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Sturmtaufe

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18.04.2013
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Sturmtaufe

Der Wind trieb die Wolken zusammen und verdüsterte den blaukalten Himmel. Das aufziehende Wetter war ganz nach dem Geschmack des jungen Kerls. Wenn alles in Dunkelheit getaucht sein würde, wollte er hinaus gehen, um den Sturm zu erleben. Zum Abend verabredete er sich mit einem Freund.
Während er wartete, beobachtete er die Bäume hinterm Haus. Sie peitschten sich gegenseitig, wie in einem fremdartigen Spiel. Äste und Laub wirbelten übermütig durch die Luft.
Er aß zu Abend. Ein unbestimmtes Gefühl, eine einzigartige Vorfreude bemächtigte sich seiner. Draußen strich der Wind pfeifend durch die leeren Straßen und wetzte die Hausecken ab. Das Unwetter steigerte sich noch! Gut gelaunt ging er aus dem Haus.
Wenige Regentropfen fielen auf seine Jacke. Ab und zu gab ihm der Wind einen leichten Schubs, grinsend ließ er das Spiel über sich ergehen. Er freute sich, auf diese Art dem Wetter seinen Tribut zu zollen.

Er traf sich mit einem Freund und gemeinsam zogen sie durch die Strassen. Niemand hätte beurteilen können, ob sie dem Wind folgten oder von ihm getrieben wurden. Sie unterhielten sich; gegen den Sturm, über Ideen; gegen den Sturm, über Probleme; gegen den Sturm, über Wege.
Die Stadt war gespenstisch leer. Alle Rolläden waren heruntergelassen, die Autos duckten sich in ihre Parkbuchten, kein Mensch war zu sehen.
Der Regen fiel mehr schlagweise als gießend. Nocheinmal steigerte der Wind sein Tempo.
Sie ließen ihr Städtchen hinter sich zurück. Zur Rechten befand sich der Fluß und zur Linken die vergessene Straße. Mit zur Brust und gegen den Sturm geneigten Köpfen liefen sie nebeneinander her.
Die Lichter der Stadt drangen kaum daraus hervor und blieben weit hinter den Freunden zurück. Die schwarze Nacht mit ihrem Sturmhimmel umschloss die beiden wie ein dunkler Brei und immer wieder griff das Unwetter nach ihnen, stieß sie mit den Schultern zusammen oder ließ sie für ein, zwei Augenblicke taumeln.

Es war für ihn unbeschreiblich, wie frei und gut er sich fühlte.
Deswegen kam der Hilferuf für ihn völlig überraschend. Dann ahnte er die Ursache für seine spezielle Aufregung. Noch einmal horchte er, hob seinen Kopf. Der Regen wurde ihm vom Wind ins Gesicht gedrückt. Er schaute zu seinem Freund, der noch zwei Schritte gemacht haben mußte. Anscheinend war er selbst sofort stehen geblieben.
Fragend schauten sie sich gegenseitig an, wieder vernahm er den Hilfeschrei.
„Hast du nichts gehört?”
„Was?”
„Jemand ruft um Hilfe!”
„Ich hab’ nichts gehört.”
Jetzt riß er sich die schützende Kapuze vom Kopf. Gleich darauf vernahm er wieder den Schrei, diesmal schon etwas kläglicher.
„Da war es wieder.”
„Da war nichts!”
„Es kam vom Fluß. Lass uns nachsehen gehen.”
„Ich hab’ aber nichts gehört.”
„Jetzt komm schon.”
Gemeinsam stapften sie über den aufgeweichten Boden bis an das Ufer des Flußes, auf diesem kurzen Weg vernahm er wieder den Schrei. Er wurde unruhig.
„Warum hab’ ich meine Lampe nicht mitgenommen?”
„Ich hab immer noch nichts gehört. Hier ist nichts.”
„Haallllooo...haaalllllloooo”, schrie er gedehnt über den lärmenden Fluß und gegen den Sturm an.
Fast unverzüglich vernahm er den erwarteten Ruf. Er zog seine Jacke über den Kopf und drückte sie seinem Freund in die Armbeuge.
„Was hast du vor. Tu das nicht, hier ist nichts!” Aber da war er schon ins Wasser gesprungen.
Ratlos blieb sein Freund am Ufer stehen.

Am nächsten Morgen bargen Feuerwehr und Polizei die Leiche des jungen Mannes, keine zwanzig Meter flußabwärts von der Stelle, wo er ins Wasser gesprungen war. Das Wasser war knietief, sein Kopf wurde von einer Wurzel unter Wasser gedrückt und seine Hände hatten sich an irgendetwas auf dem Grund festgekrallt.
An der selben Stelle fand man die Leiche des kleinen Jungen, der im vergangenen Winter durchs Eis gebrochen war.

