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Svens Geheimnis
Kathie war schon lange nicht mehr so glücklich gewesen. Sven war so perfekt! Schweigend gingen sie die Straße zum Haus ihrer Eltern entlang. Es war spät geworden, doch was machte das schon? Kathies Eltern hatten sich nie sonderlich um ihre Tochter gekümmert. Dauernd waren sie nur am arbeiten um noch mehr Geld zu bekommen, als sie ohnehin schon hatten. Doch das hatte Kathie nie sonderlich gestört. Sie war zufrieden mit ihrem Leben, so lange sie was zu essen und ein festes Dach über dem Kopf hatte und noch dazu so einen süßen Freund. Sie wusste, dass es nicht allen so gut ging wie ihr. Sie blieb stehen und die zwei sahen sich an. ''Dann also morgen um drei? Ich hol dich ab'', flüsterte Sven. Seine Freundin hauchte ein ''Ok''. Sie küssten sich. ‚Was für ein wunderbares Gefühl’, dachte Kathie ‚Wenn das doch für immer so bleiben könnte...’
In der Nacht hatte Kathie einen Albtraum, doch als sie morgens schweißgebadet aufwachte und ihre Decke vom Boden hob konnte sie sich an nichts mehr erinnern.
In der Schule musste Kathie ständig an den vergangenen Abend und den bevorstehenden Nachmittag denken.
''Kathie? Würdest Du mir bitte meine Frage beantworten?''
Sie schreckte aus ihrem Tagtraum, sah ihre Lehrerin ratlos an und stotterte schließlich: ''Ähm... ja, also... Könnten sie die Frage bitte wiederholen?'' ''Kathie, Kathie! Ein wenig mehr Aufmerksamkeit im Unterricht würde dir nicht schaden. Daniel, beantworte bitte meine Frage!'' Erleichtert seufzte sie und sank in ihrem Stuhl zusammen.
Nach dem Mittagessen rannte Kathie hoch in ihr Zimmer und stylte sich auf. Um Punkt 15 Uhr klingelte es an der Tür. Fröhlich öffnete sie und fiel ihrem Freund um den Hals. ''Ich hab dich vermisst!'', sagte sie. Da erst fiel ihr sein blaues Auge auf. Entsetzt sah sie ihn an. ''Keine Panik. Ist halb so schlimm, wie's aussieht'', meinte Sven. ''Na dann ist es immer noch schlimm genug! Wie ist denn das passiert?'', wollte Kathie wissen. Hilflos sah sich ihr Freund um und stotterte: ''Ja... ähm... also ich bin ziemlich ungünstig die Treppe runter gefallen''. Natürlich glaubte seine Freundin ihm nicht, aber sie schwieg.
''Hey Moment!'', rief sie draußen, ''Das ist die falsche Richtung! Zum Freibad geht’s da entlang!'' ''Freibad? Oh Shit! Das hab ich ja voll vergessen. Ich dachte irgendwie, wir wollten ins Kino. Sorry, Schatz!''
''Schon ok. Hat das vielleicht was damit zu tun, dass du bei 30°C in langer Jeans und Sweater herumrennst?'' Was war denn nur los mit Sven? Schließlich entschieden sich die beiden dafür, es sich im Park bequem zu machen, doch Kathie ging das seltsame Verhalten ihres Freundes einfach nicht aus dem Kopf.
In der Nacht quälten sie abermals Albträume, doch wie bereits am Tag zuvor, konnte sie sich am nächsten morgen nicht an ihren Inhalt erinnern.
Die letzte Stunde fiel heute für Kathie und ihre Klasse wegen einer plötzlichen Erkrankung ihres Klassenlehrers aus, also beschloss sie Sven von der nahe gelegenen Gesamtschule abzuholen. Und siehe da, Kathie hatte Glück. Sie entdeckte ihren Freund zusammen mit einigen anderen Jungen auf dem Sportplatz. Also stellte sie sich an den Zaun und sah ihnen beim Fußballspielen zu. Erst winkte sie Sven zu, doch er war so konzentriert, dass er sie nicht bemerkte. Als er mit dem Ball an seiner Freundin vorbei lief und diese gerade erneut zum winken ansetzte, erstarrte sie. Svens Arme und Beine waren übersät mit Schrammen und dicken blauen Flecken. So etwas schafft kein einfacher Sturz von einer Treppe. Enttäuscht und nachdenklich ging Kathie nach Hause.
