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Sturm auf die Bastille (3/06)
NEUE FASSUNG
Pasquale und seine Schwester Monique liebten Paris, die Stadt an der Seine. Sie waren hier aufgewachsen und lebten mit ihrer Mutter zusammen etwas außerhalb in den Armenvierteln. Ihr Zuhause war eine alte, halb verfallene Kate. Bis vor kurzem stand der Familie noch der Lohn des Vaters zur Verfügung. Doch als er bei Bauarbeiten vom Gerüst in den Tod stürzte, fiel das Geld weg. Nicht jeden Tag war es der Mutter möglich, eine warme Mahlzeit für die Kinder zu kochen. Und als die Brotpreise ins Unendliche stiegen, fehlte auch der Kanten zur dünnen Suppe. Ihre Mutter konnte mit ihren Näharbeiten für die Adligen ab und zu ein paar Livres dazu verdienen. Doch die Sorge um das tägliche Brot machte sie immer ungehaltener und aggressiv. Dazu trugen natürlich auch die Unruhen in der Hauptstadt bei. Aber trotz aller Armut würde es ihnen nie einfallen, die Metropole zu verlassen.
Tagtäglich streiften die Kinder durch die Stadt, die sich stetig vergrößerte. Ständig wurden neue Gebäude errichtet, über die sich der vom Rauch der unzähligen Herdfeuer grau gewordene Himmel spannte. Das Häusermeer überragten hunderte von Kirchturmspitzen, die sich zum Firmament empor reckten. Und wo gebaut wurde, da gab es immer noch Geld.
In dem Stadtteil zwischen den Tuilerien und der Bastille war das Revier der Geschwister. Hier versuchten sie Geld zu erbetteln. Manchmal fielen kleinere Arbeiten an, die ihnen die Adligen anvertrauten, manchmal hatten sie auch nur einfach Glück und die Livres lagen quasi auf der Straße.
So geschah es an diesem Tag in der Rue Sainte Denis. Pasquale beobachtete morgens, wie eine adlige Familie auf ihren sommerlichen Landsitz umzog. Viele der hier ansässigen Familien besaßen ein hochherrschaftliches Palais in der Innenstadt von Paris und ein abgeschiedenes, aber nicht weniger prächtiges Gebäude auf dem Land. Dorthin zogen sie sich an den heißen Tagen des Jahres zurück, um dem hektischen Treiben zu entgehen.
Wie die aufgescheuchten Hühner liefen die Mägde hin und her, brachten diesen und jenen Gegenstand aus dem Haus und packten ihn noch auf die bereits überladenen Pferdefuhrwerke.
„Los, los!“, rief der Hausherr. „Beeilt euch! Wir wollen die Stadt verlassen, ehe hier der Teufel los ist. Wenn die wahr machen, was sie angekündigt haben, dann sind wir hier nicht mehr sicher. Also, Beeilung!“
Es dauerte trotzdem noch eine Ewigkeit, bis endlich der Rest der adligen Herrschaften das Gebäude verließen. Leise raschelte das mit Rüschen besetzte Brokatkleid der Marquise, als sie majestätisch, einer Königin gleich, zur Kutsche schritt. Pasquale, der sich dem Haus genähert hatte, sah, wie die Tochter, die hinter der Mutter herschritt, ihm zulächelte. Plötzlich ließ sie ihr weißes Spitzentaschentuch fallen und schaute den Bettlerjungen dabei auffordernd an. Dieser lief hinzu und hob das zarte Tüchlein auf und reichte es dem Mädchen .
„Oh, vielen Dank“, sagte dieses mit leiser Stimme. „Mutter wird dich für deine Aufmerksamkeit belohnen.“
Die Dame drehte sich um und musterte den Jungen, der in seinen geflickten, kurzen Hosen vor ihrer Tochter stand. Seine Füße und Hände waren verdreckt vom Staub der Pariser Straßen. Pasquale sah ebenfalls an sich herunter und kam sich in diesem Moment noch ärmlicher vor. Heimlich beneidete er die hohen Herrschaften um ihren Besitz und um ihre Feudalrechte. Bei ihnen würde es wohl nicht geschehen, dass sie abends kein Brot auf dem Tisch hatten. Abrupt wurde er aus seinen Träumereien gerissen.
