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Sugar Boy
Manchmal war Liebe die Summe zweier Zahlen, bei der es besser war, das Ergebnis für sich zu behalten.
Früher hatte Flora nie über Herbst-Frühlingsbeziehungen nachgedacht, über Altersunterschiede, die andere zum Lästern brachten, und nun hatte es sie selbst erwischt: Sie war seine Frühlingsrolle, er ihre Herbstrolle, unwiderstehlich, knackig-pikant. Leo war wie feuriger Chili, kombiniert mit erfrischender Limette. Und es hätte auch umgekehrt sein dürfen: Sie die Herbstrolle, er die Frühlingsrolle.
Sie war froh, dass es nicht auch noch Winter- und Sommerrollen gab, wenn man von den winterlichen Speckrollen absah, die sie im Sommer wieder abschwammen.
„Wärst du auch mit mir zusammen, wenn ich fünfzig wäre?“, fragte sie ihn unvermittelt an einem heiterträgen Sommertag mit babyblauem Himmel.
Sie lagen am Strand und schauten den anderen beim Sandburgenbauen zu. Die anderen, das waren Familien mit kleinen Kindern. Flora fühlte sich wehmütig.
„Dann wärst du immer noch ein Vierteljahrhundert jünger als ich“, meinte Leo und spielte mit den Trägern ihres Bikinioberteils. „Du weißt doch: Männer lieben jüngere Frauen.“
Sein freches Grinsen, das sie normalerweise so liebte, belohnte sie heute nicht mit einem Kuss. Keines der Paare kannte einen solchen Altersunterschied wie sie und Leo und das war der Preis, mit ihm zusammen zu sein: keine Kinder. Nicht zuletzt, weil er schon mehrere hatte.
Floras Laune trübte sich, als schöbe sich eine Wolke vor die Sonne und ließe sie frösteln. An der Küste passierte das schnell und Leo wollte jeden Schatten aus ihrem Gesicht wischen. Mit tröstlichem Blick und warmer Hand, die wie ein frecher Sonnenstrahl über ihr Dekolleté strich. Entrüstet schlug Flora nach ihm, stürzte sich verspielt auf ihn, wobei sie ihn immerhin wieder anlächelte.
Sie liebte Leo, er war viel freier als sie und hatte die noch richtig lockeren Zeiten kennengelernt. Das mochte sie fast am meisten an ihm und es war ein Punkt, von dem sie nicht gern erzählte. Schließlich könnten andere Frauen ihn ihr ausspannen.
69 war nicht nur eine Zahl für ihn und zufällig das Geburtsjahr ihrer Mutter, was ihr immer ein Grinsen verlieh, wenn sie daran dachte, was sie nach ihren Strandspaziergängen machten, wenn sie noch sonnentrunken sich auf dem Balkon oder dem Trampolin entspannten, das sie mehr mochten als sein Bett.
Er war ein wahrer, erotischer Multitasker, ideenreich und begabt, und es befeuerte ihn, wenn sie sich für ihn noch mehr öffnete und sie liebte es, seine stetig wachsende Gier zu spüren, die bei ihm nach Meersalz schmeckte, auch an den Tagen, wenn sie nicht am Strand gewesen waren. Er war ein Meister in allen relevanten Dingen. Nicht nur im Bett wusste er, was ihr gefiel. Oft lagen sie einfach nur so gemütlich miteinander im Bett, ohne übereinander herzufallen. Auch das mochte sie an ihm. Diese Abende, mit Hund und Fernsehen. Opaabende, sagte er dann grinsend. Sie mochte Opaabende. Aber noch lieber die Partyabende, von denen es mehr als genug gab.
