn er sie wieder loswurde – um dann wieder nach Poludino, ihr Heimatdorf zurückzukehren. Sie hätte wütend sein können. Vielleicht war sie es auch? Aber was brachte ihr die Wut? Nichts konnte sie an der Situation ändern.
Die ersten 11 Jahre ihres Lebens wohnte sie im Erdhaus ihrer Eltern. Es ist überdacht gewesen. Ein Zimmer, eine Küche, ein ergiebiger Garten mit Tieren, die ihnen ihr Überleben ermöglichten. In Poludino gab es keine Läden. Wer leben wollte, musste sich darum kümmern. Unkraut jäten, Kartoffeln anbauen, den Haushalt stemmen. Aufgaben, die ihrer strengen und fleißigen Mutter auf den Schultern gelastet haben. Sie ist ihr nie eine gute Gehilfin, immer eine schwache Helferin gewesen. Doch nun, musste sie stark sein. Ihre Kindheit – das hatte sie auf so bittere Weise feststellen müssen – war vorbei.
Sie umklammerte den schwarzen Henkel ihres gelben Rucksacks, den ihre Mutter ihr zur Einschulung genäht hatte, als würde er sie davon abhalten, zu fallen. Die kleinen Finger verkrampften schon, doch sie hielt ihn weiter fest. Der Blick starr nach vorne gerichtet. Ja nicht zur Seite schauen. Sich anmerken lassen, dass sie mit den Tränen kämpfte. Dass sie Angst hatte. Beruhigend war der Gedanke an die Ikone ihrer Mutter, die sich unter ihren wenigen Habseligkeiten im Inneren des Rucksack befand. Sie wiederholte den Segen für ihre Reise, wie ein Mantra. Immer und immer wieder, bis sie vergas, was sie erwartete. Ungewissheit.
Sie schloss die Augen. Die Stimmen und Geräusche verstummten. Sie war allein. Und sie dachte vielleicht, dass sie das immer bleiben würde. Dem war nicht so. An der Station Yarmy, wusste sie nicht, wie ihr Leben verlaufen würde. Dass sie wenige Jahre später bei einer Familie leben und als Kindermädchen arbeiten würde. Dass sie danach eine Berufsschule beenden würde, um Maschinen in einer Holzbearbeitungsfabrik zu bedienen. Dass sie eines Tages nach Deutschland auswandern würde – zusammen mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Enkelkindern. Dass sie ihre sieben Enkel und zwei Urenkel erleben würde. Dass sie weich und geliebt sein würde – nicht allein.
Das Geräusch der herannahenden Eisenbahn riss sie aus ihrer Trance. Die Gleise rüttelten. Sie wackelten. Raissa öffnete ihre Augen und erkannte, dass der Steg sie gefüllt hatte. Geschäftige Hausfrauen. Kinder. Männer in legeren Anzügen oder Uniformen. Als der klapperige Zug vor ihr zum Stehen kam, stieg sie ein und blickte nicht zurück. Früh genug würde sie hier wieder stehen. Sich Mut zureden. Die Angst unterdrücken, um stattdessen so etwas wie Hoffnung zu verspüren.