„Hoffentlich hast du den Stoff nicht schmutzig gemacht“, sagte die Frau hochnäsig, fasste dennoch in ihre Rocktasche und warf dem Jungen zwei Livres zu.
„Für deine Mühe. Und nutze den Lohn für ein anständiges Bad.“
Doch das war das Letzte, für das Pasquale die Geldstücke ausgeben würde. Schnell steckte er es in seine Hosentasche, deutete eine kleine Verbeugung an und verschwand in der nächsten Seitengasse. Er wollte eiligst weiter zur Bastille, wo er sich mit seiner Schwester treffen wollte. Sie hatte Arbeit bei einem Obst- und Gemüsehändler gefunden, der sein Geschäft in der Nähe der Stadtmauer hatte. Schon von weitem sah er die gewaltigen Türme des Gefängnisses aus den Häusern herausragen. Immer wenn er in diese Gegend kam, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Vielleicht lag es daran, dass der alte Pierre, der im Armenviertel hauste, an den Sommerabenden gerne Gruselgeschichten über die Zustände in der Bastille erzählte. In diesen wimmelte es von Ratten, die den Gefangenen an den Zehen knabberten. Die Kinder konnten förmlich die Schreie der gefolterten Gefangenen hören, die so laut waren, dass sie durch die dicken Gefängnismauern hindurch drangen.
Pasquale musste sich schütteln, als er daran dachte. Kurz vor dem Gemüseladen, der in einer Seitengasse lag, stellten sich ihm drei ältere Jungs in den Weg.
„Heh, du“, rief ihn der eine an. „Du hast in unserem Revier gebettelt. Her mit dem Geld, aber ein bisschen plötzlich!“
Drohend hielt er einen dicken Knüppel in der einen Hand und schlug ihn nervös in die Handfläche der anderen.
„Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht. Ich will nur meine Schwester abholen. Sie ist hier in der Gegend bei einer Freundin zu Besuch“, antwortete Pasquale.
„Ach, ne kleine Schwester hast du. Aber die hat kaum hier in der noblen Gegend Bekannte. So wie du aussiehst, bist du nicht von hier. Aus dem Armenviertel kommst du, das sieht man doch, und hast hier nichts zu suchen. Das ist unser Platz. Und jetzt rück die Livres raus!“ Der ältere der drei Jungs sah ihn wütend an. „Und sag ja nicht, du hast vorhin nichts von der netten Dame in der Rue Sainte Denis bekommen. Wir haben alles genau beobachtet.“
Die beiden anderen kamen dichter an Pasquale heran. Es war unmöglich für den schmächtigen Jungen gegen diese wohl genährten Burschen anzukommen. Was sollte er tun? Gab er ihnen die Livres, dann würde es heute und an den nächsten Tagen wieder kein Abendessen geben. Aber welche Chance blieb ihm?
Da kam ihm der Zufall zu Hilfe. Aus einer Gasse traten zwei bewaffnete Polizisten heraus, die seit einigen Tagen in der Stadt patroullierten.
„Was ist hier los!“, rief der eine die Kinder an.
Verdutzt schauten sich die drei Burschen um. Diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte Pasquale, drehte sich herum und sauste um die nächste Straßenbiegung. Doch auch die drei anderen Burschen hatten keineswegs Lust, sich den Fragen der Obrigkeit zu stellen. Wie der Blitz rannten sie hinter Pasquale her.
Dieser hatte bereits die Brücke über die Seine erreicht, spurtete hinüber, ständig verfolgt von den anderen. Ganz außer Atem lief er Zickzack durch den Stadtteil. Hier kannte er sich aus. Immer tiefer drang er in das Elendsviertel ein. Schon schlug ihm der fürchterliche Gestank entgegen. Wegen der kaum vorhandenen Kanalisation kippten die Bürger ihre Nachttöpfe und ähnliches auf die Straßen. Hier hatten die Schlachthöfe ihren Sitz und auch die Gerbereien, die ihre Abfälle in die Gassen warfen. Immer enger standen die Häuser, die zum Teil nicht mehr als solche zu erkennen waren und nur noch von einigen Balken und etwas Lehm zusammengehalten wurden.