 

Hallo Gilead

Und Herzlich Willkommen im Forum!

Ich hab deine Geschichte gern gelesen. Normalerweise bevorzuge ich längere Texte, aber hier passt die Länge (oder Kürze). Du legst viel Wert auf Atmosphäre, die Beschreibung des Sturms, das finde ich auch gut gemacht, wenngleich die Formulierungen an der einen oder anderen Stelle für meinen Geschmack knapper ausfallen könnten - ich habe unten ein paar Beispiele angefügt. Da solltest du aufpassen, nicht zu viele Adjektive zu verwenden, vor allem dann nicht, wenn ihre Bedeutung sich schon anderweitig ergibt.

Das Ende kommt dann überraschend, und gerade wegen seiner Kürze wirkt es auch gut. Es lässt einige Schlussfolgerungen zu, vor allem, wenn man das "Logikloch" in Betracht zieht, weshalb ein im Fluss ertrunkener Junge erst nach einiger Zeit ("vergangener Winter") gefunden wird, insbesondere, wenn das Wasser nur knietief ist. Zusammen mit den Hilferufen geht das schon stark ins Übernatürliche, sodass deine Geschichte auch in der Horror-Rubrik nicht fehl am Platze wäre.

Hier jetzt mal ein paar Beispiele, was ich stilistisch ändern würde, das meiste sind nur Vorschläge, insgesamt hat der Text sehr wenige "echte" Fehler:

Der Wind trieb die Wolken zusammen und verdüsterte den blaukalten Himmel.

Hier würde ich überlegen, nur zu schreiben: "Der Wind trieb Wolken zusammen ...". Ohne den Artikel klingt es mMn besser.

Äste und Laub wirbelten übermütig durch die Luft.

Ich finde es keine gute Idee, leblosen Dingen lebendige Eigenschaften zu geben. Das klingt immer bemüht. "übermütig wirbeln", als würden sie es aus eigenem Antrieb heraus tun. Warum lässt du das "übermütig" nicht einfach weg?

Draußen strich der Wind pfeifend durch die leeren Straßen und wetzte die Hausecken ab.

Der Wind pfeift und heult. Das sind so oft gebrauchte Formulierungen, auch hier würde ich das "pfeifend" streichen. Auch würde ich überlegen, die beiden bestimmten Artikel vor Strassen und Hausecken zu streichen.

Alle Rolläden waren heruntergelassen, die Autos duckten sich in ihre Parkbuchten, kein Mensch war zu sehen.

Weniger ist oft mehr. Das Fettgedruckte ist redundant, denn im Satz zuvor schreibst du schon, dass die Stadt leer war. Auch klingt der Teil zuvor besser, wenn du nicht noch so ein "Anhängsel" an den Satz dranhängst.

Nocheinmal steigerte der Wind sein Tempo.

Noch einmal

Mit zur Brust und gegen den Sturm geneigten Köpfen liefen sie nebeneinander her.

Es klingt umständlich. Da musste ich erstmal kurz überlegen, wie das gemeint ist. Würde ich ebenfalls streichen.

Es war für ihn unbeschreiblich, wie frei und gut er sich fühlte.

Wenn du das "für ihn" hier rausnimmst, klingt der Satz besser. Es ist klar, dass seine Gefühle "für ihn" gelten. Auch im nächsten Satz kommt es gleich wieder, wegen der Wortdoppelung solltest du da was machen, also streich es am besten hier.

Fragend schauten sie sich gegenseitig an,

Auch hier: das "gegenseitig" gibt keinen Mehrwert.

Jetzt riß er sich die schützende Kapuze vom Kopf.

riss
Überlege, das "schützend" zu streichen. Es mag kleinlich sein, aber lies die Sätze mal laut und entscheide dann, was besser klingt.

An der selben Stelle fand man die Leiche des kleinen Jungen,

derselben

Wie gesagt, hab ich gern gelesen, hin und wieder blähst du deine Sätze für meinen Geschmack noch zu sehr auf. Die Geschichte würde besser klingen, wenn du da knappere Formulierungen wählen würdest.

Viele Grüsse und viel Spass noch hier beim Lesen, Schreiben und Kommentieren,
Schwups

 

Hallo Kinski,

auch von mir ein herzliches Willkommen.

Ja, auch mir gefiel deine Geschichte. Für diese Länge des Textes hatte ich doch ein sehr klares Bild vom Sturm und der leeren Stadt vor Augen. Das hast du schön gemacht.
Allerdings fand ich deinen Text etwas unpersönlich. Warum hast du den Personen keine Namen gegeben? Beim Dialog war ich deshalb etwas verwirrt. Ich fragte mich, wer spricht da. Wer ist wer?
Wenn man etwas mehr über die Personen erfahren würde, käme auch mehr Spannung auf. Aber nicht zu viele Details. Dieser Text will ja nicht ewig aufgebläht werden.
Ich hab mich auch gefragt, wieso die Kerle unbedingt bei diesem Scheißwetter nach draußen müssen. Aber man soll sich ja Fragen zum Text stellen, so ist es ja gedacht.
Mir hätte es aber noch gut gefallen, wenn du das Faible des Kerls zu schlechtem Wetter besser mit deinen atmosphärischen Beschreibungen verknüpft hättest.