Meistens waren sie zu seinen Partys eingeladen. Damit meinte Flora die Partys seiner Freunde, von denen er viel mehr besaß. Leos Freunde waren unterschiedlich alt und Flora liebte nichts mehr, als die so unterschiedlichen Paare beim Tanzen zu beobachten. Im Halbdunkel genoss sie es auf dem Sofa zu liegen, allein, während die anderen sich vor ihr der Musik hingaben. Junge Paare. Glücklich miteinander alt gewordene Paare, auf die Leo neidisch war und lieber in der Küche verschwand. Einzelne, attraktive Frauen, manche in Leos Alter. Aber keine Herbst-Frühling-Paare, so wie sie beide.
„Ist es nicht schwierig, wenn der Altersunterschied so viele Jahre beträgt?“, wurde Flora unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Sie mochte diese Art von Fragen nicht und schaute stattdessen ihr Gegenüber einfach nur an, eine Frau mit dunkelgefärbten Haaren und großen Zähnen, die im trüben Licht aufleuchteten. Auf ihrem Schneidezahn, der sich vor die anderen schob, entdeckte Flora verschmierten Lippenstift. Pink Fuchsia. Den Farbton kannte sie aus der Zeit, als sie als Regaleinräumerin ihr Studium finanzierte. Nicht bei Douglas, im Supermarkt. Aber so hatte sie wenigstens Leo kennengelernt.
Weil Flora immer noch nicht antwortete, wiederholte die Frau ihre Frage, mit einem Unterton, der andere aufmerksam machte und die Zuhörerschar unangenehm vergrößerte. Flora kannte alle Fragen und wusste, was jetzt kam.
Vaterkomplex. Ego-Probleme. Fehlende Augenhöhe.
„Findest Du nicht falsch, was Du machst?“, fragte Pink Fuchsia. „Dein Verhalten finde ich unsolidarisch. Männer wie Leo stehlen sich aus der Altersgemeinschaft.“
Und ein paar der Frauen nickten zustimmend.
Flora erkannte Ruby, Plum, Pale Pink, Magenta Chiffon, Purple Matte Rose. Sie mochte geschminkte Lippen, egal in welchem Alter, aber nur wenn sie sich nicht verächtlich verzogen.
„Man kann seinem Alter nicht davonlaufen“, meinte Plum. „Vor allem nicht mit jungen Dingern.“
„Er könnte sogar mein Opa sein!“, erwiderte Flora, ohne zu überlegen. Sie hatte es tatsächlich gesagt. Es sollte wie ein Scherz klingen, aber es war die Wahrheit. Denn Leo war nicht nur dreißig Jahre älter als sie, sondern fünfzig Jahre.
Das Gesicht von Pink Fuchsia wurde dunkler, wie eine Rose, die in der Vase vertrocknete. Flora spürte den Schmerz der anderen, die stechende Angst, nicht mehr begehrenswert zu sein.
Angst vor dem Ausgetauschtwerden.
Aber Flora wusste, dass sie nichts dafür konnte. Sie hatte ihr eigenes Päckchen zu tragen und es tat ihr weh, dass alle dachten, Leo wäre ihr Sugar Daddy. Dabei war es umgekehrt und sie die Sugar Daughter, die meist ihn einlud, vor allem beim Chinesen.
Das Einzige, was Flora tief in ihrem Inneren fürchtete, war, dass ihnen vielleicht nicht mehr so viel gemeinsame Zeit vergönnt war. Auch wenn er jeden Tag durch den Wald joggte und dann noch eine Runde mit ihr und dem Hund am Strand, war er doch ein Mann, der in zehn Jahren Fünfundachtzig sein würde.
Flora spürte eine tröstliche Hand in ihrem Rücken. Ein sanftes Kraulen, fast mütterlich. Ein besänftigendes Parfum, ein köstlicher Duft aus schwarzer Johannisbeere mit Vanille. Black Currant Vanilla Vegan. Der Duft junger Frauen, der so gut zu Simona passte, eine von Leos engsten Freundinnen. Er hatte viele Freundinnen, was Flora manchmal eifersüchtig machte.
„Simona, du müsstest dich am meisten über Leo ärgern“, meinte Pink Fuchsia mit einem diebischen Unterton in ihrer Stimme und Flora spürte, dass es etwas gab, dass sie bisher nicht wissen sollte.