Pasquale versuchte die dreckigen Schlammlöcher zu umgehen. Doch plötzlich rutschte er in einem Fäkalienhaufen aus und schlitterte im Morast ein Stückchen weiter. Schon waren die drei Burschen neben ihm.
„So, mein Freundchen! Hier entkommst du uns nicht!“, brüllte der Anführer. Nur gut, dass er unterwegs seinen Prügel weggeworfen hatte. Aber die Schläge, die Pasquale von ihm verpasst bekam, waren ebenfalls heftig. Die Faust des Angreifers traf ihn in die Magengrube. Wie ein Streichholz knickte der Junge zusammen. Ein zweiter Hieb ins Gesicht ließ ihn gleich darauf zurücktaumeln. Der dritte Bursche schnappte ihn unter den Armen und zog ihn nach hinten, während ihm sein Kumpane in die Hosentasche griff und das Geld herauszog.
„Warum nicht gleich so! Gegen uns hast du keine Chance! Und lass dich nie wieder in unserem Revier blicken!“, rief ihm der Anführer zu und schon war die Bande verschwunden.
Pasquale lehnte an der Mauer eines Hauses. Sein Schädel brummte wie ein ganzer Bienenstock. Warum, warum nur musste ihm das immer passieren? Konnte er nicht auch mal Glück haben? Wie lange hätte das Geld seine Familie ernähren können?
Ganz benommen zog er sich an der Außenfassade hoch und torkelte nach Hause. Vergessen war seine Schwester, die vergeblich auf sein Erscheinen warten würde. Doch Monique kannte den Heimweg. Sie brauchte ihn nicht.
„Um Gottes Willen!“ Die Mutter schlug die Hände vors Gesicht, als sie ihren Sohn sah, wie er Blut überströmt auf sie zu wankte. „Was ist passiert? Habe ich dir nicht immer gesagt, du sollst dich mit den Gassenjungen nicht anlegen? Da siehst du selbst, was dabei herauskommt. Jetzt gib mir erst einmal das Geld, das du heute bekommen hast. Dann geh zum Brunnen und wasch dir das Gesicht ab.“
Auffordernd hielt die Mutter ihre Hand hin.
Pasquale steckte den Kopf nach unten und sah auf seine Schlamm bespritzten Füße. „Ich habe heute nichts für dich, Mutter. Die Burschen haben mir die zwei verdienten Livres abgenommen.“
„Was, du hast dir das Geld wegnehmen lassen? Und von was sollen wir die nächsten Tage leben? Zwei Livres, das hätte zwei bis drei Tage gereicht. Aber mein Sohn, der Nichtsnutz, lässt es sich von so einer Bande Dahergelaufener abnehmen! Morgen in aller Frühe gehst du wieder in die Stadt und wehe dir, du bringst nichts nach Hause. Jetzt geht mir aus den Augen, du Schwächling!“
Pasquale trottete langsam zum Brunnen und wusch sich das Blut aus dem Gesicht. Anschließend ging er in seine Kammer. Sie war zugig und das Wasser drang durchs Dach hindurch, wenn es mal regnete, doch er hatte einen Ort für sich alleine, wohin er sich verkriechen konnte.
Total erschöpft fiel er auf die Strohmatratze, die ihm als Bett diente. Sie roch schon modrig, doch das bemerkte Pasquale heute nicht. Müde und ausgelaugt fiel er sofort in einen unruhigen Schlaf.
Pasquale hörte nicht, wie Monique zu ihm in den kleinen Raum kroch und ihn musterte. Sein Gesicht, das vom Mondlicht angestrahlt wurde, war dick angeschwollen. Um die Augen hatten sich blaurote Blutergüsse gebildet. Seine Schwester ging in die Stube und suchte frische Kräuter, die sie zerrieb, auf ein Tuch legte und zu ihrem Bruder brachte. Dort legte sie ihm die heilende Mischung auf das zerschlagene Gesicht. Dabei wachte der Junge auf und sah Monique mit halb geschlossenen Augen an.