Abends rief sie bei Sven an, erzählte ihm von ihrem mittäglichen Kurzbesuch und ihrer Beobachtung. ''Sven, was verschweigst Du mir?'' Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. ''Bitte, Sven! Ich liebe Dich doch! Wenn Du Hilfe brauchst oder mir irgendetwas zu sagen hast, dann sag es bitte!'' Von Sven kam immer noch kein Ton. Kathie seufzte. ''Hör zu, Kathie'', setzte er schließlich an, ''ich liebe Dich doch auch, aber... Ich komm schon klar. Wirklich, es geht schon. Ich muss jetzt Schluss machen. Gute Nacht, Süße!'' ''Ok. Gute Nacht, Schatz. Schlaf gut!'' Ratlos und ziemlich schlecht gelaunt ging Kathie zu Bett. Auch in dieser Nacht plagten sie Albträume, doch zum ersten Mal konnte sie sich morgens an Ausschnitte des Traums erinnern: Sven war darin vorgekommen, da war sie sich sicher. Er hat irgendjemanden angeschrieen, er solle ihn in Ruhe lassen. Lange dachte Kathie darüber nach, aber sie wusste einfach nicht mehr, wen er da angeschrieen hat.
In den nächsten Tagen wurde Sven immer verschlossener und Kathies Träume immer schlimmer. Es quälte sie, Sven leiden zu sehen. Zu sehen, wie er schreiend vor etwas wegläuft. Zu sehen wie sich irgendjemand vor ihm aufbaut und ihn bedroht...
Am Sonntag, als es ihr so schrecklich ging, wie noch nie beschloss sie, Sven einen Besuch abzustatten. Schnell schickte sie ihm eine SMS und machte sich auf den Weg.
Zwei mal schellte Svens Freundin an der Tür der Villa, doch nichts regte sich. Also beschloss sie einmal ums Haus zu gehen und zu gucken, ob Sven vielleicht im Garten war. Als sie um die Ecke, auf die Terrasse trat stieß sie einen Schrei aus. Es kam ihr so vor, als hätte ihr jemand die Luft abgeschnürt. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie sich auf den kalten Boden hockte. Vor ihr lag Svens lebloser Körper, neben ihm drei leere Tablettenschachteln. Nun konnte Kathie sich nicht mehr länger halten: Sie brach in Tränen aus und schrie dauernd: ''Warum? Warum hast Du mir das angetan?'' Sie konnte es einfach nicht begreifen. Sie schmiegte sich an den kalten, blassen Körper ihres Freundes. Da kamen schon die ersten Nachbarn, die auf das Geschrei aufmerksam geworden waren. Kathie sah kurz auf und drückte sich dann wieder an Sven.
Die nächsten Stunden durchlebte sie wie in Trance. Die Polizei kam und stellte ihr lauter Fragen, doch sie stand unter Schock und alles, was sie raus brachte war ihr Name und ihre Adresse. Schließlich gaben sie die Fragerei auf und fuhren Kathie nach Hause.
Dort schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und ließ ihre ganze Wut an einem Kissen raus. Als sie sich einigermaßen gefangen hatte, fiel ihr etwas ein: Hatte Svens Tod vielleicht etwas mit ihren mysteriösen Träumen zu tun? Wut kroch in ihr hoch. Eine ungeheure Wut, die fast schon in Mordlust überging. Sie würde Svens Vater finden. Sie würde ihn finden und... Kathie erstarrte. Sie erkannte sich selbst nicht mehr wieder. Was war denn bloß in sie gefahren? Langsam senkte sie den Kopf. Sie schämte sich für ihre Gedanken...
Kathie konnte es nicht fassen. Wie konnte er ihr das antun? Und wieso hat sie von all dem nichts gewusst? Sie war völlig verzweifelt.
Diese Nacht hatte sie wieder einen Traum, doch dieses Mal war er anders: Sie sah Svens Vater einen Weg am Wasser entlang gehen und in ein Boot steigen. Er fuhr in eine kleine Höhle am Fuß einer Klippe und lachte. Es war ein lautes, kaltes Lachen. Kathie schreckte aus dem Schlaf und sah auf die Uhr. Es war noch mitten in der Nacht, doch sie drückte kein Auge mehr zu. Stattdessen dachte sie über den seltsamen Traum nach, doch sie verstand einfach nicht, was er zu bedeuten hatte.
Die nächsten Tage waren schrecklich. Kathie schwänzte die Schule, trank und aß kaum, bekam am helllichten Tag Wut- und Heulattacken und konnte nachts nur wenig und wenn, dann nur immer wieder unter demselben Alptraum schlafen. Als sich ihr Zustand nach einem Monat immer noch nicht änderte, beschlossen ihre Eltern kurzerhand, sie zum Psychiater zu schicken. Doch es half nichts. Ihre Tochter veränderte sich von Tag zu Tag mehr. Sie wurde sehr leicht aggressiv, verwüstete ihr Zimmer und litt mehr und mehr unter so etwas wie Zerstörungstrieb. Kathies Vater zeigte dafür überhaupt kein Verständnis, ihre Mutter hingegen wusste wie hart Svens Tod ihre Tochter getroffen hatte. Von da an gab es dauernd Streit in der großen Villa und irgendwann beschloss der Vater noch einen Schritt weiter zu gehen und Kathie ohne dem Wissen ihrer Mutter, die für einige Tage zu ihrer Mutter nach Wien gefahren war um sich ein wenig zu erholen, in die Psychiatrie zu stecken. Irgendwie konnte Kathie das alles nicht richtig registrieren, also ließ sie es einfach geschehen. Im Irrenhaus hatte sie zwar keine schlaflosen Nächte mehr, aber der seltsame Traum von Svens Vater, der sich mit einem Boot lachend in eine Höhle flüchtet, blieb.
Es war Sonntag, als Kathie beschloss, den Traum aufzuschreiben. Sie war mittlerweile ziemlich ruhig geworden und machte keine Probleme. Also rief sie einen der Wächter zu ihrem ''Zimmer'' und bat ihn, ihr Zettel und Stift zu bringen. Sie rief jedes Detail auf, das ihr von dem Traum einfiel. Als sie gerade fertig geworden war, trat plötzlich ihre Mum ein. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie ihrer Tochter erklärte, sie hätte sich von ihrem Mann getrennt und würde Kathie nun mit zu ihrer Mutter nach Wien nehmen. Still und in Gedanken versunken packte Kathie ihre wenigen Sachen zusammen und folgte ihr hinaus.
In Wien wurde Kathie von Tag zu Tag stiller und verschlossener. Sie hatte dort weder Freunde noch einen Vater. Ihre Mutter war den ganzen Tag auf der Arbeit und ihre Großmutter schaffte es einfach nicht zu ihr durchzukommen. Nach einigen Wochen wurde Kathie schlagartig bewusst, dass alles was sie hatte nichts war. Ihr ganzes Leben bestand aus einer großen, gähnenden Leere. Und so setzte sie sich abends an ihren Schreibtisch und schrieb einen Brief. Dann legte sie den Zettel mit ihrem aufgeschriebenen Traum daneben, öffnete eine Schublade und holte ihr Schicksal heraus. Es war eine kleine Spritze, die Kathie kurz nach Svens Tod bekommen hatte, um sich die speziellen Beruhigungsmittel zu spritzen. Nun sollte sie einen anderen Zweck erweisen. Das Mädchen holte ein letztes Mal tief Luft während ihr Tränen über die Wangen liefen. Dann tat sie es: Sie spritze sich Luft in den Arm. Das letzte, was Kathie spürte war wie sie zusammen sackte und ihr letzter Gedanke war: ''Sven, ich komme!''
Epilog
Svens Vater wurde dank Kathies Zettel bald von der Polizei in einer Höhle an der Ostsee gefasst. Es konnte ihm jedoch nichts nachgewiesen werden. Svens Brief, den die Beamten in meinem Zimmer fanden, reichte als Beweis nicht und gestehen wollte der Vater natürlich auch nicht.
Und Kathie? Die hat ihren Freund an einem schöneren Ort wieder getroffen...
-Carolina, 14-