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Sturmtaufe
Der Wind trieb die Wolken zusammen und verdüsterte den blaukalten Himmel. Das aufziehende Wetter war ganz nach dem Geschmack des jungen Kerls. Wenn alles in Dunkelheit getaucht sein würde, wollte er hinaus gehen, um den Sturm zu erleben. Zum Abend verabredete er sich mit einem Freund.
Während er wartete, beobachtete er die Bäume hinterm Haus. Sie peitschten sich gegenseitig, wie in einem fremdartigen Spiel. Äste und Laub wirbelten übermütig durch die Luft.
Er aß zu Abend. Ein unbestimmtes Gefühl, eine einzigartige Vorfreude bemächtigte sich seiner. Draußen strich der Wind pfeifend durch die leeren Straßen und wetzte die Hausecken ab. Das Unwetter steigerte sich noch! Gut gelaunt ging er aus dem Haus.
Wenige Regentropfen fielen auf seine Jacke. Ab und zu gab ihm der Wind einen leichten Schubs, grinsend ließ er das Spiel über sich ergehen. Er freute sich, auf diese Art dem Wetter seinen Tribut zu zollen.
Er traf sich mit einem Freund und gemeinsam zogen sie durch die Strassen. Niemand hätte beurteilen können, ob sie dem Wind folgten oder von ihm getrieben wurden. Sie unterhielten sich; gegen den Sturm, über Ideen; gegen den Sturm, über Probleme; gegen den Sturm, über Wege.
Die Stadt war gespenstisch leer. Alle Rolläden waren heruntergelassen, die Autos duckten sich in ihre Parkbuchten, kein Mensch war zu sehen.
Der Regen fiel mehr schlagweise als gießend. Nocheinmal steigerte der Wind sein Tempo.
Sie ließen ihr Städtchen hinter sich zurück. Zur Rechten befand sich der Fluß und zur Linken die vergessene Straße. Mit zur Brust und gegen den Sturm geneigten Köpfen liefen sie nebeneinander her.
Die Lichter der Stadt drangen kaum daraus hervor und blieben weit hinter den Freunden zurück. Die schwarze Nacht mit ihrem Sturmhimmel umschloss die beiden wie ein dunkler Brei und immer wieder griff das Unwetter nach ihnen, stieß sie mit den Schultern zusammen oder ließ sie für ein, zwei Augenblicke taumeln.
Es war für ihn unbeschreiblich, wie frei und gut er sich fühlte.
Deswegen kam der Hilferuf für ihn völlig überraschend. Dann ahnte er die Ursache für seine spezielle Aufregung. Noch einmal horchte er, hob seinen Kopf. Der Regen wurde ihm vom Wind ins Gesicht gedrückt. Er schaute zu seinem Freund, der noch zwei Schritte gemacht haben mußte. Anscheinend war er selbst sofort stehen geblieben.
Fragend schauten sie sich gegenseitig an, wieder vernahm er den Hilfeschrei.
„Hast du nichts gehört?”
„Was?”
„Jemand ruft um Hilfe!”
„Ich hab’ nichts gehört.”
Jetzt riß er sich die schützende Kapuze vom Kopf. Gleich darauf vernahm er wieder den Schrei, diesmal schon etwas kläglicher.
„Da war es wieder.”
„Da war nichts!”
„Es kam vom Fluß. Lass uns nachsehen gehen.”
„Ich hab’ aber nichts gehört.”
„Jetzt komm schon.”
Gemeinsam stapften sie über den aufgeweichten Boden bis an das Ufer des Flußes, auf diesem kurzen Weg vernahm er wieder den Schrei. Er wurde unruhig.
„Warum hab’ ich meine Lampe nicht mitgenommen?”
„Ich hab immer noch nichts gehört. Hier ist nichts.”
„Haallllooo...haaalllllloooo”, schrie er gedehnt über den lärmenden Fluß und gegen den Sturm an.
Fast unverzüglich vernahm er den erwarteten Ruf. Er zog seine Jacke über den Kopf und drückte sie seinem Freund in die Armbeuge.
„Was hast du vor. Tu das nicht, hier ist nichts!” Aber da war er schon ins Wasser gesprungen.
Ratlos blieb sein Freund am Ufer stehen.
Am nächsten Morgen bargen Feuerwehr und Polizei die Leiche des jungen Mannes, keine zwanzig Meter flußabwärts von der Stelle, wo er ins Wasser gesprungen war. Das Wasser war knietief, sein Kopf wurde von einer Wurzel unter Wasser gedrückt und seine Hände hatten sich an irgendetwas auf dem Grund festgekrallt.
An der selben Stelle fand man die Leiche des kleinen Jungen, der im vergangenen Winter durchs Eis gebrochen war.