„Bleib ruhig“, sagte diese. „ich habe dir ein paar Kräuter aufgelegt. Die nehmen die Schwellung. Morgen wird es schon besser sein. Und jetzt schlaf dich gesund.“
Mit diesen Worten verließ sie ihn und ging in die Kammer, die sie sich mit der Mutter teilte. Diese schlief bereits laut schnarchend.
Am nächsten Morgen brachen die Geschwister auf, um an den bewehrten Stellen zu betteln. Doch heute war alles anders in der Stadt. Keiner der Passanten beachtete die beiden. Keiner warf ihnen ein Geldstück zu oder bot ihnen Arbeit an. Die Menschen hetzten durch die Straßen und engen Gassen. Immer dichter wurde das Gedränge.
Pasquale war nach dem Aufwachen noch wie erschlagen, doch er nahm sich zusammen und begleitete seine Schwester.
„Irgendetwas stimmt heute nicht“, presste er durch seine geschwollenen Lippen hervor. „Alles strömt in Richtung Bastille.“
Einigen Wortfetzen konnte Pasquale entnehmen, dass heute ein großer Schlag geplant sei.
„Ab heute wird sich in Paris alles ändern!“, rief ein Bäcker, der seinen Laden abschloss und einige Bretter vor sein Fenster nagelte. „Heute wird unsere Stadt frei!“ Dann lief er dem Strom der Menschen hinterher.
Monique schnappte ihren Bruder am Arm, der ihm folgen wollte
„Pasquale, nicht. Ich habe Angst, dass uns dort Schreckliches passieren wird. Können wir nicht nach Hause gehen? Willst du heute wieder zusammengeschlagen werden?“, jammerte sie.
„Das willst du verpassen!“, rief dieser und schüttelte ihren Arm ab. „Wenn die Demonstranten einen Sieg erringen, dann sind sie bestimmt freigiebig und wir können Mutter endlich genug Geld nach Hause bringen, damit wir eine Weile davon leben können. Außerdem, so etwas siehst du nie wieder.“
Leider waren die beiden Kinder zu klein und konnten nur die dicken Türme um die Gefängnismauern erkennen. Eingequetscht in der Menschenmenge schoben sie sich weiter. Die Geschwister hatten sich an den Händen gefasst, um nicht in dem Gewühl getrennt zu werden.
So war es bereits Mittag vorbei, als von der Bastille her laute Kanonenschläge die Straßen und Gebäude der Umgebung erzittern ließen.
„Es geht los!“, rief eine Frau neben Pasquale. „Gleich wird Paris erlöst sein!“
Die Menschen schrieen auf. Einige versuchten sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, Entsetzen auf den Gesichtern.
Ein Mann, der am Kopf eine große Platzwunde hatte, torkelte an ihnen vorbei. Das Blut lief ihm die Wangen hinunter. Er versuchte gar nicht, es wegzuwischen. „Sie schießen auf ihre eigenen Mitbewohner, vielleicht sogar Nachbarn! Monster, Verräter sind das! Viele Tote liegen im Hof, die nur für ihre Freiheit auf die Straße gegangen sind.“ Mehr konnte Pasquale nicht verstehen, denn der Verletzte war bereits zwischen den anderen verschwunden.
Monique zog ihren Bruder näher zu sich. „Lass uns nach Hause gehen. Ich habe Hunger und furchtbare Angst.“
Doch der Junge reagierte nicht. Der Zwölfjährige war so von dem Schauspiel fasziniert, dass er seiner Schwester keine Antwort gab und sie weiter mit sich zog, hin zur Bastille.
Wieder wurde die Menge unruhig und es tat sich eine Gasse auf. Durch das Gestoße und Geschubse wären die Geschwister fast getrennt worden. Zwischen den Menschen tauchten Gardisten und bewaffnete Bürger auf, die im Gleichschritt zum Ort des Geschehens marschierten. Die Demonstranten schossen vor lauter Begeisterung wahllos in die Luft.
„Mensch, die haben sogar die Silber beschlagene Königskanone dabei!“ Pasquale war begeistert und drängte sich näher heran. Die Soldaten stoppten kurz. Das war die Gelegenheit für den Jungen. Er trat an das Geschütz heran und berührte es leicht mit der Hand. Trotz seines geschwollenen Gesichtes konnte Monique das Strahlen darin erkennen, als er sich zu ihr umdrehte. Er rief ihr etwas zu, das aber im Lärm der abgeschossenen Gewehre unterging.