Geheimnisse vor ihrer Zeit.
„Du hast doch am meisten Grund“, ergänzte Plum anspielungsreich. „Erzähl Flora, was dich so lange traurig gemacht hatte.“
Aber Simona schwieg. Das Streicheln wurde jedoch mechanischer und Flora spürte eine Anspannung, besonders als Leo auftauchte.
„Meine beiden liebsten Frauen, so eng beieinander“, sagte er, „welch entzückender Anblick!“, und bemerkte nicht, dass alle ihn noch wütender anfunkelten.
Er bekam nie etwas mit. Stattdessen zwinkerte er Pink Fuchsia zu, deren Mund sich nun verhärtete.
„Ich lass euch nicht länger zappeln“, sagte Simona schließlich. „Frühlingsherbstbeziehungen sind etwas Schönes – nur nicht für Außenstehende.“
„Du musst denen nichts beichten“, sagte Leo behutsam und streichelte Simonas Arm auf eine Weise, die Flora beunruhigte. Flora wusste nicht, was sie mehr fürchten sollte. Die Enthüllung des Geheimnisses oder Leos Beichte, die ihn abends bei ihr zu Hause erwartete, wenn er so weitermachte. Da half auch die Mini-Frühlingsrolle nichts, die er ihr vom Küchenbuffet mitgebracht hatte.
Hatte er etwas mit Simona angefangen? Oder vielleicht eher: wieder etwas angefangen? Immerhin war sie seine älteste Freundin.
„Ich beichte gern“, ließ sich Simona nicht bremsen und schob seine Hand auf eine Weise zur Seite, die Flora von sich selbst kannte, wenn Leo ihr lästig wurde. „Aber es wird Euch nicht gefallen.“
Leo rückte an Flora heran, während er gebannt wie die anderen zuhörte. Sie floh vor seiner Nähe.
„Vor allem Dir wird es nicht gefallen, Lina“, sagte sie zu Pink Fuchsia und Flora fragte sich, was jetzt kommen würde.
„Möchtest Du, dass ich weiterrede?“, hörte sie Simona sagen, während Leo ihr einen Kuss ins Ohr hauchte. Ihrem Körper, dem Verräter, gefiel es. Und da fiel ihr ein, woher sie Pink Fuchsia kannte. Eigentlich kannte sie sie nicht persönlich, aber die Art, ihren Mund zu einem hässlichen Strich zu verziehen, war ihr vertraut. Unangenehm vertraut.
„Ich kann Leo nur verstehen“, sagte Simona. „Es gibt nichts Herrlicheres als einen jungen Körper.“
Ging es Leo etwa doch nur um das Eine, was ihm alle unterstellten?
Aber Simona zwinkerte Flora zu, während sie es genoss, mit Pink Fuchsia und den anderen zu spielen, die atemlos jeden Köder schluckten.
Simona war in ihrem Element. Immer noch eine Provokateurin. War sie wirklich mit dem Fuchsien-Ableger zusammen?
Pink Fuchsias Mund war jedenfalls nur noch eine Kerbe. Die Geometrisierung des Emotionalen lag in der Familie. Flora hatte den schnell beleidigten Schönling damals nicht gemocht, der sie eine Zeit lang einfallslos anbaggerte, aber wenn er Simona glücklich machte, war das etwas anderes.
Erleichtert sah sie in Leos Gesicht, das hingegen immer so lebhaft war, so beweglich. Sie liebte es, wie er seine Stirn in Falten legen konnte, wie ein Rollo und das sich glättete, wenn sie Liebe machten. Wie jung er dann aussah! Falten hatte er nur draußen, wenn er unter anderen war. Die Falten bewegten sich in Gesellschaft wie wendige kleine Tiere. Sie fragte sich, wie er das machte, es entzückte sie, aber noch mehr freute sie sich auf später. Wenn sich stattdessen Bettlaken und Kissen zerknüllten.