Was ist neu

Station Yarmy

Mitglied
Beitritt
05.01.2023
Beiträge
2

Station Yarmy

Wie leergefegt war sie. Station Yarmy war klein. Grau. Heruntergekommen, doch sie tat, wozu sie gebaut worden war. Hubbeförderungen, Tanklager. Sie transportierte Soldaten, Verletzte, Kriegsgefangene und Evakuierte. Oder die gewöhnlichen Bürger des Norden Kasachstans aus dem Jahre 1946. Der Krieg war vorbei. Doch er hinterließ Spuren.

Sie stand am Steg. Ihre dichten, schwarzen Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten, die durch ein rotes Band gehalten wurden. Ein Geschenk ihres Patenonkels zur Taufe, an die sie sich nicht mehr erinnerte. Ihre nackten Fußsohlen berührten den dreckigen Asphalt. Sie wackelte mit ihren kleinen Zehen hin und her und sammelte weiteren Staub und Dreck mit ihnen auf, der sie noch bis nach Petropawlowsk begleiten würde. Der Zug – er sollte bald eintreffen. Sie wartete schon sein 20 Minuten. Vielleicht schon seit einer halben Stunde oder mehr. Geduldig, ohne ein Gefühl für die Uhrzeit.

Raissa ist 7 Jahre alt gewesen als ihr Vater in die Arbeitsarmee einberufen wurde. Ein großer, gut aussehender Mann mit einem gutmütigen Herzen. An viel erinnerte sie sich nicht. Hunger und Kälte hatten ihn ihr ein Jahr später, viel zu früh, genommen.

Jetzt war sie 11 und es war Anfang August. Eigentlich war der Sommer da, um mit Freunden in den umliegenden Sümpfen zu baden, Waldbeeren zu sammeln, sich im Wald zu verlaufen und die Felder zu erkunden. Dieses Sommer war es anders. Seit Monaten war es das gleiche Spiel. Sie fuhr für 4 Tage nach Petropawlowsk – Onkel Mischa war froh, wenn er sie wieder loswurde – um dann wieder nach Poludino, ihr Heimatdorf zurückzukehren. Sie hätte wütend sein können. Vielleicht war sie es auch? Aber was brachte ihr die Wut? Nichts konnte sie an der Situation ändern.

Die ersten 11 Jahre ihres Lebens wohnte sie im Erdhaus ihrer Eltern. Es ist überdacht gewesen. Ein Zimmer, eine Küche, ein ergiebiger Garten mit Tieren, die ihnen ihr Überleben ermöglichten. In Poludino gab es keine Läden. Wer leben wollte, musste sich darum kümmern. Unkraut jäten, Kartoffeln anbauen, den Haushalt stemmen. Aufgaben, die ihrer strengen und fleißigen Mutter auf den Schultern gelastet haben. Sie ist ihr nie eine gute Gehilfin, immer eine schwache Helferin gewesen. Doch nun, musste sie stark sein. Ihre Kindheit – das hatte sie auf so bittere Weise feststellen müssen – war vorbei.

Sie umklammerte den schwarzen Henkel ihres gelben Rucksacks, den ihre Mutter ihr zur Einschulung genäht hatte, als würde er sie davon abhalten, zu fallen. Die kleinen Finger verkrampften schon, doch sie hielt ihn weiter fest. Der Blick starr nach vorne gerichtet. Ja nicht zur Seite schauen. Sich anmerken lassen, dass sie mit den Tränen kämpfte. Dass sie Angst hatte. Beruhigend war der Gedanke an die Ikone ihrer Mutter, die sich unter ihren wenigen Habseligkeiten im Inneren des Rucksack befand. Sie wiederholte den Segen für ihre Reise, wie ein Mantra. Immer und immer wieder, bis sie vergas, was sie erwartete. Ungewissheit.

Sie schloss die Augen. Die Stimmen und Geräusche verstummten. Sie war allein. Und sie dachte vielleicht, dass sie das immer bleiben würde. Dem war nicht so. An der Station Yarmy, wusste sie nicht, wie ihr Leben verlaufen würde. Dass sie wenige Jahre später bei einer Familie leben und als Kindermädchen arbeiten würde. Dass sie danach eine Berufsschule beenden würde, um Maschinen in einer Holzbearbeitungsfabrik zu bedienen. Dass sie eines Tages nach Deutschland auswandern würde – zusammen mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Enkelkindern. Dass sie ihre sieben Enkel und zwei Urenkel erleben würde. Dass sie weich und geliebt sein würde – nicht allein.