Hier z.B.:

Der Wind trieb die Wolken zusammen und verdüsterte den blaukalten Himmel. Das aufziehende Wetter war ganz nach dem Geschmack des jungen Kerls.
Der erste Satz muss den Leser gleich in seinen Bann ziehen. Das tat deiner nicht. Jedenfalls nicht bei mir. Das ist nur wieder einer, der sich über das schlechte Wetter auslässt, könnte man sich denken.
Mein Vorschlag: Achim (dann hat Mr. Nobody gleich mal ´nen Namen) genoss den Anblick des blaukalten, dicht mit Wolken behangenen Himmels.

Wenige Regentropfen fielen auf seine Jacke. Ab und zu gab ihm der Wind einen leichten Schubs, grinsend ließ er das Spiel über sich ergehen. Er freute sich, auf diese Art dem Wetter seinen Tribut zu zollen.
Das hat mir prima gefallen.

Ansonsten kann ich mich auch nur meinem Vorredner anschließen.

Grüße
Hacke

 

Hallo Gilead

Auch von mir ein Willkommen hier im Forum.

Die Geschichte gewinnt am Ende wirklich etwas Beklemmendes, durch diesen retrospektiven Hilferuf, der das Ganze dann in eine nebulöse Unwirklichkeit einbindet. Es gab mir ein Touch von klassischem Grusel.

Das Unwetter selbst packte mich nicht so recht. Das mag daran liegen, wie man solche Naturereignisse schon selbst erlebte und mit Gefühlen besetzt. Hier hätte ich mir noch etwas tiefere Dramatik vorstellen können, knapp aber prägnant. Schwups und Hacke haben zu einzelnen Textpassagen schon einige Anmerkungen eingebracht, die ich auch so empfand.

Das überraschende Ende, welches mir ein Aha-Effekt mit leichtem Schauder gab, machte mir die Geschichte zum Erlebnis.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Gilead Kinski,

deine Geschichte ist ganz nett, den unheimliche Eindruck am Ende hätte ich noch ein wenig ausgebaut und die Gefühle des Protagonisten etwas detailierter geschildert - nicht nur die, die den Sturm betreffen.
Beim ersten Lesen war mir nicht gleich klar, welcher von den beiden Freunden ertrunken ist. Da am Ende der übrig bleibt, den man nicht von Anfang an innerlich begleitete, fand ich es verwirrend. Vielleicht wäre es besser, die ganze Geschichte eher aus der Perspektive des überlebenden Freundes zu schreiben (der ab da Unwetter nicht mehr genießen kann)?
Den Titel finde ich nicht so passend, Taufe, das ist doch eher so etwas wie ein Neubeginn. Und hier geht es um ein Ende.

Schau noch mal nach Rechtschreibfehlern, nach einem kurzen Vokal ist ein 'ss' richtig (wie bei Fluss), nach einem langen ein 'ß' (wie bei Straße). Gilt, wie ich unlängst von Anakreon gelernt habe, nicht für Schweizer.
Doch, kurzweilig zu lesen war sie, deine Story.

Noch viel Spaß beim Schreiben,

beste Grüße,

Eva

 

Hallo Schwups, Hacke, Anakreon und Eva.

Vielen Dank für die freundliche Aufnahme! Vielen Dank auch für Eure Kritik, die ist detaillierter und besser, als ich sie, mit Verlaub, erwartet hätte. Von Schwups' Vorschlägen werde ich mich einiger annehmen. Die Sätze vereinfachen sich tatsächlich und werden dabei besser.

Namen gibt es für die Protagonisten nicht. Ich tue mich immer schwer mit Namen, weil ich darin immer mehr als nur den Namen sehe. Und ich weiß auch gar nicht, ob da ein Herbert oder ein Rolf oder eine Sandra langturnen.

Gibt's hier irgendwo einen Vorstellungsthread?
Ich schreibe seit circa zwölf Jahren, diese Geschichte ist eine der Frühen und eure konstruktiven Hinweise zeigen die Stellen auf, die man auf Grund der Betriebsblindheit dem eigenen Text gegenüber, nicht mehr, oder nur aufwendig selber identifizieren kann. Der Text wurde auch von mir mehrmals überarbeitet, aber es bleibt eben immer wieder etwas hängen.

Nochmals Danke für Eure Hilfe!!!


Gilead

PS: Ich bin gern bei solchem Wetter draußen ;-)

 

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