Plötzlich brach Pasquale aufstöhnend zusammen.
Monique stieß einen spitzen Schrei aus, drängte sich durch die Menschen hindurch und kniete neben ihrem Bruder nieder.
„Pasquale!“, schrie sie. „Was ist mit dir?“
Sie schob ihre Hand unter seinen Körper. Dabei spürte sie eine klebrige Masse zwischen den Fingern. Sofort zog sie den Arm zurück und starrte auf ihre Blut verschmierte Hand.
„Oh, mein Gott!“, flüsterte das Mädchen. „Wer hat das getan?“
Keiner der Umstehenden schenkte dem Vorfall Beachtung. Alle waren von dem Aufmarsch der Soldaten beeindruckt und erhofften sich ein schnelles Ende des Aufstandes.
Monique legte den Kopf ihres Bruders in ihren Schoß und schaute sich Hilfe suchend um. Endlich beugte sich ein älterer Mann zu ihr hinunter.
„Bitte helfen Sie mir, mein Bruder, sie haben ihn einfach niedergeschossen. Er wollte doch nichts tun, wollte sich nur diese verdammte Kanone ansehen“, brachte sie mühsam hervor. „Lebt er noch?“
Hoffnungsvoll sah sie den Mann an. Doch dieser schüttelte den Kopf, nachdem er versucht hatte, den Puls zu ertasten. „Komm, ich bringe euch heim.“
Er nahm den toten Jungen auf seine Arme und bahnte sich einen Weg hinaus aus dem Getümmel. Monique folgte ihm schweigend. In einer etwas abgelegeneren Gasse fragte der Helfer nach ihrem Heim. Monique zeigte mit dem Finger in die Richtung, in der ihr Haus lag. „Und ich wollte gleich nach Hause. Aber Pasquale musste unbedingt zur Bastille“, murmelte sie.
ALTE FASSUNG
Seit einigen Tagen war es ungemütlich geworden in der Pariser Innenstadt.
Dem Bettlerjungen Pasquale und seiner jüngeren Schwester Monique gefiel die Stadt an der Seine. Ständig wuchs die Einwohnerzahl und fast täglich schossen neue Gebäude wie Pilze aus dem Boden. Über hundert Kirchturmspitzen überragten die Stadt, über denen sich der Himmel spannte, grau gefärbt von dem Rauch der unzähligen Herdfeuer.
Hier in der französischen Metropole waren alle Gesellschaftsschichten vertreten. Da gab es die Adligen, die in ihren hochherrschaftlichen Häusern wohnten, und an den heißen Tagen des Sommers auf ihre Landsitze fuhren.
Pasquale hatte einen solchen Umzug einmal aus der Nähe beobachtet. Wie die aufgescheuchten Hühner liefen die Mägde hin und her, brachten diesen und jenen Gegenstand aus dem Haus und packten ihn noch auf die bereits überladenen Pferdefuhrwerke. Es dauerte eine Ewigkeit, bis endlich die adligen Herrschaften das Gebäude verließen. Leise raschelte das mit Rüschen besetzte Brokatkleid der Lady, als sie majestätisch, einer Königin gleich, zur Kutsche schritt. Pasquale, der sich dem Haus genähert hatte, sah, wie die Tochter, die hinter der Mutter herschritt, ihm zulächelte. Dann ließ sie ihr weißes Spitzentaschentuch fallen und schaute den Bettlerjungen dabei auffordernd an. Dieser nicht dumm, lief hinzu und hatte das zarte Tüchlein aufgehoben und dem Mädchen gereicht.
„Oh, vielen Dank“, sagte dieses mit leiser Stimme. „Mutter wird dich für deine Aufmerksamkeit belohnen.“
Die Lady drehte sich herum und musterte den Jungen, der in seinen geflickten kurzen Hosen vor ihrer Tochter stand. Seine Füße und Hände waren verdeckt vom Staub der Pariser Straßen.