Das Geräusch der herannahenden Eisenbahn riss sie aus ihrer Trance. Die Gleise rüttelten. Sie wackelten. Raissa öffnete ihre Augen und erkannte, dass der Steg sie gefüllt hatte. Geschäftige Hausfrauen. Kinder. Männer in legeren Anzügen oder Uniformen. Als der klapperige Zug vor ihr zum Stehen kam, stieg sie ein und blickte nicht zurück. Früh genug würde sie hier wieder stehen. Sich Mut zureden. Die Angst unterdrücken, um stattdessen so etwas wie Hoffnung zu verspüren.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @elli@,

herzlich willkommen im Forum!

Es ist schade, dass du gleich mit zwei eigenen Texten einsteigst, anstatt mit zumindest einem konstruktiven Kommentar unter einem Fremdtext. Aber du schreibst in deinem Profil, du seist an Austausch interessiert, dann wird das ja sicher noch kommen. ;)

Ich muss ehrlich sagen, dass ich mit deinen beiden Texten nicht so viel anfangen kann. Das liegt zum einen an der Erzählhaltung: Ein etwas eigenartiger Mix zwischen neutral-auktorialer Stimme, die imA klingt wie die Stimme der Autorin, nicht wie der Erzähler; und dann immer wieder zwischengeschossen eine eher personale Stimme, fast ein Bewusstseinsstrom aus Innensicht der Figur. Ich mag durchaus, was ich mal 'starke Erzähler' nenne: Eine Stimme, die nicht verschleiert, dass etwas erzählt wird, dass dies ein Text ist und ich das nicht (wie eher bei Rollenprosa) direkt miterlebe. Man muss den Erzähler nicht aus einer Erzählung schreiben.

Hier aber sehe ich eine sehr starke Diskrepanz zwischen der Figur, in deren Kopf der Erzähler schauen kann (er kennt ihre Gefühle und Erinnerungen), und dem Stil, den die Autorin gewählt hat, um das alles zu erzählen: eine recht extreme Form der Ellipse - wobei dieser Eindruck mehr durch die vielen Abtrennungen (Kommata, Punkte, Bindestriche) als durch das herkömmliche Weglassen allen Überflüssigen kommt, was wäre: Verben, Adjektive, Adverbien.
Ich finde es ganz okay, wenn man einen Stil so weit treibt, dass man ihn quasi gegen die Wand fährt. Das hab ich auch schon gemacht, auch mit Ellipsen (der herkömmlichen Art), und musste mir von einer klugen Lektorin sagen lassen, dass das viel zu forciert ist und zu anstrengend zu lesen. Hab ich lange nicht kapiert, weil ich damals fand, das klänge schön - eben hart, unsentimental. Inzwischen bin ich aber auch der Ansicht, dass es in einem solchen Extrem keiner Geschichte zuträglich ist. Dieses Stakkatohafte ebnet ja alles ein, alles wird ein Brei (wenn auch ein sehr harter Brei, eher Zement), die Erzählung hat keinen organischen Rhythmus mehr, nichts wird hervorgehoben, nichts geordnet, strukturiert. Und ja: es strengt auch an - ich mag es, mich beim Lesen anzustrengen, aber dann möchte ich über den Inhalt nachdenken, nicht, mich durch die Sätze zu kämpfen.

Du boykottierst zudem die Wirkung der Ellipsen, indem du ständig Dinge doppelt beschreibst. Das ist auch in deinem anderen Text so. Dieselbe Aussage zu wiederholen bedeutet immer eine Korrektur und damit eine Unschärfe. Ellipsen und Unschärfen sind aber eine extrem ungünstige Kombi, weil das alles auf sehr kleinem Raum stattfindet: Knappheit zwingt zum genauen Hinsehen, Doppelung lässt die Sicht quasi verschwimmen - und beides sind sehr augenfällige Stilmittel. Da ist es wie mit dem Salzen: Eine Prise verfeinert das Gericht, eine ganze Schaufel davon macht es ungenießbar.