„Hoffentlich hast du den Stoff nicht schmutzig gemacht“, sagte die Frau hochnäsig, fasste dennoch in ihre Rocktasche und warf dem Jungen einen Taler zu.
„Für dein Mühe. Und nutze das Geld für ein anständiges Bad.“
Doch das war das Letzte, für das Pasquale das Geldstück ausgeben wollte. Eilig war er nach Hause gelaufen und hatte seinen Verdienst der Mutter auf den Tisch gelegt. Seit sein Vater tot war, hatten sie ihre liebe Not, Geld zu verdienen, damit sie täglich genug zum Essen hatten. Daher gingen die Geschwister in die Stadt zum Betteln.
Nicht immer hatten sie so viel Glück und brachten einen Taler zusammen. Besonders an Markttagen, wenn viel Betrieb war in den Gassen und die Bauern gute Geschäfte machten, fiel hie und da etwas für die beiden Kinder ab.
Doch sie waren längst nicht die einzigen Bettler in Paris. Es gab viele Menschen, die arm waren und sich nicht, wie ihre Mutter mit kleineren Näharbeiten für Adlige, etwas hinzuverdienen konnten. Sie hausten in dreckigen Vierteln, wo die Straßen mit Abfällen der Schlachthöfe und Gerbereien übersät waren. Sie wühlten am Ende des Markttages in weggeworfenen Obst- und Gemüseresten, die schimmelig und teilweise sogar schon verfault von den Marktbeschickern liegengelassen wurden.
So tief waren Pasquale und seine Familie noch nicht gesunken. Durch sein freundliches Auftreten und seine Hilfsbereitschaft erhielt er zusammen mit seiner Schwester immer kleinere Arbeiten, Kisten schleppen oder Obst und Gemüse sortieren. Dafür wurde er mit den Früchten belohnt, von denen sie mit ihrer Mutter zusammen bis zum nächsten Markttag leben konnten.
Doch seit Sommer 1789 wuchs die Unruhe in der Hauptstadt. Die Bevölkerung in Stadt und vor allem auch auf dem Land wurde zunehmend unzufriedener mit ihrem König Ludwig XVI.
„Der sitzt dick und fett in seiner Residenz und kümmert sich einen Kehricht um sein Volk“, sagte eines Abends die Mutter. Sie saßen alle Drei vor ihrem kleinen etwas baufälligen Häuschen am Rande von Paris. „Der Brotpreis steigt so schnell, dass man gar nicht genug Geld mitnehmen kann beim Einkaufen.“
„Aber der König ist halt so traurig, weil sein Söhnchen gestorben ist“, verteidigte ihn Monique.
„Ach, weißt du, Kleines. Wenn ich nach dem Tod eures Vaters alles hätte verkommen lassen, mich nicht mehr um euch gekümmert hätte, was wäre dann geworden. Ich habe halt die Zähne zusammen gebissen und weiter gearbeitet. Deshalb habe ich meinen Louis, Gott hab ihn selig, nicht weniger geliebt.“
Verstohlen wischte sie sich eine Träne von der Backe.
„Und Ludwig hat ja nicht nur zwei Menschen zu betreuen, so wie du, Mutter“, mischte sich Pasquale ein. „Er hat für Millionen Leute zu sorgen, damit es ihnen gut geht.“
„Und das macht er nicht?“, fragte Monique.
„Nein“, gab die Mutter etwas scharf zur Antwort. „Das tut er beileibe nicht.“
„Deshalb tagt auch ständig die Nationalversammlung“, berichtete der Junge. Als die beiden ihn erstaunt ansahen, fuhr er fort: „Ich habe gestern für den Schmied im Wirtshaus einen Krug Bier holen müssen. Und als ich da so gewartet habe, konnte ich ein Gespräch belauschen, das zwei Bürger miteinander führten. Sie haben sich fürchterlich darüber aufgeregt, dass Jacques Necker entlassen wurde.“
„Wer ist das?“, fragte seine Schwester dazwischen.
„Der Finanzminister“, erklärte die Mutter. „Er stammt ursprünglich aus Genf und das Volk hatte große Hoffnungen in ihn gesetzt, dass die hohen Brotpreise wieder fallen würden und dass er einen Staatsbankrott verhindern könnte. Aber nun, da er Paris bei Nacht und Nebel verlassen hat, sind die Bewohner enttäuscht, allein gelassen und noch wütender. Doch es ist spät geworden. Lasst uns schlafen gehen.“ Sie packte ihre Näharbeit zusammen und forderte die Kinder auf, sich am Brunnen zu waschen, bevor sie ins Bett gingen.
Pasquale lag noch lange wach in dieser Nacht. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Ständig dachte er über die Zustände nach, die er heute in der Innenstadt vorgefunden hatte. Alle Straßen waren angefüllt mit Menschen, die herumstanden, diskutierten. Einige von ihnen, besser gestellte Bürger, postierten sich auf Treppen und schwangen lauthals aufwieglerische Reden. Einer von ihnen forderte das Volk sogar auf, zu den Waffen zu greifen, um es selbst in die Hand zu nehmen, die fatale Situation zu ändern.
Wo war es hin, das friedliche Paris, die engen Gassen, in denen er mit anderen Kindern so oft und gerne gespielt hatte? Besonders liebte er die noch unvollendete Kirche Sainte Genevière, an der bereits mehr als dreißig Jahre gebaut wurde.
Es gab noch einen Platz, den Pasquale mochte, die Bastille. Das Gefängnis von Paris, ein riesiges Bauwerk mit acht runden, dicken Türmen. Der Junge konnte gar nicht genug bekommen von den Geschichten, die der ehemalige Kerkermeister Pierre zum Besten gab. Da war von Ratten die Rede, die in den Gewölben hausten und den schwer verletzten Gefangenen an den Zehen herumknabberten. Schreie konnte man förmlich hören, wenn Pierre von den Foltermethoden berichtete, von der Streckbank, deren Quietschen von den Schmerzenschreien der Häftlinge übertönt wurde. Viele der Gefangenen litten an Hunger und Durst, saßen angekettet in ihrer nassen, kalten Zelle mitten in ihren Exkrementen.
Wenn einer diese Qualen lebend überstanden hatte und es durch das Verfassung eines Buches der Bevölkerung mitteilen wollte, dessen Schriften wurden von der Obrigkeit verboten und verbrannt. Nichts von dem sollte wahr sein. Auch Pierre betonte jedes Mal, dass alles was er ihnen erzählte, nur erfunden war. Doch Pasquale liebte diese Erzählungen.
Am nächsten Morgen brachen die Geschwister wieder auf, um an ihren bewerten Stellen zu betteln. Doch die Bürger der Stadt achteten kaum auf die beiden. Keiner warf ihnen ein Geldstück zu oder bot ihnen Arbeit an. Die Menschen hetzten durch die Straßen und engen Gassen. Ihr Ziel war die Bastille.
Einigen Wortfetzen konnte Pasquale entnehmen, dass heute ein großer Schlag geplant sei.
„Ab heute wird sich in Paris alles ändern“, rief ein Bäcker, der seinen Laden abschloss und einige Bretter vor sein Fenster nagelte. „Heute wird unsere Stadt frei.“ Dann lief er dem Strom der Menschen hinterher.
Monique schnappte ihren Bruder am Arm, der ebenfalls die Richtung zur Bastille einschlug.
„Pasquale, nicht. Ich habe Angst, dass uns dort Schreckliches passieren wird. Können wir nicht nach Hause gehen?“, jammerte sie.
„Das willst du verpassen!“, rief dieser und schüttelte ihren Arm ab. „So etwas siehst du nie wieder.“
Leider waren die beiden Kinder zu klein und konnten nur die dicken Türme um die Gefängnismauern erkennen. Eingequetscht in der Menschenmenge schoben sie sich weiter. Die Geschwister hatten sich an den Händen gefasst, um nicht in dem Gewühl getrennt zu werden.
Plötzlich lichtete sich die Menge. Es hieß, ein paar junge Burschen wären in den Hof gelangt und hätten die hölzernen Rampen heruntergelassen. Hunderte Demonstranten waren in den Innenhof der Festung eingedrungen, wo sie nun in der Falle saßen.
So war es bereits Mittag vorbei, als von der Bastille her laute Kanonenschläge die Straßen und Gebäude der Umgebung erzittern ließen.
„Es geht los!“, schrie Pasquale. „Gleich wird Paris erlöst sein!“
Die Menschen schrieen auf. Einige versuchten sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, das Entsetzen auf den Gesichtern.
Ein Mann, der am Kopf eine große Platzwunde hatte, torkelte an ihnen vorbei. Das Blut lief ihm die Wangen hinunter. Er versuchte gar nicht es wegzuwischen. „Sie schießen auf ihre eigenen Mitbewohner, vielleicht sogar Nachbarn! Monster, Verräter sind das! Viele Tote liegen im Hof, die nur für ihre Freiheit auf die Straße gegangen sind.“ Mehr konnte Pasquale nicht verstehen, denn der Verletzte war bereits zwischen den anderen verschwunden.
Dann ging ein Raunen durch die Menge. „Feuer! Die Bastille brennt!“
Monique zog ihren Bruder näher zu sich. „Lass uns nach Hause gehen. Mutter wird sich Sorgen manchen. Und ich habe Hunger und furchtbare Angst.“
Doch der Junge reagierte nicht. Der Zwölfjährige war so von dem Schauspiel fasziniert, dass er seiner Schwester keine Antwort gab und sie weiter mit sich zog, hin zur Bastille.
Dann musste er lachen. „Da schau, Monique. Es brennt überhaupt nicht. Nur ein paar Wagen mit faulem Stroh hat jemand angesteckt. Das verursacht den dichten Qualm und Gestank.“
Wieder wird die Menge unruhig und es tut sich eine Gasse auf. Durch das Gestoße und Geschubse wären die Geschwister fast getrennt worden. Zwischen den Menschen tauchten Gardisten und bewaffnete Bürger auf, die im Gleichschritt zum Ort des Geschehens marschierten. Die Demonstranten schossen vor lauter Begeisterung in die Luft.
„Mensch, die haben sogar die Silber beschlagene Königskanone dabei“, rief Pasquale und drängte sich näher heran. Die Soldaten stoppten kurz. Das war die Gelegenheit für den Jungen. Er trat an das Geschütz heran und berührte es leicht mit der Hand. Übers ganze Gesicht strahlend wandte er sich zu Monique um.
Im selben Moment brach Pasquale aufstöhnend zusammen.
Monique stieß einen spitzen Schrei aus und kniete neben ihrem Bruder nieder.
„Pasquale!“, schrie sie. „Was ist mit dir?“
Sie schob ihre Hand unter seinen Körper. Dabei spürte sie eine klebrige Masse zwischen den Fingern. Sofort zog sie den Arm zurück und starrte auf ihre Blut verschmierte Hand.
„Oh, mein Gott!“, flüsterte das Mädchen. „Wer hat das getan?“
Keiner der Umstehenden schenkte dem Vorfall Beachtung. Alle waren von dem Aufmarsch der Soldaten beeindruckt und erhofften sich ein schnelles Ende in der Bastille.
Monique legte den Kopf ihres Bruders in ihren Schoß und schaute sich Hilfe suchend um. Endlich erbarmte sich ein junger Mann in Uniform und kauerte sich neben das Mädchen.
„Bitte helfen Sie mir, mein Bruder, sie haben ihn einfach niedergeschossen. Er wollte doch nichts tun, wollte sich nur diese verdammte Kanone ansehen“, brachte es hervor. „Lebt er noch?“ Hoffnungsvoll sah sie den Soldaten an. Doch dieser schüttelte den Kopf, nachdem er versucht hatte, den Puls zu ertasten. „Wahrscheinlich war es ein Querschläger, der ihn getroffen hat. Komm, ich bringe euch heim.“
Er nahm den toten Jungen auf seine Arme und bahnte sich einen Weg hinaus aus dem Getümmel. Monique folgte ihm schweigend. In einer etwas ruhigeren Gasse fragte der Mann nach ihrem Heim. sie zeigte mit dem Finger in die Richtung, in der ihr Haus lag. „Und ich wollte gleich nach Hause. Aber Pasquale musste unbedingt zur Bastille“, schluchzte sie.