Dann ist es so, dass Geschichten, die fast ohne Plot aufgebaut sind (das gilt für deine zweite Geschichte sogar noch mehr) und rein von den Gedanken und Emotionen der Prota getragen werden, weniger interessant zu lesen als sie für die Ersteller zu schreiben sind. Ich reite hier nicht unbedingt auf show, don't tell rum, weil ich reines tell durchaus mag. Aber ich möchte lieber einer Figur zusehen, bei einer unkommentierten / neutral präsentierten Handlung, und eben nicht vorgekaut bekommen, was die Figur alles denkt und fühlt - das möchte ich mir selbst denken können, aus den Handlungen der Figur schließen. (Also eher: indirekte Charakterisierung.)

Konstruktiv:
- Stilistisch: Mehr organischen Rhythmus in die Passagen bringen - Ellipsen bedeuten ein hohes Tempo, dazwischen auch mal ruhigere Passagen, wo sie angebracht sind.
- Nicht den Plot aus den Augen verlieren i.e. nicht so stark um die Innenwelt der Prota kreisen.
- Ruhig weniger gezwungen 'literarisch' formulieren: die eigene Stimme als Autorin stärker zurücknehmen, sich mehr in die Stimme eines Erzählers (Textebene) eindenken, da eine adäquate Sprache finden.
- Doppelungen / Wiederholungen identischer oder fast identischer Aussagen runterfahren.
- Dem Leser weniger eine Haltung zur Prota aufzwingen, weniger werten.

Ein paar Details:

die sich unter ihren wenigen Habseligkeiten im Inneren des Rucksack[ ] befand.
Das ist nur ein halber Genitiv. :)
Und Inneren kannst du streichen. Wo sonst?
Habseligkeiten beinhaltet bereits wenig, damit kannst du ein Adjektiv streichen. Ellipsen wirken nicht, wenn sie lediglich einem Stakkato-Rhythmus dienen, es aber immer noch einen Overkill an Adjektiven oder Adverbien gibt.
Doch nun, musste sie stark sein.
Kein Komma.
Ihre Kindheit – das hatte sie auf so bittere Weise feststellen müssen – war vorbei.
Nur ein Bsp., sowas kommt öfter: Anfang und Ende sind eine neutrale Aussage des Erzählers, eine Feststellung. Das Fette ist eine dezidierte Wertung, hier schaut der Erzähler nicht mehr nur in den Kopf der Prota, sondern interpretiert das auch noch. Dadurch sehe ich hier - zu recht oder unrecht - mehr die Autorin, die nicht loslassen kann, die nicht bereit ist, dem Leser eine eigene Sicht zuzugestehen. Ich bin ein sehr opportunistischer Leser - ich mag sehr starke Erzählstimmen und Eigenständigkeit, ich mag aber nicht, wenn mir Interpretationen aufgedrängt werden. Zumindest mich bringt sowas gegen die Figur auf und ich verliere den Bezug, auch jegliche Empathie.
Die Gleise rüttelten. Sie wackelten.
Naja, das ist erstens dasselbe und zweites sehe ich bei der Formulierung Luft nach oben. Du fällst hier plötzlich in die Stimme der Elfjährigen, aber der Erzähler ist ja eindeutig erwachsen, es ist keine rein personale Perspektive.
erkannte, dass der Steg sie gefüllt hatte.
:confused: Da stimmt was nicht. Meinst du, der Bahnsteig ist voller Leute?
(Ein Steg wäre auch am Wasser.)
Als der klapperige Zug
:confused: Das halte ich für unwahrscheinlich, das ergibt imA so kein Bild.

um stattdessen so etwas wie Hoffnung zu verspüren.
Was ist der Unterschied zwischen so etwas wie Hoffnung spüren und Hoffnung spüren? Gerade bei so dezidierten Schluss-Sätzen lieber präzise statt schwurbelig / vage formulieren.

Ich hoffe sehr, du kannst mit meinen Anmerkungen etwas anfangen.
Herzlichst,
Katla

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom